Hundertundachtes Capitel.
Von dem getreuen Halten seines Versprechens.

[196] Es gab einst einen Kaiser, in dessen Reiche zwei Räuber lebten, die mit einander einen Bund gemacht hatten, daß keiner den andern in der Noth verlassen, sondern daß ein jeder für den andern sein Leben einsetzen sollte, und diese verübten mit einander vielerlei Uebelthaten, sowohl Diebstähle als Mordthaten. Nun begab es sich einstmal, daß der eine ohne den andern, und in der Abwesenheit desselben, bei einem Diebstahle gefangen und in Fesseln in einen Kerker geworfen wurde. Wie das sein Geselle, der andere Räuber hörte, kam er zu ihm und sprach: mein lieber Geselle, sage mir auf's Wort, durch welches wir mit einander verbunden sind, was soll[196] aus Dir werden? Jener antwortete aber: wie es mir vorkommt, muß ich des Todes sterben, weil ich bei'm Stehlen ergriffen worden bin: wenn Du also nur das thun willst, was ich Dir sagen werde, werde ich Dir sehr verpflichtet seyn. Ich habe eine Frau, eine Familie und auch ganz kleine Kinder: über diese habe ich noch nichts festgesetzt, auch nichts über mein Vermögen, so Du nun den Richter befragen wolltest, ob Du für mich im Gefängniß bleiben dürftest, bis ich nach Hause gehen und über meine Frau und Familie und über mein Gut eine Anordnung werde treffen können, will ich zur rechten Zeit wieder hier seyn und Dich erlösen. Jener antwortete aber: das will ich treulich erfüllen. Er machte sich also zum Richter auf und sprach: Herr, mein Freund ist gefangen worden und liegt im Kerker, so daß er, wie ich denke, dem Tode nicht entgehen mag. So es Euch nun gefällig ist, hätte ich an Euch nur eine einzige Bitte, nehmlich daß Ihr ihm gestattet nach seinem eigenen Hause zu gehen, um vor seinem Tode noch über seine Frau und Familie zu verfügen. Indessen will ich, damit Ihr über ihn sicher seyn könnt, an seiner Stelle im Gefängniß bleiben, bis er zurück kommt. Darauf erwiderte der Richter: an dem und dem Tage wird über ihn und die Andern Gericht gehalten werden: wenn er nun aber an diesem Tage nicht zurückkehrt, was wirst Du dann antworten? Jener aber versetzte, Herr, ich will Dir jegliche Sicherheit, welche Dir beliebt, geben, und wenn er nicht kommt, um seiner Willen den Tod leiden. Darauf sprach der Richter: wir wollen Deine Bitte erhören, jedoch so, daß wir Dich im Gefängniß halten, bis jener zurückkehrt. Und jener antwortete: also ist es mir recht. Hierauf ließ der Richter diesen in's Gefängniß stecken, den[197] Andern aber frei seine Straße ziehen. Der aber ging nach Hause und traf seine Anordnungen wegen seiner Frau, Kinder und Familie, und hielt sich bis zum dritten Tage daselbst auf, an welchem alle Missethäter vor dem Richter gebracht wurden. Unter den Uebrigen ward auch der, welcher so bereitwillig für seinen Freund in's Gefängniß gegangen war, ihm statt seines Freundes vorgeführt, der Richter aber sprach zu ihm: wo ist denn Dein Freund, der heute zurückkommen, Dich erlösen und retten sollte? Und jener entgegnete: Herr, wie ich hoffe, wird er nicht ausbleiben. Der Richter aber wartete lange, ob er vielleicht komme, allein er kam nicht. Alsbald fällte er den Spruch, man solle jenen zum Galgen führen, und also geschah es. Wie er nun zum Galgen gekommen war, da sprach der Richter zu ihm: mein Lieber, rechne es Dir allein, nicht aber mir zu, daß Du jetzt sterben mußt: Du hast ja gesagt, Dein Freund werde kommen und Dich erlösen. Jener aber antwortete: Herr, weil ich sterben muß, so bitte ich Euch inständigst, daß ich vor meinem Tode noch einmal anklopfen darf. Der Richter aber entgegnete: was soll denn das für ein Anklopfen seyn? Der aber antwortete: ich will, bevor ich sterbe, noch drei Mal laut rufen. Und jener sagte: mir ist's recht, worauf jener mit lauter Stimme anfing zu rufen, zum ersten, zweiten und dritten Mal. Dabei sah er sich rings um und sah in der Ferne einen Mann behenden Laufes herbei eilen und sprach zu dem Richter: schiebe meinen Tod noch auf, denn siehe ich sehe einen Mann kommen: vielleicht ist es mein Geselle, der mich heute noch erlösen wird. Wie aber der Richter jenen kommen sah, wartete er, und siehe sein Gesell langte an und sprach: o Herr, ich bin der, welcher über seine Güter verfügt[198] hat und für den sein Freund unterdessen in Todesgefahr schwebte: laß jenen jetzt ungehindert weggehen, denn ich bin bereit für meine Sünden den Tod zu leiden. Da sah ihn der Richter scharf an und sprach: mein Lieber, sage mir, warum Ihr einander so treu seyd. Und Jener erwiderte: Herr, von unserer Kindheit an hat jeder von uns dem andern das Wort gegeben, ihn in Allem getreu zu seyn; das ist die Ursache, warum er meine Stelle vertreten hat, bis ich mein Haus bestellt hatte. Der Richter aber sprach: weil die Sache so ist, so erlasse ich Dir die Hinrichtung, seyd mir treu, und Ihr könnt für die Zukunft bei mir bleiben: ich will in Allem aus meinen Mitteln für Euere Nothdurft sorgen. Jene aber antworteten: Herr wir geloben Euch vollständig unsere Treue. Also nahm sie der Richter zu Gnaden an, und Alle lobten ihn, daß er so voll Erbarmen gegen sie gewesen war.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 196-199.
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