Der Kadi und das arme Weib

[38] Ein Kadi erging sich in einem Tale, wo er einen Weinberg besaß und einige Felder, die da und dort mit alten Ölbäumen bestanden waren. Der Weinberg war gut gepflegt, die Felder hingegen strotzten von Strauchwerk und Unkraut.

Plötzlich blieb der Kadi stehen. Ziegen weideten auf seinem Felde, fremde Ziegen, denn er hatte als Haustiere nur ein Maultier und einen Esel. Wer besaß die Keckheit und erlaubte sich das Gut des Kadis zu benutzen?

Dachte der Richter: »Diese Ziegen sind nicht allein da. Suchen wir den Hirten!«

Und es währte nicht lange und er fand seinen Frevler. Im Schütze eines Felsens traf er ein junges Weib, das noch andere Ziegen weiden ließ und eine Kuh, welche an einem Seile festgehalten wurde.

»Ah, ah, dich fass' ich hier, Bübin!« donnerte der Kadi. »Ich wußte wohl, daß man das Kraut auf meinen Wiesen stiehlt. Elende, du wagst es, den Richter um sein Gut zu bringen? Dein Vergehen ist erwiesen. Entweder zahlst du mir eine Buße von fünf Goldstücken, oder du sollst im Gefängnis verfaulen!«

»Edler Herr Kadi,« schrie das Weib, »habt Erbarmnis mit mir. Was gelten Euch diese Kräuter, die Ihr[39] nicht ernten laßt und die Euch zu nichts taugen? Die da reich und mächtig sind, müssen Mitleid mit den armen Leuten haben!«

»Du sollst die Buße zahlen oder wirst ins Gefängnis gesteckt!«

Das arme Weiblein aber weinte und seufzte. Der Kadi ließ sich nicht erweichen, wenigstens hatte es den Anschein. Ein Gedanke war ihm gekommen. Das Mädchen war frisch wie eine Rose und hübsch, so hübsch! ...

»Hör mich,« schloß er endlich seine Rede; »vielleicht können wir handelseins werden!«

»O, edler Herr Kadi, was soll ich tun?«

– »Wir sind ja allein hier; du bist ein hübsches Kind. Lust überkommt mich bei dir zu liegen!«

»Ihr macht Euch lustig über mich.«

»Keineswegs. Geh, leg dich nieder und wir wollen uns zum Zeitvertreib erlustieren. Und ich werde dir erlauben, ganz nach deinem Belieben auf meinen Feldern Futter zu holen!«

»Niemals würde ich es wagen« ...

»Nun, dann die Buße.«

»Wo meint ihr denn, daß ich fünf Goldstücke auftreibe, wenn ich nicht meine Kuh und die Ziegen verkaufe!«

»Du kommst ins Gefängnis!«

Das Weib dachte nach. Bei einem Kadi, einer so hohen Persönlichkeit, zu liegen, war schließlich nicht unehrenhaft. Und das Opfer war nicht allzu groß![40]

»Schnell entscheide dich,« fragte der Richter.

»Ich bin entschlossen, aber« ...

»Was, aber?«

– »Während wir uns vergnügen, könnte meine Kuh entwischen, und dann« ...

»Dummkopf, ich will den Strick an meinen Fuß binden. Du kannst ruhig sein!«

Also tat der Richter. Das Weiblein legte sich hin, streckte sich im Grase aus und der Kadi hatte nichts eiligeres zu tun, als sein Vergnügen zu suchen. Und bald fingen des Richters Beine an zu tanzen und die Kuh zu zerren, die, erst erstaunt, dann aufgeregt, die schöne Handlung störte und verrückt vor Schrecken, durchbrannte, indem sie den Richter mit sich schleifte, dessen Pflanzholz die Brennesseln, die Dornen und die spitzen Steine bearbeitete.

»Halt an, halt an!« schrie das Weib.

Die Kuh aber lief nur noch toller. Des Kadis Kleidung ging in Fetzen. Bald war der Gerichtsherr mutternackt. Das elende Vieh schlug jetzt den Weg nach der Stadt ein. Auf des Weibes Gekreisch hin stürzten die Leute aus den Häusern hervor und brüllten wie besessen. Endlich legte sich die Kuh nieder und man konnte den Kadi befreien, der halb tot war vor Scham und vor Schmerzen.

Die Geschichte sprach sich herum. Der geheilte Richter wagte keine Kläger mehr anzuhören und ließ sich zum Kadi in einem fernen Lande ernennen.

Quelle:
[Hansmann, Paul] (Hg.): Schwänke vom Bosporus. Berlin: Hyperionverlag, [1918], S. 38-41.
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