VI. Pferd und Wolf (Bär). Die Entstehung der Hasenscharte.

[235] Ein kleiner Kreis von Fuchsmärchen, der in Nordeuropa, vor allem in Finnland besonders fest zu wurzeln scheint, dreht das sonst zwischen Bär und Fuchs herrschende Verhältnis in recht eigentümlicher Weise um und berichtet von einem kecken und wohlgelungenen Anschlag des Bären, dem der tölpelhaft dumme Fuchs zum Opfer fällt. Die Urform sieht Krohn (S. 70) in folgenden Zügen:


Der Bär frißt ein Pferd, das er getötet hat. Der Fuchs kommt und fragt den Bären, wie er es angefangen habe. Der Bär sagt, er habe sich mit den Zähnen an den Schweif des sich sonnenden Pferdes angeklammert und daran gezerrt, so daß das Pferd zu laufen anfing und lief, bis es platzte. Der Fuchs will nun dasselbe Mittel versuchen. Das Pferd setzt sich, den Fuchs am Schweif, in Galopp. Der Hase fragt im Vorbeigehn: Wo will denn Michel hin? – Der Fuchs nennt in seiner Erwiderung den Hasen Hans. Der Hase lacht sich die Lippen entzwei.


Krohn bespricht fünfzehn nordische Varianten dieses Tierschwankes und gibt an (S. 71), daß der weitaus größte Teil den Fuchs als Fortgeschleppten hat, in einigen nicht genau bezeichneten Fassungen1 sei jedoch der Fuchs der Ratgeber und der Bär der Fortgeschleppte. Diese Vertauschung, meint Krohn, sei unter dem Einfluß der übrigen, von Bär und Fuchs handelnden Märchen erfolgt, wo eben der Bär stets als der vom Fuchs Angeführte erscheint.

Zweifel an dieser Auffassung hat bereits Johannes Bolte geäußert2 und in der Abweichung von dem sonst üblichen Verhältnis zwischen Bär und Fuchs eine Entstellung der Urform gesehen.

In der Tat scheint es bedenklich, den Rollentausch der beiden Tiere lediglich auf Grund der Mehrzahl einer insgesamt doch nur geringen Zahl von Varianten als ursprünglich hinzustellen. Sicher ist jedoch, daß es sich hier um eine selbständige nordische Umformung handelt, denn dafür spricht das Verbreitungsgebiet der Abweichung. Allein es scheint mir eine Überschätzung der Ursprünglichkeit der skandinavischen und finnischen[235] Varianten zu sein, wenn man, wie Krohn im Gegensatz zu den Forderungen des inneren Stils auch hier dem Norden die Priorität zuspricht.

Zu beachten ist, daß vielleicht mit einer Ausnahme sämtliche mittel- und westeuropäischen Varianten, die Krohn teils noch nicht zugänglich waren, teils von ihm nicht herangezogen wurden, auf eine Urform zurückgehen, die den Fuchs als den Betrogenen entschieden nicht kannte.

So schleppt in der siebenten Extravagante der Esel den Wolf fort, nachdem er ihm den Hals zugeschnürt hat; ähnlich verläuft die Szene in den jüngeren Aufzeichnungen3, nur daß der Fuchs als böser Ratgeber hinzukommt. Auch hier ist wiederum der Wolf der Fortgeschleppte, und lediglich in der Variante bei Grimm wird er durch den Löwen4 ersetzt.

Zweifel an der Ursprünglichkeit des Wolfs in unserer Erzählung könnte nur die Fassung im Roman de Renart (Martin br. IX v. 1640 ff.) erwecken. Hier streckt sich Tymer, der Esel, scheintot vor Malpertuis, der Burg Renarts, zu Boden. Hermeline, Renarts Gemahlin, öffnet die Tür, erblickt die willkommene Speise und ruft Renart, der anfangs mißtraut und den Toten durch Bisse prüft. Tymer rührt sich nicht. Nun binden sich beide mit dem Riemen an den Esel fest und ziehen ihn fast bis zur Schwelle, da gewahrt Renart seitwärts, wie der Tote ein Auge aufschlägt; schnell läßt Renart sich losbinden. Die Füchsin spottet des Furchtsamen und knüpft sich noch fester. Jetzt erhebt sich plötzlich Tymer und schleift die jammernde Hermeline mit sich fort in das Bauernhaus.5

