4.
Die Hochzeit des Fuchses.

[267] In der Stadt Li-chîng lebte einmal ein Student Namens Yin, der später Präsident des Ministerium des Innern war. In dem Ort, wo er wohnte, lag ein Grundstück, das viele Morgen gross war und früher einem reichen Manne gehört hatte, und mitten auf diesem Grundstück stand ein grosses schönes Haus, woran sich Nebengebäude, Höfe und Gärten anschlössen. Diese Gebäude waren unbewohnt und gerieten nach und nach in Verfall. Es ging das Gerücht, dass es darin spuke und sonderbare und schreckliche Dinge daselbst vorgingen. Daher kam es, dass sich selbst bei Tage wenig Leute hineinwagten, und nach und nach wurde das Anwesen ganz und gar verlassen und von üppigem Unkraut und hohem Grase überwuchert.

Nun ass Yin eines Tages mit einigen seiner Kameraden, und es kam die Rede auf das Spukhaus. Einer seiner Kameraden sagte: »Wenn einer von uns es wagen will, eine Nacht in diesem Spukhause zu schlafen, so wollen wir anderen ihm ein Essen nach seinem Wunsche geben.«

Daraufhin sprang Yin auf und rief: »Wer fürchtet sich? Ich werde mein Bettzeug mitnehmen und sofort hingehen.«

Seine Kameraden nahmen ihn beim Wort. Yin machte sein Bettzeug zurecht und sie begleiteten ihn bis zum Eingange des verwünschten Gartens, nahmen dort Abschied von ihm und sagten ihm, er möge um Hülfe rufen, wenn er irgend etwas schreckliches bemerke.

Yin lachte und versicherte ihnen, dass, wenn er einen Geist oder einen Fuchs sähe, er ihn fangen und ihnen als Kuriosität mitbringen würde. Darauf trat er hinein. Da sah er, wie die Wege durch hohes Gras versperrt waren und das Unkraut höher aufgeschossen war, als ausgewachsener[267] Hanf. Der Mond stand gerade im ersten Viertel, und es war bei seinem schlechten Licht nur eben möglich, den Eingang zum Haus zu entdecken. Aber nach kurzem Bemühen gelang es Yin, hineinzukommen, er tastete sich von einem Raum zum andern, bis er zuletzt die beiden hinten gelegenen merkwürdigen Gebäude erreichte; er stieg die Treppe hinauf und trat in die Veranda, die im Gegensatz zu den übrigen Räumen sauber und ordentlich gehalten war, so dass er beschloss, hier zu übernachten. Er sass einige Zeit in der Veranda und wartete der Dinge, die da kommen sollten, indem er auf die schmale Mondsichel blickte, die hinter dem westlichen Hügel hinabsank. Aber es geschah nichts besonderes. Er breitete daher sein Bettzeug aus, indem er lachend bei sich dachte: »Die Schrecken dieses Ortes sind wirklich nicht so entsetzlich. Wer mag sie wohl erfunden haben?« Dann legte er sich nieder und vertrieb sich die Zeit damit, die Sterne zu zählen. Er wollte gerade einschlafen, als er ein Geräusch hörte, als ob unten Jemand umherginge. Darauf hörte er Fusstritte auf der Treppe und stellte sich schlafend. Ein als Diener gekleideter Mann, der eine wie eine Lotosblume geformte Lampe in der Hand trug, betrat den Raum, und als er Yin daliegen sah, prallte er zurück, lief zur Treppe und rief seinen Gefährten zu, dass dort ein Mann liege. Sie fragen, wer der Fremde wäre, und da er es nicht wusste, kam ein alter Mann herauf, der der Herr des Hauses zu sein schien. Nachdem derselbe einen flüchtigen Blick auf den Schläfer geworfen hatte, wandte er sich zu seinen Begleitern und sprach: »Das ist ein Mann Namens Yin, ein guter Student, der eines Tages ein grosser Mann werden wird. Wir brauchen uns nicht im geringsten um ihn zu bekümmern, denn er hat ein gutes Herz und selbst wenn unser Lärm ihn erwecken sollte, wird er uns freundlich entgegen kommen.«

