Sechste Erzählung.
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Von einem edlen Manne in Rom.

[139] Man liest von einem edlen Manne, der in einer Stadt einen Sitz hatte und ein schönes Weib besaß, das er sehr lieb hatte. Der dienete aber ein anderer Ritter so eifrig und mit solchem Fleiße, daß ihm die Frau gar günstig und hold war. Nun begab es sich aber, daß der Ritter seinen Knecht zu ihr sandte und sie fragen ließ, ob sie es ihm gestatten wolle, daß er den Abend zu ihr käme. Und da nun der Knecht die Botschaft an die Frau gebracht hatte, da ward sie sehr erzürnt, daß er einem Knechte solche Botschaft anvertraut hätte, und wollte dem Knechte keine andere Antwort geben. Und da der Knecht den Zorn der Frau vernahm, da fing er an um sie für sich selbst zu werben, und überredete die Frau in Kurzem, daß sie ihm Alles gewährte und ihm zu Willen war. Da nun der Knecht also lange ausblieb, da ward der Ritter sehr verdrießlich und kam selber nach der Frauen Hause und klopfte an. Und da der Knecht des Herrn Kommen vernahm, da kam über ihn dermaßen Furcht, und er wußte nicht, wie er sich gebärden sollte, und fragte die Frau um Rath. Die hieß ihn unter das Bett schlüpfen, und ließ darnach den Ritter ein, und der[139] fragte die Frau, ob sein Knecht nicht bei ihr gewesen wäre. Da sprach sie: er ist hier gewesen und habe ich ihn im Zorn von mir abgefertigt, daß er eine solche Botschaft an mich fürbaß getragen hat. Auch hätte ich Euch nicht zugetraut, daß Ihr eine solche Sache einem Knechte anvertrauen würdet. Da der Ritter der Frauen Ernst vernahm, da kam ihm der Gedanke ein, daß er sie beruhigen möchte, und in der Zeit, daß der Ritter bei der Frau war, kam auch ihr Mann an das Thor, und jener wußte nicht, wie er sich dabei benehmen sollte. Da sprach die Frau: ziehet Euer Schwert und laufet gegen meinen Mann an, als ob Ihr sehr zornig seyet, und gebt ihm keine Antwort. Das that der Ritter also. Des nahm den Ritter Wunder und er fragte, was der Ritter gesucht habe. Da sprach sie: sein Knecht ist auf meine Erlaubnis hereingelaufen, den habe ich unter meinem Bette verborgen und den hat er gesucht. Und da das ihr Ehemann vernahm, da dankte er seiner Frau, daß sie dem Knechte also das Leben gefristet hatte.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 139-140.
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