Gegen diese Fassung ist vor allem einzuwenden, daß sie einer schlecht erzählten Branche angehört und außerdem sehr deutliche Spuren junger literarischer Bearbeitung zeigt. Sie sollte als Fortsetzung einer anderen Erzählung dienen und hat sich daher starke Veränderungen gefallen lassen müssen. Unursprünglich und nur der epischen Erzählung zugehörig sind zunächst das sich Totstellen des Esels und die Verdoppelung der den Esel ziehenden Füchse.6 Wir werden kaum fehlgehen, wenn wir dem Dichter der Branche diese Abweichungen und die Einführung der Hermeline zuschreiben. Dieser Umstand erklärt dann aber auch die weiteren neuen Züge, wie z.B. das Mißtrauen Renarts und das Prüfen durch Bisse, das Heimziehen bis zur Burg, Renarts Entdeckung, sein Losbinden usw. als Zutaten und[236] Abänderungen, die der Dichter für notwendig hielt, um die Erzählung in den größeren epischen Rahmen einzufügen.

Es ist somit kein Verlaß auf diese entstellte Wiedergabe unserer kleinen Geschichte, und zum Zweck einer Beweisführung wird man sie nicht heranziehen dürfen.

In den nordischen Fassungen, aber auch nur in diesen, tritt zum Schluß noch der Hase auf, der aber nur eine passive Rolle spielt, die sich deutlich als sekundäre Zutat ausweist.7 An das Lachen des Hasen knüpft sich die Ätiologie, die wir in folgenden Varianten antreffen.


1. a) Der Bär lehrt den Fuchs Pferde zu töten: »Wenn das Pferd schläft, binde ihm die Schwanzhaare zwischen die Zahnlücken und gib ihm einen plötzlichen Stoß.« Der Fuchs tut so. Das Pferd galoppiert davon. Der Hase sieht es und lacht, daß ihm das Mäulchen kreuzweise platzt. Der Fuchs: »Voi, voi, lieber Hans, so betrügt man den Michel!«


b) Der Fuchs hängt sich an den Schwanz des Pferdes. Der Hase sitzt am Wege. Der Fuchs: »Sieh doch, Hans, was ich für ein Rad mir erwischt habe.« Der Hans lacht, daß ihm das Maul schief wird.


  • Literatur: Von Prof. K. Krohn freundlichst mitgeteilt.

Aus einer längeren Kette von Fuchsabenteuern, die unten S. 254 f. mitgeteilt sind, möge hier der Schluß Platz finden:


c) Ein Rabe hatte das mitangesehen und sich gut gemerkt, auch er machte sich ans Stehlen und entführte der Bäuerin einen Käse, mit dem er in die Lüfte flog. Der Fuchs bemerkte ihn und sagte: »Gib mir den Käse!« Doch der Rabe gab ihn nicht her. Da sprang der Fuchs ihm fortwährend nach und sagte zuletzt: »Wenn du mir den Käse gibst, so will ich dich als Kantor anstellen lassen; doch laß mich erst hören, ob du eine gute Stimme hast.« Der Rabe krächzte: »Rab! Rab!« und der Käse fiel dem Fuchs ins Maul.

