Schlußwort.

[96] Über der Fülle der Varianten ist der Gedanke, von dem wir ausgegangen sind, fast aus dem Auge verloren worden: die willkürliche Naturdeutung.

Nur hie und da ist sie als Schluß verwendet worden (in Nr. 1, 10, 25, 36, 68 c, 69, 71, 72, 74). Gerade darin aber, daß sie sich bei Völkern findet, zwischen denen keine Variantengemeinschaft besteht (z.B. Letten und Afrikanern), zeigt sich das Vorhandensein analoger Völkergedanken, die unabhängig voneinander in gleicher Richtung arbeiten und Ähnliches schaffen.

Daß diese Gedanken auf die Natur gerichtet sind und aus ihr die Motive zur Stoffgestaltung schöpfen, beweist ferner das lebendige Walten echter auf Beobachtung und Kenntnis beruhender Naturfreude.

Was wir hier in wenigen Fällen beobachtet haben, wiederholt sich anderswo in reichlichem Maße. Naturdeutende Märchenmotive drängen sich immer wieder in alle möglichen Stoffe hinein. Und da sie des poetischen Reizes selten entbehren, so darf man dem Volksgeschmack nachrühmen, daß er gerade auf diesem Gebiete nicht Geringes geleistet hat.

Es bleiben nun bloß noch zwei Varianten übrig, die außerhalb der oben dargestellten Märchenreihen stehen und unmittelbar an die äsopische Urform anzuknüpfen scheinen.


Aus Samoa.


Ein Huhn hatte sich auf einem Felsen eingenistet, von wo sich ein kühles frisches Wasser in den nahen Fluß ergoß. Eines Tages erschien dort eine Seeschildkröte. Sie freute sich über das kühle frische Bad und tauchte immer einmal auf, um sich umzusehen, als das Huhn es rauh anrief: »Wer bist du?« »Ich bin eine Schildkröte.« »Wo kommst du her?« »Aus der heißen Salzsee.« »Was tust du hier?« »Ich bade und freue mich an dem kühlen, frischen Wasser.« »Fort mit dir, dies ist mein Wasser.« »Meins so gut wie deins.« »Nein, es gehört mir allein, und du mußt fort.« »Ich gehe nicht. Ich habe genau so viel Recht hier zu sein, wie du.« »Nun gut,« sagte das Huhn, »laß uns so entscheiden, wem es gehören[96] soll: Jeder geht fort, und wer des morgens früh zuerst wieder hier ist, dem gehört die Quelle.« »So soll es sein,« sagte die Schildkröte, »ich gehe zur salzigen See, und du zum Dorf.«

Die Schildkröte machte sich früh am Morgen auf den Weg und ging den Fluß hinauf. Das Huhn aber meinte, es brauche sich nicht zu beeilen, da ein einziger Flügelschlag es auf den Felsen bringe. So schlief es bis Sonnenaufgang, aber als es ankam, war die Schildkröte vor ihr da. »Du bist schon da, wie ich sehe,« sagte das Huhn, und die Schildkröte antwortete: »Ja, und die Quelle gehört mir.« Daher kommt das Sprichwort für die Faulen und die, die zu spät kommen: »Hier kommt das Huhn, die Schildkröte ist aber schon da.«


  • Literatur: Turner, Samoa, a hundred years ago, London 1884, 217.

Sage der Odjibwa.


Der Taubenfalke forderte die Schildkröte zum Wettlauf auf, aber die Schildkröte nahm nur unter der Bedingung an, daß es eine mehrtägige Strecke sein müsse. Der Falke willigte schnell ein, und sie begannen sogleich. Die Schildkröte wußte: wenn sie den Sieg gewinnen wollte, mußte es durch große Ausdauer sein; also ging sie in die Erde, nahm einen geraden Kurs und hielt sich bei nichts auf. Der Falke aber, der wußte, daß er seinen Gegner leicht besiegen konnte, flog achtlos hierhin und dorthin, besuchte jetzt den, dann jenen, bis so viel Zeit verloren war, daß die Schildkröte gerade aus der Erde kam und gewann, als er das Endziel erblickte.


  • Literatur: Schoolcraft, Algic Researches S. 181.

Diese beiden Märchen halte ich für Abwandlungen des Wanderstoffes von der mit Hilfe der Verwandten siegenden Schildkröte. Indem diese Hilfe beseitigt wurde, mußte eine neue Torheit des unterliegenden Gegners erfunden werden, und so kamen jene Formen zustande, die zufällig der äsopischen Urform ähnlich wurden. Wir hätten somit einen neuen Beweis für unabhängige Analogiebildung von Sagen und Märchen.

Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 96-97.
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