Als er dies gesagt hatte, wurden die Thüren des Hauses geöffnet, und eine Menge Leute strömten herein, und überall[268] wurden die Lampen angezündet, bis jedes Zimmer taghell war. Yin merkte, dass es thöricht wäre, sich länger schlafend zu stellen; er begann daher zu husten und ein Geräusch zu machen, als ob ihm etwas in die Kehle gekommen wäre. Als der Herr des Hauses bemerkte, trat er zu ihm heran, machte eine tiefe Verbeugung und sprach zu ihm: »Dein ergebener Diener hat ein Töchterlein, das heute Nacht Hochzeit hat. Wir waren der Ehre deiner Gesellschaft nicht gewärtig, und ich hoffe daher, du wirst nicht böse sein, dass wir dich gestört haben.«

Yin sprang eilends auf, machte gleichfalls eine Verbeugung und erwiderte: »Ich wusste nicht, dass diese Festlichkeiten heute Nacht stattfinden sollten, sonst hätte ich mich dazu vorbereitet und ein Hochzeitsgeschenk mitgebracht.«

»Deine Gegenwart,« erwiderte der Alte, »ist besser als ein Hochzeitsgeschenk, denn sie vertreibt alle bösen Einflüsse. Ich würde daher sehr dankbar sein, wenn Du uns die Ehre deiner Gesellschaft gewähren wolltest.«

Yin nahm die Einladung mit grossem Vergnügen an und begab sich mit seinem Wirt in eines der Nebenzimmer, wo Alles mit grösstem Glänze hergerichtet war. Eine Dame von etwa 40 Jahren kam auf Yin zu und wurde ihm als die Frau des alten Mannes vorgestellt. In diesem Augenblicke ertönten Hörner und andere Blasinstrumente, und ein Diener meldete die Ankunft des Bräutigams. Der alte Herr empfing seinen Schwiegersohn an der Thür, führte ihn nach einigen Minuten in den Festsaal und stellte ihn Yin vor. Der Bräutigam war ein Jüngling von etwa 17 Jahren von schönem und angenehmem Aussehen. Er entledigte sich aller der Begrüssungen, welche die Etiquette bei einer Hochzeit erfordert, und darauf liess sich die ganze Gesellschaft nieder, um die Damen zu erwarten. Es dauerte nicht lange, so traten dieselben alle zusammen herein. Dann brachten die Diener das Essen und besetzten die Tische mit Leckerbissen, wie die Berge mit Schnee bedeckt sind.[269] Aber ausser den Speisen standen noch Krüge und goldene Becher auf der Tafel, worin den Gästen der Wein kredenzt wurde. Während dieser Zeit erwarteten die Gäste die Braut, die entweder sehr lange Zeit für ihren Anzug gebrauchte, oder zu schüchtern war, um sich zu zeigen. Endlich musste der alte Herr selbst gehen und seine Tochter holen. Sie trug keinen Schleier, sondern nur eine Menge Haarschmuck und Gürtelgehänge und duftete so stark nach Moschus, dass der ganze Raum davon erfüllt wurde. Der Vater führte sie zur Gesellschaft, der sie eine Verbeugung machte. Dann setzte sie sich zu ihrer Mutter.

Yin betrachtete sie aufmerksam und hielt sie für die schönste Frau der Welt.

Aber gerade in diesem Augenblick wurde sein Gedankengang dadurch unterbrochen, dass der Wein in kostbaren, goldenen Bechern herumgereicht wurde, von denen jeder mehrere Maass fasste. Als einer von diesen in seine Nähe kam, schob er ihn in seinen Ärmel, während man nicht auf ihn achtgab und lehnte dann seinen Kopf auf den Tisch, als wenn er trunken und eingeschlafen wäre. Niemand kümmerte sich um ihn; man liess ihn liegen, und kurz darauf brach die Gesellschaft auf, um das junge Paar zum Hause des Bräutigams zu geleiten.