Bald darauf begegnete der Fuchs wieder dem Bären, der ein großes Pferdeaas bei sich hatte. Der Fuchs fragte: »Wie hast du dir das verschafft?« Der Bär dachte bei sich: »Na, ich will dich auch einmal anführen!« und sagte: »Das verschafft man sich leicht. Wenn ein Pferd auf der Wiese ruht, dann schleicht man sich heran und beißt die Zähne fest in dessen Schwanz ein und brüllt dabei so gewaltig, daß das Pferd erschrickt; dann läuft es davon und stürzt.« Der Fuchs ging hin und tat also und brüllte fürchterlich dazu. Das Pferd erschrak, sprang in die Höhe und lief wie ein Wirbelwind nach Hause. Der arme Fuchs hing ihm am Schweif und wurde über Stock und Stein geschleift. Der Hase kam des Weges daher und fragte: »Michel, Michel, wohin wirst du gezerrt?« »Das weiß Gott, mein liebes Hänschen, wohin der Michel gebracht wird, und ob mir's den Hals oder den Zahn bricht!« Als der Hase den Fuchs so am Pferdeschwanz hängen sah. fing er[237] gewaltig an zu lachen und lachte so über die Maßen, daß ihm die Lippe kreuzweise entzweiriß, wie man noch heute sehen kann.


  • Literatur: K. Krohn, Kansansatuja I, 41 Nr. 25.

2. Aus Norwegen.


Sehr bezeichnend ist der Schluß, wo der Erzähler selbst meint, daß es eigentlich wohl nicht der Natur des Bären entspräche, so schlecht und heimtückisch zu handeln, wie hier von ihm berichtet wird.

[Der Bär will den Fuchs Pferde fangen lehren, und Mikkel geht gern darauf ein. Der Bär sagt ihm, wenn er ein Pferd sehe, das in der Sonne liegt und schläft, so solle er sich fest an dessen Schwanz anbinden und seine Zähne in den Schenkel des Pferdes schlagen. Der Fuchs findet bald ein Roß, tut wie ihm geraten und bindet sich fest an den Pferdeschwanz. Der Gaul springt aber auf, rennt davon und schleppt Mikkel über Stock und Stein, so daß er zuschanden geschlagen und mürbe geklopft wird.] Gerade gings vorbei an einem Hasen. »Wohin willst du fort fahren, Mikkel?« fragte der Hase. »Ich fahre mit der Post, mein lieber Jens!« sagte der Fuchs. Da setzte sich der Hase auf die Hinterbeine und lachte so sehr, daß ihm das Maul gleich bis zu den Ohren riß, weil Mikkel so eilig mit der Post fuhr. Aber seit dieser Postfahrt hat der Fuchs nicht mehr daran gedacht, Pferde zu fangen.

Diesmal war es der Bär, der schlecht war; andere aber sagen, daß er gutgläubig ist wie ein Troll.


  • Literatur: Asbjörnsen, Norske Folke-Eventyr S. 62 Nr. 74, 4 Schluß.

Da die nordischen Fassungen in den vorliegenden Aufzeichnungen, wie wir annehmen müssen, nicht das Ursprüngliche bieten, wenn sie das gewöhnliche Verhältnis zwischen Fuchs und Bär umkehren8, so entsteht die Frage, woher denn eigentlich die Erzählung stammt. Eine positive Antwort hierauf zu geben ist in Anbetracht des dürftigen Materials nicht möglich.

Mit allem Vorbehalt mag aber die Vermutung ausgesprochen werden, daß die Beziehungen zu Aesops Fabel ›der Esel und der Wolf‹9 (Kor. 259, Für. 134. 140, Halm 334) vielleicht eine Spur abgeben, die in die Nähe der Quelle führt. Bei Aesop und ebenso bei Babrios tritt sich der Esel einen Dorn in den Fuß, und bittet vor dem Gefressenwerden den Wolf, ihm den Stachel herauszuziehen. Der Wolf tut es, erhält aber vom Esel in dem gleichen Augenblick einen furchtbaren Hufschlag auf den Kopf. Hier treten sich, wie in der siebenten Extravagante, Wolf und Esel gegenüber, und wenn auch im sachlichen Detail manche Abweichung zu verzeichnen ist, so wird doch beide Male der Wolf vom Esel angeführt. – Die späteren[238] Fassungen10 entfernen sich z.T. weiter von diesem Vorgang durch Einfügung neuer Einzelzüge (Pferd oder Maulesel; Alter, Preis, Namen vom Huf ablesen usw. Haltrich-Wolff Nr. 17, I und Roman de Renart [Méon br. 13] haben jedoch ebenfalls das ›Dornausziehen‹).

