[33] 9. Der Hund und der Wolf.

Es war einmal eine Bauernfamilie, welche unter ihren Hausthieren auch einen Hofhund hatte, Namens Sultan. Als der Hund alt geworden war, jagte ihn der Bauer fort, indem er meinte, daß derselbe seinen Dienst nicht mehr pünktlich versehen könne. Ganz niedergeschlagen, mit gesenktem Kopfe, verließ der Hund das Dorf und klagte für sich: »So belohnt man meine Treue in dem beschwerlichen Dienste; nachdem ich hier meine jungen kräftigen Jahre in Arbeit zugebracht, jagt man mich im schwachen Alter davon und gönnt mir nicht die Ruhe.« So trauernd ging er weiter und irrte viele Tage umher, ohne eine leidliche Unterkunft zu finden.

Von dieser langen Wanderung abgemagert und schwach geworden, langte er bei einem Walde an.

Da kam aus dem Walde ein Wolf heraus, rannte auf den armen Hund los und schrie: »Halt! alter Kerl, nun bist du in meiner Gewalt, mache dich also bereit.«

Als unser Sultan den Wolf so reden hörte, erschrak er und sprach: »Lieber Freund, schau mich nur zuerst recht an und dir vergeht gewiß der Appetit auf mich; an mir findest du den schlechtesten Braten, welchen du je gehabt, denn ich bin nichts als Haut und Bein. Aber ich wüßte Rath.« Der Wolf sprach: »Von dir bedarf ich keines Raths, elender Wicht. Ohne daß du mir ihn sagst, weiß ich, wie er lauten würde,[33] nämlich, ich solle dir das Leben schenken. Nein, es bleibt beim alten, kurz und gut, ich fresse dich!«

Hierauf erwiederte der Hund: »Mir fällt gar nicht ein, so von dir zu denken, denn ich will nicht länger leben. Beiß zu, so lange du noch Lust hast, aber ich rathe dir nur zum besten. Wäre es nicht wohl gethan, wenn du mich früher mästen und nachdem ich fett geworden, erst dann fressen würdest? Das Futter ginge dabei nicht verloren, denn du findest auf einmal alles an mir. Das wäre dann ein tüchtiges Stück Braten, was meinst du, Bruder Wolf?«

Der Wolf sprach: »Ich bin's zufrieden, wenn die Fütterung nicht lange dauert; folge mir in meine Hütte.«

Der Hund that dieß, und beide gingen nun tiefer in den Wald. Bei der Hütte angelangt, kroch der Sultan hinein, der Wolf aber ging fort, um für den schwachen Hund einiges Wild zu erjagen.

Als derselbe zurück kam, warf er seine Beute dem Sultan vor, und dieser ließ es sich wohl schmecken.

Am andern Tage kam der Wolf und sprach zum Hunde: »Gestern hast du gefressen, heute will ich fressen.« Der Hund erwiederte: »Aber was fällt dir denn ein, lieber Wolf, das gestrige Futter habe ich kaum im Magen gespürt.« Der Wolf ärgerte sich zwar, mußte aber zufrieden sein und abermals in den Wald gehen, um für den Hund neues Wild zu erjagen. Mit einer ähnlichen Entgegnung fertigte unser Sultan so lange den Wolf ab, als er sich noch nicht stark genug fühlte, um es mit demselben aufzunehmen. Der Wolf jagte fortwährend und brachte seine Beute dem Hunde; selbst aß er jedoch wenig oder gar nichts, damit nur der Sultan genug bekomme. So kam es, daß der Hund immer mehr an Fleisch und Kraft zunahm, dem Wolf erging es aber gerade umgekehrt.

