[282] 103. Warum die Guarayu im Rausch ihre Frauen prügeln

Nachdem Abaangui, der Großvater der Guarayu, die Welt geschaffen hatte, fühlte er Hunger, und um ihn zu befriedigen, schuf er die Yuca, den Mais, die Bananen und andere Früchte. Während diese wuchsen und die Früchte reiften, ernährte er sich mit der Frucht Camaapu. Mit so geringer Speise verbrachte er die ganze Zeit, bis die Yuca reif geworden war. Dann schickte er sein Weib aus, eine große Kiepe voll Yuca zu holen, und lehrte sie, Chicha zu bereiten. Als er annahm, daß der Trank fertig sei, bat er sie, ihm ein wenig davon in einer kleinen Schale zu bringen, damit er ihn versuche. Er versuchte ihn, und da er ihn gut fand, bat er um mehr. Darauf brachte sie ihm eine große Schale voll, die der Großvater mit einem Zug hinuntergoß. Die Frau brachte ihm nun Schalen auf Schalen mit Chicha, und der Großvater trank sie leer, bis er ganz betrunken war. Da nahm er seine Keule, fiel über seine Frau her und prügelte sie fürchterlich. Als sie sich ohne jeden Grund von ihrem Manne so mißhandelt sah, floh sie und verbarg sich im Walde. Bald darauf spürte der Großvater das Bedürfnis, einmal auszutreten, da er aber so betrunken[282] war, torkelte er hin und her und fiel schließlich zu Boden, wo er der Länge nach liegen blieb. Dabei verlor er seine herrliche Federkrone.

Als sein Rausch verflogen war, und er in der Hütte seine Frau nicht fand, ging er hinaus in den Wald und rief laut nach ihr. Auf sein durchdringendes Geschrei kam die Frau hervor, und als der Großvater sie erblickte, sagte er zu ihr: »Wo in aller Welt hast du denn gesteckt, Weib, daß ich dich nicht finden konnte?« Da antwortete ihm die Frau: »Ich bin geflohen vor dir, aus Furcht, du würdest mich töten. Sieh nur,« setzte sie hinzu, indem sie ihm ihre Wunden zeigte, »wie du mich gestern in deiner Betrunkenheit zugerichtet hast!« Und er darauf ganz hochmütig: »Wozu bist du denn da, Weib?« »Nun wohl,« fuhr er fort, »so wünsche ich, daß auch meine Enkel, wenn sie betrunken sind, ihre Frauen prügeln!«

Er sprach nicht vor tauben Ohren. Seine Enkel, die Guarayu, haben wörtlich den Befehl des Großvaters befolgt. Niemals haben sie einen Rausch, in dem ihnen die Weiber nicht davonlaufen, nachdem sie von ihrem Gatten tüchtige Prügel bekommen haben.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 282-283.
Lizenz:
Kategorien: