Das Schicksalsbuch.

[137] Sie kamen nun wieder zu Dschuha nach Hause und nahmen ihn fest und banden ihn. Sie sprachen zu ihm: »Du hast uns also arm gemacht!« Dschuha blickte sie an und sprach zu ihnen: »Es fand also Glauben bei euch, dass stinkende Kuhhäute verkauft würden? Ich hatte euch ja nur zum Besten!« Sie nahmen also Dschuha fest, fesselten ihn und steckten ihn in einen Eselsack; den banden sie zu, um Dschuha so in das Meer zu werfen. Als sie nahe an das Ufer kamen, erblickten sie einen Schafhirten auf der Weide. Jetzt hiess es: »Wir wollen den Sack einstweilen hierhinlegen und vorerst bei dem Hirten einen Trunk Milch gemessen!« Sie kamen zum Hirten; den fragten sie: »Hast du einen Trunk Milch?« Er gab ihnen die Milch in einem Lederschlauche und sie tranken die Milch. Dann setzten sie sich zum Hirten hin und stützten sich auf den Ellenbogen; da wurden sie allmählich schläfrig,[137] und der Schlaf übermannte sie. Der Hirt liess sie ruhig schlafen und ging weg, um die Schafe wieder zurückzutreiben (die zu weit fortgelaufen waren). Schliesslich sah er einen zugebundenen Sack vor sich daliegen. Er stiess an denselben mit seinem Hirtenstocke. Dschuha im Sacke liess sich hören: »Lass mich in Frieden!« Der Hirt schrak zusammen und fragte: »Ist das ein Mensch oder ein Geist? Was ist's mit dir hier im Sacke?« fuhr er fort. Dschuha entgegnete: »Man will mich zu meinem Meister bringen, um unterrichtet zu werden; und wer bei meinem Meister unterrichtet wird, der erblickt das Schicksalsbuch, das Gott verwahrt.« Da sprach der Hirt: »Ach, ich möchte gern an deiner Stelle hingehen!« Dschuha entgegnete: »Nein, damit bin ich nicht einverstanden!« Er stellte sich abgeneigt, während er es doch gar zu gern gehabt hätte, dass der andere seinen Platz eingenommen hätte. Doch der Hirt fuhr fort, Dschuha unaufhörlich um jene Gunst zu bitten; da gab denn Dschuha nach und sprach: »Gut! Binde den Sack auf, damit ich herauskann!« Der Hirt machte den Sack auf und Dschuha kroch aus dem Sacke. Er befahl dem Hirten: »Zieh deine Kleider aus!« Die zog nun Dschuha an und gab dem Hirten seine Kleider, die letzterer sofort anzog; dann steckte er den Hirten in den Sack hinein, band diesen zu, trieb die Schafe vor sich her und kehrte so nach dem Dorfe zurück. Er hatte zuvor noch dem Hirten eingeschärft: »Wenn man dich fortträgt, so verhalte dich ja schweigend; denn wenn du sprichst, wird man dich in die Tiefe des Meeres werfen!« Die Verwandten Dschuha's standen nach einiger Zeit wieder vom Schlafe auf. Dschuha aber war mit seiner Herde schon verschwunden und weit fort von ihnen. Jene nahmen den Sack und warfen ihn ins Meer; dann hiess es: »Jetzt sind wir ihn los!« Sie begaben sich darauf nach ihrer Behausung und zwar kamen sie (auf einem kürzeren Wege) eher an als Dschuha. Dschuha aber gelangte erst in der Nacht nach dem Dorfe. Sämtliche Frauen im Dorfe waren frohen Mutes und riefen: »Dschuha ist tot! Wir sind ihn los!« – Da kommt nach Sonnenuntergang auf einmal Dschuha mit einer Schafherde nach dem Dorfe! Die Frauen riefen: »Da ist ja Dschuha wieder! Er lebt ja noch, und ist noch nicht tot! Ihr Männer habt ja aber doch gesagt: ›Wir haben Dschuha in das Meer geworfen, wir sind ihn los!‹«

Quelle:
Stumme, Hans: Tunisische Märchen und Gedichte. Leipzig: Hinrich: 1893, S. 137-138.
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