Hundertunderstes Capitel.
Wie die Welt im Argen liegt und überall Gefahren drohen.

[179] Man erzählt von einem gewissen Manne, Namens Ganterus, der sich immer Vergnügungen und Freude ohne Ende wünschte; der stand eines Morgens in der Frühe auf und spatzierte allein auf der Heerstraße, bis er an ein Land kam, in welchem der König erst neulich gestorben war. Die Fürsten des Reiches, als sie ihn so mannhaft sahen, erwählten ihn zu ihrem Könige, und er freute sich über seine Wahl. Wie aber die Nacht kam, da führten ihn die Seinigen in ein Gemach, in welchem er einen grimmigen Löwen am Kopfende seines Bettes erblickte, am Fußende einen Drachen, an der rechten Seite aber einen Bären und auf der andern Schlangen und Kröten. Da sprach Ganterus: Was soll denn das heißen? Muß ich denn in diesem Bette bei diesen Bestien schlafen? Jene aber antworteten: Freilich, Herr, denn alle Könige vor Dir haben in diesem Bette gelegen und sind von diesen Thieren gefressen worden. Darauf entgegnete der König: Alles gefällt mir hier recht wohl, allein vor diesem Bette sammt den Bestien da habe ich einen Abscheu, darum mag ich nicht Euer König seyn, und also ging er weg von ihnen. Er kam aber in ein anderes Land, wo ihn die Bürger gleichfalls zu ihrem König wählten. Wie nun[179] die Nacht kam, trat er in sein Schlafgemach und erblickte ein sehr schönes Bett, aber ganz voll von scharfen Scheermessern. Da sprach Ganterus: ich soll mich doch nicht etwa in dieses Bett legen? Da sprachen seine Diener: Ja, Herr. Denn alle Könige vor Dir haben in diesem Bette gelegen und sind darin gestorben. Jener aber erwiderte: Alles ist gut hier, das Bett ausgenommen, darum mag ich aber Euer König nicht seyn. Er stand also früh auf und machte allein einen Marsch von drei Tagen. Unterwegs traf er aber einen Greis, der mit einem Stock in der Hand über einer Quelle saß, und zu ihm sprach: mein lieber Wanderer, wo kommst Du denn her? Darauf antwortete er: aus weiter Ferne. Dann fragte jener weiter: was schaffest Du? Jener antwortete: ich suche drei Dinge und kann sie nicht finden. Darauf fragte jener wieder: was denn für drei Dinge? Ganterus antwortete: erstlich Ueberfluß ohne Mangel, zweitens Freude und Leid, drittens Licht oder Helle ohne Finsterniß. Da sprach der Greis: nimm diesen Stab und gehe immer auf dieser Straße fort: Du wirst bald einen Berg vor Dir erblicken, und am Fuße dieses Berges steht eine Leiter, welche sechs Stufen hat: diese steige hinan, wenn Du aber auf die sechste Sprosse gekommen seyn wirst, wirst Du auf dem Gipfel des Berges einen sehr schönen Palast gewahr werden. An die Pforte desselben thue drei Schläge, und der Pförtner wird Dir antworten. Dann zeige ihm Deinen Stab und sprich: derjenige, welcher der Eigenthümer dieses Stabes ist, befiehlt Dir hiermit, daß Du mich hineingehen lässest. Wenn Du aber darinnen seyn wirst, wirst Du alles jenes Dreies finden, was Du suchest. Jener aber erfüllte Alles, wie es ihm der Alte gesagt hatte, und wie der Thürhüter den Stab sah, ließ[180] er ihn hinein, und da fand er alles Dreies und mehr noch, und blieb sein ganzes Leben daselbst.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 179-181.
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