c) »Von dem Jungen, der immer schnupperte.«

[261] Ein Märchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen.


Es war einmal ein kleiner Junge, gerade so groß wie du jetzt bist, der ging, wenn seine Mutter auf dem Markte war, immer über die Sauermilch her und schnupperte. Da sagte seine Mutter: »Wenn du noch einmal schnupperst, so gebe ich dich dem garstigen Bären.« Kaum war sie wieder fort, husch! lief der Junge gleich zum Topf und schnupperte und schnupperte so lange, bis keine Sauermilch mehr im Topfe war. Jetzt aber fing er an, sich vor seiner Mutter zu fürchten, und in blinder Angst lief er fort und kam in den Wald. Als er da war, dachte er an die wilden Tiere, die im Walde wohnen, die würden jetzt kommen und ihn zerreißen. – Was sollte er anfangen? Nun sah er einen dicken Baum. »Du willst da hinauf kriechen, da bist du sicher!« dachte er. Der Baum aber war hohl, und wie er oben war, fiel er hinein, und da war gerade ein Bärennest, und die jungen Bärchen rannten durcheinander, denn sie hatten sich sehr erschrocken. Bald kam auch der alte Bär und brachte Futter und fing an zu brummen: »boboboron!« und die kleinen brummten freudig: »bebeberen!« Nun kannst du dir vorstellen, wie sich der kleine Junge fürchten mußte. – Als aber der Bär oben am Loche stand und die Augen des Jungen sah, dachte er: »Jetzt ist es aus mit dir!« Denn er meinte, es sei die Katze oder die Schlange drinnen, die fresse erst seine Jungen, dann werde es an ihn kommen. Schnell drehte er sich um. Dabei kam dem Knaben der Schwanz des Bären über das Gesicht. In der Angst faßte er nach ihm, ohne daß er's wußte, und wie der Bär fortsprang, so zog er den Knaben mit hinaus. Der Bär jedoch glaubte, die Katze habe ihn am Schwanz und sei ihm nachgesprungen und wollte ihn fressen. Schnell riß er sich wieder los und sprang ins Nest zurück und blieb ganz ruhig. Dabei hatte er aber so heftig gerissen, daß dem Jungen der Schwanz in der Hand geblieben war, und seitdem hat der Bär einen Stumpfschwanz.

Der Junge hatte indes nicht weniger Angst gehabt, das kannst du dir denken. Er lief schnell nach Hause und sprach: »Liebe Mutter, nur einmal noch verzeiht mir, ich will nicht mehr schnuppern.« Da erzählte er jetzt, wie es ihm ergangen sei. »Weil ich fürchtete,« sprach er zu seiner Mutter, »ihr würdet mich schlagen, lief ich in den Wald; da dachte ich an die wilden Tiere, die im Walde wohnen; ich stieg auf einen Baum, um mich zu verstecken, und da fiel ich gerade in das Bärennest; es waren aber nur die Jungen zu Hause, die sahen mich so garstig an brummten immer: »Jetzt fressen wir dich!« Zuletzt kam der alte Bär und brummte: »Habt ihr ihn?« und die Bärchen brummten wieder: »Ja, wir haben ihn!« Jetzt[261] kam der Fürchterliche ans Loch und machte so feurige Augen, daß ich dachte: »Nun ist es aus mit dir!« Aber der gute Bär warf mich nur hinaus und schenkte mir's noch einmal, drückte mir dies Haarbüschel in die Hand, sprang in sein Nest und ließ mich fortlaufen. Und nicht wahr, Mutter, der Bär bekommt mich nicht, wenn ich nicht mehr schnuppere?«


  • Literatur: Haltrich, Volksmärchen4, S. 267 f. = Dähnhardt, Naturgeschichtliche Volksmärchen3 Bd. 1 Nr. 44, 2.

Im ganzen dürfte dieses Märchen kaum eine Parallele haben, da es aus verschiedenartigsten Motiven zusammengestickt ist. Erwähnt sei hier, daß anscheinend dem Erzähler die Geschichte von den ›Haustieren im Walde‹1 in Erinnerung war, denn von dort könnte der Zug stammen, wie der Bär sich einbildet, die Katze halte ihn am Schwänze gepackt.

Fußnoten

1 Vgl. oben S. 210 ff., Gruppe B.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 262.
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