Am sechsten Tage trat der Wolf vor den Hund und sprach: »Nun glaube ich, daß du reif bist.« Der Sultan antwortete:[34] »O ja, und zwar fühle ich mich so wohl, daß ich es mit dir aufnehmen werde, im Falle du mich nicht frei läßt.« Der Wolf sprach: »Du scherzest! Bedenke, ich habe dich sechs volle Tage hindurch gefüttert, ja selber nichts gegessen und sollte nun so leer ausgehen? Das geht nimmermehr!«

Hierauf erwiederte Sultan: »Eines Theils hast du wohl Recht, jedoch wie glaubst du zu meiner Auffressung berechtigt zu sein?« –

»Dieß ist ja das Recht des Starken über den Schwachen«, gab der Wolf zur Antwort. »Wohlan«, entgegnete der Hund, »so hast du über dich selbst das Urteil gesprochen.« Bei diesen Worten machte er einen kühnen Sprung, und ohne daß sich's der Wolf versah, lag er am Boden, von Sultan überwältigt.

»Weil du mich am Leben gelassen, so will ich dich ebenfalls nicht gleich verderben und lege das Leben in dein Glück, wähle dir noch zwei Genossen, wie ich es auch thue, und erscheine morgen mit denselben hier im Wald, wo wir dann unfern Streit schlichten wollen.«

Beide trennten sich nun, um Mitkämpfer zu suchen. Der Wolf ging erzürnt tiefer in den Wald; der Hund eilte dem nächsten Dorfe zu. Der Wolf fand nach langem Zureden an dem mürrischen, brummigen Bär und schlauen Fuchs zwei Kameraden.

Unser Sultan lief zuerst in's Pfarrhaus und bewog dort die große, graue Katze mitzugehen. Von da richtete er seine Schritte auf den Hof des Ortsrichters und fand an dem muthigen Hahn den zweiten Mitkämpfer.

Kaum dämmerte es, und der Hund war schon mit seinen Bundesgenossen auf der Reise. Es fehlte wenig, so hätte er seine Feinde noch in tiefem Schlafe überrascht.

Der Wolf war am ersten erwacht, weckte seine Kameraden und sprach dann zum Bären: »Du kannst auf Bäume klettern, nicht wahr? Sei so gut, steige da auf diese hohe Tanne und schau, ob du nicht unsere Feinde erblickst.« Der[35] Bär that dieß, und als er oben war, schrie er herunter: »Fliehet, unsere Feinde sind schon da, ganz in der Nähe, und welche mächtige Feinde! Es reitet einer stolz einher und trägt sehr viele scharfe Säbel bei sich, welche in der Morgensonne stark glänzen; hinter diesem schreitet bedächtig einer und zieht eine lange Eisenstange nach sich. O wehe uns!« Bei diesen Worten erschrak der Fuchs so gewaltig, daß er es für das Rathsamste hielt, sich aus dem Staube zu machen. Der Bär kletterte eiligst vom Baume herab und verkroch sich in ein dichtes Gestrüpp, so daß von ihm nur die äußerste Schweifspitze hervorschaute.

Jetzt kamen die Feinde heran. Der Wolf, welcher sich von seinen Genossen verlassen sah, wollte das Weite suchen, indeß kam ihm Sultan zuvor. Ein Sprung, und der Hund hielt den Wolf am Genicke und machte ihm den Garaus. Unterweilen bemerkte die Katze die im Gebüsch sich bewegende Schweifspitze des Bären, und in der Hoffnung, eine Maus zu erhaschen, schnappte sie nach derselben. Erschreckt fuhr der Bär aus seinem Versteck hervor und flüchtete sich in aller Eile auf einen Baum und glaubte hier vor den Feinden sicher zu sein, indessen täuschte er sich; denn es war ja noch der Hahn da.

Als der Hahn den Bären auf dem Baum erblickte, sprang er auf den nächsten Ast und so fort immer höher. Der Bär war außer sich, und vor Schrecken fiel er herab und blieb maustot liegen. So endigte dieser Kampf.

Die Nachricht von der Heldenthat Sultans und seiner Genossen verbreitete sich weit umher und auch in jenes Dorf, in dem früher Sultan gedient hatte. Die Folge davon war, daß die Bauernfamilie ihren treuen Hofhund wieder zu sich nahm und verpflegte.[36]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 33-37.
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