V. Übertragung der Form III auf Fische.

[91] Die Wandlungsfähigkeit der Stoffe und Motive tritt uns in einer Anzahl von Märchen entgegen, in denen der Wettlauf durch ein Wettschwimmen, die Vierfüßler durch Fische ersetzt sind.


67. Aus Lappland.


Ein Lachs schwamm einmal zeitig im Frühling den Tana-Fluß hinauf, gleich nachdem das Eis aufgegangen war. Als er weit, weit den Fluß hinaufgekommen war, blieb er endlich unter einem großen Wasserfall stehen und wählte sich einen bequemen Platz aus, wo er seinen Bogen legen könnte, wenn die Zeit dazu kam.

Als er eines Tages unter dem Wasserfall stand, kam ein Meerbarsch (Rotfisch, Sebastes norvegicus Cuvier) zu ihm.

»Was bist du für ein Fisch?« fragte der Lachs.

»O, ich bin ein gar feiner Rotfisch, ich!« antwortete der Barsch, »und meine Flossen sind scharf wie Nähnadeln.«

Gleichzeitig stach er den Lachs, so daß dieser augenblicklich auf die Seite fuhr.

»Was willst du hier heroben im süßen Wasser, du, der du nicht das geringste Fett am Leibe hast?« fragte der Lachs.

»Ich hab' mehr Fett in meinem Kopf,« antwortete der Kotfisch, »als mancher Berglappe Vorrat in seiner Speisekammer besitzt. Willst du mit mir um die Wette schwim men?«

Der Lachs würdigte den Rotfisch auf diese Aufforderung hin anfangs nicht einmal einer Antwort; wußte er doch sehr gut, daß er selber von allen Fischen am raschesten durch Wasserfälle hinaufschwimmen könne. Aber der Rotfisch ließ ihm keine Ruhe. Als der Lachs es am wenigsten erwartete, stach er ihn abermals mit seinen scharfen Flossen und fragte: »Willst du mit mir um die Wette schwimmen?«

Nun ließ der Lachs sieb von der Strömung etwas nach abwärts treiben, um einen guten Anlauf zu haben, und schnellte sich sodann durch den Wasserfall hinauf. Aber in diesem Augenblicke biß sich der Rotfisch fest in den Schweif des Lachses. Als der Lachs die oberste Höhe des Wasserfalles erreicht hatte und plötzlich umkehrte, um kopfüber wieder nach abwärts zu gehen, rief der Rotfisch, der am Schwänze hing: »Sieh, nun bin ich höher als du, und du kommst hierher und willst mit[91] mir um die Wette schwimmen, den die Menschen selten erhaschen können, während du hier stehst und dich von jedem alten Weibe fangen läßt?«


  • Literatur: J.C. Poestion, Lappländische Märchen Nr. 4.

68. Aus Finnland.


a) Aus Pyhäjärvi.


Man sagt, daß einmal der Kaulbarsch und der Lachs unterhalb eines Wasserfalles eine Wette eingingen, wer von ihnen den Wasserfall hinaufschwimmen könne. Der Kaulbarsch verfiel auf den schlauen Gedanken, seinen Schwanz mit einem Haar an den Lachs festzubinden. Als nun der Lachs oben war, schaute er sich nach dem Kaulbarsch um. Ja, da steckte dieser hinter dem Schwanz des Lachses, schwamm schnell nach vorn und rief: »Ei, hier bin ich.«


  • Literatur: E. Schreck, Finnische Märchen 1887, 238, Nr. 12.

b) Handschriftliche Mitteilung aas Sääminki (durch Prof. K. Krohn).


In der Stromschnelle. Der Lachs: »Bist du fertig?« Der Kaulbarsch: »Geh voran, ich folge dir.« Der Lachs: »Wo bist du, Kaulbarsch?« Der Kaulbarsch: »Hier bin ich!« Der Lachs verspricht dem Kaulbarsch, stets sein Gefährte zu sein.


c) Schwedische Fassung aus Finnland.