Interessant ist die Tatsache, daß es anscheinend Mischformen gibt, denen sowohl das Fortschleppen des Wolfes wie das Hufschlagmotiv zugrunde liegen, darauf deutet wenigstens folgende schwedische Variante:


Die Stute säugte ihr Füllen, das der Fuchs erhaschen wollte; er verpaßte aber den rechten Griff und biß in den Schwanz der Stute, die ihn mit einem Hufschlag weit von sich schleuderte. Der Hase rief: »Wohin, Bruder Mikkel?« Der Fuchs wollte gute Miene zum bösen Spiel machen und antwortete: »Ich reise im Postwagen, es geht ums Leben!« [I skjuts, i skjuts, för brinnan de lifvet!]


  • Literatur: Cavallius, Wärend II, XXXVI.

Auch das Vorkommen einer solchen Mischform scheint mir ein Argument mehr dafür zu sein, daß die Herleitung der Geschichte vom Fortgeschlepptwerden aus der griechischen Überlieferung nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist.

Es würde sich daraus zwanglos die Bestätigung dafür ergeben, daß ursprünglich weder der Fuchs noch der Bär vom Pferde fortgeschleppt werden, sondern der Wolf auch hier wieder die Rolle des leidenden Helden spielt.

Fußnoten

1 Von dem meist hdschr. Material ist. mir nur ein Teil zugänglich.


2 Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde 15, 345 Anm.


3 Grimm, KHM. Nr. 132 (Aus Münster). Jahn, Volkssagen Nr. 559 (Pommern). E.L. Fischer, Grammatik etc. S. 264 f. Nr. 3 (Aus dem Plattdeutschen). Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. 15, 346 (Ostpreußen). Šejn 2, 265. Kolmačevskij S. 236 ff.


4 Vgl. auch das entfernt verwandte weißrussische Märchen oben S. 84 f. Nr. 66 (S. 85 Zeile 24 v.o. lies: Lud bialoruski II, 1, S. 31 f. Krakau 1902).


5 So die Wiedergabe bei Grimm, RF. Einl. S. 131.


6 Wahrscheinlich gibt eine Anspielung in der Branche 18 das Ursprünglichere, wenn sie berichtet, daß die Wölfin Hersent, Ysengrims Gemahlin, von Tymer fortgeschleppt wird, vgl. Méon 2, 132, Grimm, Reinhart Fuchs, Einl. S. 128. Bei diesem Hergang würde Benart auch die seinem Charakter besser entsprechende Rolle des hinterlistigen Verräters erhalten.


7 Krohn (S. 73) ist der Meinung, daß die Episode mit dem Hasen »doch ohne Zweifel schon von Anfang an zu der Grundhandlung des Märchens gehörte, da das ganze Märchen gerade zur Erklärung der gespaltenen Lippe des Hasen erfunden zu sein scheint.« Aus den in Bd. 3 S. 22. 23. 492 und oben S. 98 ff. mitgeteilten Fassungen geht jedoch hervor, daß die Entstehung der Hasenscharte ein internationales (auch bereits bei Aesop vorkommendes) Wandermotiv ist, das allen möglichen Märchen und Fabeln anhaften kann, wenn nur die Haupthandlung eine der Anknüpfung günstige Situation darbietet.


8 Mir scheint es nicht unmöglich, daß sich der Realismus der Nordländer an der Situation gestoßen und darum zum Rollentausch Anlaß gegeben hat. Es wäre nämlich ein etwas groteskes Bild: der Bär vom Pferde im Galopp davongeschleppt. Der nordische kleine Bauernklepper, an den wir doch zu denken haben, ist zwar ein leistungsfähiges Tier und für landwirtschaftliche Arbeiten sehr geeignet, ob aber das hier von ihm Verlangte in seinen Kräften stände, erscheint mir immerhin zweifelhaft.


9 Vgl. Haltrich-Wolff S. 502 Anm. zu Nr. 12. Sudre p. 332 ff. 338. Thiele, Der lateinische Aesop, Einl. S. 58.


10 Vgl. Haltrich-Wolff S. 502. 509. Thiele a.a.O.S. 58.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 239.
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