Die verlorenen Kinder Gottes

Die verlorenen Kinder Gottes.
Eine Madagaskarsage.

[61] Der Erschaffer der Welt, der Geist, von dem alles Leben ausgeht, Gott, hatte zwei Söhne. Diese stiegen hernieder auf die Erde und nahmen zwei Pflegerinnen mit sich; denen vertraute Gott sie an. Diese beiden Weiber hießen Rakoriaho und Ravao. Die Söhne Gottes aber waren eines Tages verschwunden, und Rakoriaho und Ravao gingen aus, um sie zu suchen; aber auch diese beiden kamen nicht wieder. Da machten sich alle Wesen und Dinge auf der Erde auf die Wanderschaft, um die verlorenen wiederzufinden. Die Steine, die Bäume, die Menschen, das Wasser – alles, was lebte und nicht lebte, suchte. Aber es half nichts; die Vermißten kamen nicht zurück. Endlich fragten die Menschen bei Gott an, ob er nicht sagen könne, wo man zu suchen habe. Als Gott die Bitte der Menschen hörte, sprach er:

»Jeder Mensch, jeder Stein, jedes Tier, jeder Baum und das Wasser soll aufhören zu suchen und bleiben, wo es gerade ist.«

Es waren aber manche Steine auf ihrer Wanderung tief in das Erdinnere eingedrungen. Als nun das Wort Gottes, welches ihnen befahl, nicht weiter zu suchen, sie traf, blieben sie an Ort und Stelle liegen und liegen noch[62] dort. Auch Tiere befanden sich tief in der Erde und mußten von nun an dort wohnen bleiben, so der Maulwurf, die Schlange und alles Gewürm.

Auch die Bäume hatten sich teilweise in den Erdboden verborgen; deshalb sind bis auf den heutigen Tag ihre wurzeln darin versteckt. Andere, welche bereits tiefer gewandert waren, blieben dort liegen. Man findet ihrer an manchen Stellen große Mengen tief unter der Erdoberfläche. Die Menschen waren suchend weit über die Erde gezogen und hatten sich nach allen Richtungen hin zerstreut. Daher kommt es, daß es überall, in allen Ländern Menschen gibt.

Das Wasser wurde angeklagt, daß es schuld daran trage, daß die Söhne Gottes und ihre Wärterinnen verloren waren. Deshalb sprach Gott zu dem Wasser:

»Weder bei Tag noch bei Nacht sollst du Ruhe finden, bis Rakoriaho und Bavao gefunden sind.«

Seitdem rauschen die Wasser unaufhörlich auf und nieder, ohne jemals zur Ruhe kommen zu können, und immer noch suchen sie nach den Kindern Gottes und ihren Wärterinnen.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 61-63.
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