[303] 114. Das Mädchen, das der Kondor raubte

Es war einmal ein Mädchen, das hütete die Schafe. Da kam ein Kondor und entführte sie in seine Grotte. Dort war sie zwei Jahre lang. Eines Tages begab sich der Kondor zusammen mit dem Fuchs hinweg, um seiner Frau Fleisch zu holen. Da hörte er einen Vogel, Pitchatanca, etwas rufen.

»Was sagt er?« sagte der Kondor zu dem Fuchs.

»Er sagt, du sollest dich beeilen, das Fleisch zu holen.«

Das war nicht wahr. Der Pitchatanca hatte gerufen: »Sie entführen dein Mädchen.«

Noch einmal rief der Pitchatanca:

»Sie entführen dein Mädchen.«

Es waren nämlich der Vater und die Mutter des Mädchens, die gekommen waren, um sie zu holen.

»Was sagt er?« sagte wieder der Kondor zu dem Fuchs.

»Du sollst dich beeilen, das Fleisch nach Hause zu bringen,« sagte der Fuchs.

Noch einmal rief der Pitchatanca:

»Sie sind dabei, dein Mädchen zu entführen.«

»Was sagt er?« sagte der Kondor.

»Er sagte, daß sie dein Mädchen entführen,« sagte der Fuchs.

Der Kondor eilte ihnen nach. Als sie den Kondor kommen sahen, stülpten sie ein Tongefäß über das Mädchen. Der Kondor packte einen Zeugfetzen, den er Stück für Stück zerriß, und dann flog er weit weg. Der Vater und die Mutter hoben das Tongefäß auf, fanden aber nur einen Haufen Knochen. Da fingen sie an, sich zu schlagen, und dabei stürzten sie einen steilen Abhang herunter und fielen sich beide zu Tode.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 303.
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