Es war einmal ein Kaulbarsch und ein Hecht1, die beschlossen, um die Wette zu einer Insel zu schwimmen. Der Hecht meinte zwar, daß es sich nicht der Mühe lohnte, mit einem so elenden Kaulbarsch um die Wette zu schwimmen. Aber der Kaulbarsch war ganz ruhig und sagte zum Hecht: »Du glaubst es nicht, aber du wirst schon sehn, daß ich früher bei der Insel bin als du.« »Wie übermütig du bist,« sagte der Hecht und lachte über die Prahlerei des Kaulbarsches. »Wollen wir wetten?« sagte der Kaulbarsch. »Was soll's gelten?« sagte der Hecht. »Ein Achtel Branntwein,« sagte der Kaulbarsch. »Nun, meinetwegen,« sagte der Hecht. Und dann schwammen sie los aus Leibeskräften. Aber gleich blieb der Kaulbarsch zurück. Doch er war ein schlaues Luder. Als er sah, daß er zurückblieb, biß er sich am Schwänze des Hechtes fest. »Was sind das für Dummheiten?« meinte der Hecht, wurde böse und wippte mit dem Schwänze so heftig, daß der Kaulbarsch mit einem Male auf die Insel hinüberflog. Nun lag der Kaulbarsch auf der Insel und lachte und rief dem Hechte zu: »He, hier bin ich, aber wo bist du?« Als der Hecht nach geraumer Zeit zur Insel kam, war er verblüfft, denn er wußte nicht, wie der Kaulbarsch eher zur Insel hatte kommen können als er. »Gib mir ein Achtel Branntwein, wie du es versprochen hast,« sagte der Kaulbarsch. Der Hecht tat es, und der Kaulbarsch trank auf der Stelle alles aus und wurde betrunken. Dann wurde er krank und spie alles über sich aus, was er in sich hatte. Deshalb ist der Kaulbarsch noch heute so schleimig.


  • Literatur: Aus dem Kirchspiel Borgå (Gouv. Nyland).
    Nyland, Samlingar utgifna af Nyländska Afdelningen. II Nyländska folksagor Nr. 197, p. 223.

69. Lettische Fassung aus Livland.


Einstmals verabredete sich im Burtneckschen See (bei Wolmar, Livland) der Weißfisch (oder Stint?) mit dem Kaulbarsch, von Roschkel bis zum großen Burtneckschen[92] Kruge zu schwimmen. Bedingung war: wer sich als flinker erweisen würde, bleibe im See, der andere aber müsse sich fortscheren. Gut. Der Kaulbarsch aber war ein Schlaukopf. Er sah, daß er auf rechten Wegen sein Ziel nicht erreichen würde, hängte sich darum an den Schwanz des Weißfisches, und wirklich, dieser zog ihn. Erst am Ziel wandte sich der flinke Weißfisch, um zu sehen, ob der Kaulbarsch noch weit sei. Was geschah aber da? Der Kaulbarsch schreit ganz frech hinter seinem Rücken: »Wo bist du denn so lange geblieben? Ich vergehe schon fast in Erwartung!« Der beschämte und betrübte Weißfisch mußte nun den See verlassen, und seit der Zeit gibt es im Burtneckschen See keine Weißfische mehr.


  • Literatur: Živaja Starina 5, 443 = Lerchis-Puschkaitis V, 59, II.

Zu dieser Übertragung des Wettlaufmotives auf Fische gibt es allerlei Parallelen, die aufs schönste beweisen, wie die Sagenstoffe der jeweiligen Phantasie des Erzählers dienstbar sein müssen. Das Volk an der Küste oder in seenreichem Lande mit seinem fast ausschließlich auf das Wasser und den Fischfang gerichteten Sinn ist am allermeisten zu solcher Stoffveränderung geneigt, und je spärlicher der Vorrat der Fischsagen ist, um so bereitwilliger greift es zu, wenn es möglich ist, ihn zu bereichern. Ein wenig bekanntes Beispiel führt Wossidlo an (Rostocker Zeitung 1893, Nr. 131, vgl. Volkstümliches aus Mecklenburg 2, 344). Ein Tiergespräch, das in Hunderten von Varianten über ganz Mecklenburg verbreitet ist, erklärt, warum die Kröte rote Augen hat. Sie hat einmal bitter weinen müssen über eine Ehrenkränkung, die ihr ein roher Geselle (der Mistkäfer, der Maulwurf, der Fuchs oder andere) angetan hat; getröstet wird sie vom Laubfrosch und anderen. In einem Teile des Strelitzer Landes ist jedoch an die Stelle der Kröte der Fisch Rotauge (Roddog) gerückt, ihm zur Seite tritt als Übeltäter der Hecht, als Tröster der Barsch. »Diese Umdeutung,« sagt Wossidlo, »ist auf einen ganz bestimmten Bezirk, nämlich die seenreiche Gegend Wesenberg-Mirow-Fürstenberg-Strelitz begrenzt; in den übrigen Teilen des Strelitzer Landes wie im Schwerinschen bewahrt die Sage trotz aller Mannigfaltigkeit der Ausgestaltung stets den älteren Zug, der im Mittelpunkt des Gespräches die Kröte erscheinen läßt. Als ich im vorigen Sommer in Nossentiner-Hütte bei Malchow bei einem dort gebürtigen Zimmermann die Roddog-Form antraf, stellte sich bei näherer Nachfrage heraus, daß der Gewährsmann das Tiergespräch früher als Flößer bei Fürstenberg gehört habe.«

Fußnoten

1 Diese beiden Fische sind auch in folgendem finnischen Zwiegespräch (aus Hartola) einander gegenübergestellt: Der Kaulbarsch: »Ein Mann ist hier!« Der Hecht: »Sei du immer ein scheuer Fisch!« (Mitt. von Prof. Krohn.)


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 93.
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