[134] 30. Der Wunderbaum.

Es war einmal ein Bauer, der hatte drei Söhne, von denen aber einer sehr dumm war und daher von allen der dumme Hansl genannt wurde. Alles, was er unternahm, mißglückte ihm, und alles, was er ergriff, fiel zur Erde. Sein Vater meinte, er könne ihn durch Prügel gescheit machen, und prügelte ihn nach jedem dummen Streich, doch es half nichts. Eines Tages wuchs in dem Orte auf einmal ein seltener Baum aus der Erde hervor, ohne daß jemand einen Samen gelegt hatte. Seine Höhe nahm so rasch zu, daß er nach wenigen Tagen die eines Turmes erreichte, und nach einigen Wochen verlor sich der Gipfel schon in den Wolken. Die Dorfbewohner waren nun begierig zu wissen, wohin man kommen würde, wenn man an dem Baume emporklettern könnte, aber keiner wollte es unternehmen.

Die Kunde vom Baume drang weit und breit, sogar bis zur Königstochter, welche eine Frucht desselben verlangte. Man versprach dem eine gute Belohnung, der es wagen würde, die Reise anzutreten. Da meldeten sich viele, aber keinem gelang es, denn jeder fiel nach dem zweiten oder dritten Tage wieder herab. Jeder nahm sich mehrere Paar hölzerner Schuhe mit, von denen er von Zeit zu Zeit einen herunterwerfen sollte, um ein Zeichen von sich zu geben. Einige kamen gar nicht mehr, und warfen auch ihre Schuhe nicht herab: es mußte also mit ihnen etwas vorgefallen sein. Das nahm allen den Muth. Auch die zwei Brüder des Hansl unternahmen[134] das Wagestück, allen es ging ihnen so wie allen andern. Nun meldete sich auch Hansl und begehrte zu seiner Reise 12 Paar hölzerne Schuhe, Lebensmittel und eine bleierne Hacke und trat so seine Baumreise an. Daß ihn alles auslachte, kümmerte ihn nicht viel. Man wartete einen Tag lang und glaubte, Hansl werde herabkommen. Allein sie erstaunten nicht wenig, als sie bloß seine Schuhe herabfallen sahen, die ganz durchlöchert waren. Ebenso ging's die folgenden Tage, und da die Schuhe immer gewaltiger herabfielen, so konnte man schließen, Hansl komme immer höher.

Wie ist's nun wohl dem Hansl ergangen? Als er schon einige Tage geklettert hatte, und er eines Abends keinen passenden Ort zur Ruhe fand, entdeckte er im Baume eine Höhle, in der ein Licht schimmerte. Er trat in dieselbe, und bemerkte eine häßliche Alte, die ihn aber freundlich aufnahm, ihm eine gute Abendkost bereitete und ihm auch eine Schlafstätte anwies. Als Hansl sie fragte, wie weit es noch bis zum Gipfel sei, erwiederte sie: »O mei liaba Bui, do hast no weit. I bin erst da Monda (Montag). Da muist erst no zun Erida (Dienstag), zun Midwo bis zun Samsta kemma und wonnst iba (über) den draust bist, wirst scho seg'n, wos kimmt.«

Des andern Tages machte sich Hansl wieder auf die Reise, und nachdem er wieder mehrere Tage geklettert, gelangte er zu einer zweiten Höhle, in der sich eine Hexe aufhielt, die viel häßlicher als der Montag war und sich Erida nannte. Vor dieser fürchtete sich Hansl wohl anfangs; als sie ihm aber versprach, daß er ein gutes Nachtmahl erhalte, schwand die Furcht. Des andern Tages, als er seine Reise antreten wollte, warnte ihn die Hexe, beim Mittwoch nicht einzukehren, denn das sei ein häßlicher Mann, sagte sie, der kein Menschenfleisch sehen könne. Das befolgte Hansl auch und kam glücklich beim Mittwoch vorbei. Die nächsten Höhlen wurden vom Pfinsta (Donnerstag), Freida und Samsta bewohnt, lauter alte Weiber, eine häßlicher als die andere. Eine jede[135] hatte eine bucklichte Gestalt, einen Kopf mit zerrauften Haaren und eine große rothe Nase.

Als Hansl über den Samstag hinaus war, hatte er keine Schuhe mehr; seine Hacke, mit der er sich immer festhielt, war schon stumpf; auch hatte er keine Lust mehr zum Klettern. Umkehren wollte er nicht, da er schon sehr hoch war, und so blieb ihm nichts übrig, als seine Reise fortzusetzen. Allein bald kam er an eine steinerne Wand, in die der Stamm des Baumes verwachsen war. Er bemerkte eine kleine Thür. Dieselbe öffnete er und trat auf eine große Wiese. Hier fiel er betäubt nieder, und als er sich wieder erholte, sah er vor sich eine Stadt liegen, die ganz von Gold war und über welcher ein so starkes Licht schwebte, daß Hansl's Augen es nicht vertragen konnten. Neben ihm lag seine Hacke, allein sie hatte keinen hölzernen, sondern einen goldenen Stiel. Auch an dem Gipfel des Baumes, an dem er heraufgeklettert war, bemerkte er lauter goldene Früchte. Goldene Thiere sprangen auf der Wiese umher, mit einem Worte, alles war von Gold.

Hansl glaubte sich in dem Himmel zu befinden und blieb dort. Andere sagen, er sei wieder auf die Erde gekommen und habe alles erzählt, was er dort erlebt und gesehen hat.[136]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 134-137.
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