Nun befahl der alte Herr den Dienern, die Tische abzudecken und das Geschirr und die Trinkgefässe wegzuräumen. Dabei ergab sich, dass einer von den grossen goldenen Pokalen fehlte. Man suchte überall, konnte ihn aber nicht entdecken. Nur einer der Diener meinte, vielleicht hätte ihn der schlafende Fremdling genommen, aber der Wirt hiess ihn ärgerlich schweigen und nicht so thöricht zu sein, seine Gäste zu beleidigen. Der alte Herr und seine Genossen gingen darauf davon und liessen Yin an der Tafel sitzen. Als sie gegangen waren, stand Yin auf. Der Raum war jetzt stockfinster, und Yin würde seine Erlebnisse für einen Traum gehalten haben, wenn nicht der Moschusgeruch und der Dunst des Weines noch das Haus erfüllt hätte.[270] Ausserdem hatte er den Pokal in seinem Ärmel. Nach kurzer Zeit begann sich der östliche Himmel zu röten, der Tag brach an. Yin rollte sein Bettzeug zusammen und ging zum Gartenthor hinab, wo er seine Freunde fand, die auf ihn warteten. Sie hatten den Verdacht gehabt, Yin würde am Abend zuvor nur eben in das Thor hineingehen, und nach ihrem Weggehen sogleich wieder herauskommen. Dann, meinten sie, würde er früh bei Tagesanbruch noch einmal hineintreten, damit, wenn sie kämen, es den Anschein habe, als hätte er in dem verwünschten Hause geschlafen. Deshalb hatten sie die ganze Nacht am Eingange Wache gehalten. Yin erzählte ihnen sein Abenteuer und zeigte ihnen den goldenen Becher. Seine Freunde wussten, dass er zu arm war, um einen so wertvollen Gegenstand kaufen zu können, und so überzeugte sie sein Besitz von der Wahrheit seiner Geschichte.

Einige Jahre nach diesen Begebenheiten machte Yin sein Staatsexamen und erhielt ein Amt in Fei Chin in der Provinz Honan. Dort lebte ein reicher Mann, namens Chu. Dieser lud Yin eines Tages zum Mittagessen ein und befahl den Dienern, bei Tisch die besten goldenen Pokale herauszugeben. Es dauerte einige Zeit, bis dieser Befehl ausgeführt war, und während die Pokale auf den Tisch gestellt wurden, flüsterte der Kellermeister seinem Herrn etwas zu, das diesen erheblich ausser Fassung zu bringen schien. Sieben goldene Pokale wurden nun herumgereicht, und Yin bemerkte zu seinem lebhaften Erstaunen, dass sie dem Becher, den er beim Hochzeitsfeste in dem verwünschten Hause gestohlen hatte, vollständig gleich waren. Er wendete sich zu seinem Wirt und frug ihn, woher er diese Becher habe.

»Mein Vater,« erwiderte Chu, »hatte in Peking ein Amt und hörte während dieser Zeit von einem Goldschmied, der ausserordentlich kunstvolle und zierliche Arbeiten verfertigen solle. Mein Vater bestellte bei ihm einen Satz von acht Pokalen, die seitdem als Erbstück Unserer Familie auf mich gekommen sind. Zu meinen Bedauern muss ich[271] indes sagen, das einer der Becher, wie mir mein Kellermeister sagt, auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist und nur sieben übrig sind, obwohl der Kasten, in dem sie aufbewahrt werden, verschlossen und versiegelt ist, und die Siegel 15 Jahre lang nicht berührt worden sind. Ich weiss nicht, wie das hat geschehen können. Ich fürchte, dass einer meiner Diener ihn gestohlen und meine Siegel gefälscht hat.«

»Möglicherweise,« erwiderte Yin lachend, »hat sich der Pokal selbst Flügel wachsen lassen und ist davon geflogen. Aber ich weiss Rat. Ich habe zu Hause einen Becher von genau derselben Art wie diese, und da ein einzelner Becher für mich ohne Wert ist, werde ich ihn dir zusenden, um deinen Satz zu vervollständigen.«

Chu sprach seinen Dank aus, und Yin sandte nach seiner Rückkehr seinem Freunde den gestohlenen Becher mit einem ausführlichen Bericht darüber zu, wie er in seinen Besitz gelangte.

Die Leute, die etwas von Geistergeschichten verstehen, meinen, dass ein Fuchs sich jedes Dinges bemächtigen könne, was es auch sei, aber dass der gestohlene Gegenstand früher oder später zu seinem rechten Eigentümer zurückkommen werde. Wenn diese unsere Geschichte wahr ist, so bestätigt sie diese Behauptung.154

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 267-272.
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