Der arme und der reiche Mann.

[358] Es lebte einmal ein armer Mann. Da sagte der reiche Mann zum armen: »Morgen gehe ich zur Jagd, komm mit, du armer Schlucker, ich führe dich auch auf die Jagd.« »Wie soll ich mit dir gehen?« antwortete der Arme, »da ich doch nichts zu essen habe.« »Sage deiner Frau,« sprach der Reiche, »dass sie irgendwo etwas sich erbitte; irgend jemand im Aul (Dorf) wird ihr eine Schale Mehl geben, nun, daraus mag sie dir etwas zum Essen bereiten.« Der Arme ging zu seiner Frau und sagte: »Der Reiche ladet mich ein, mit ihm auf die Jagd zu gehen, aber was soll ich mitnehmen? Gelt, ich habe nichts Essbares zu Hause?« Die Frau ging, schaffte sich irgendwo Mehl und bereitete daraus etwas zum Essen.

Am anderen Tage machten sich der reiche und der arme Mann auf den Weg. Sie begannen zu jagen; sie jagten den ganzen Tag, aber sie fingen nichts. Als es Abend geworden war, machten sie sich ein Feuer an und setzten[358] sich daneben. So sassen sie lange; endlich sprach der Arme: »Sollte es nicht Zeit sein, etwas zu Nacht zu essen?« – »Freilich ist es Zeit,« antwortete der Reiche. Die Wegekost des Armen wurde hervorgeholt, beide assen davon, dann legten sie sich zum Schlaf nieder. Am andern Tage jagten sie wieder vom frühen Morgen bis zum späten Abend und fingen wiederum nichts; zur Nacht kamen sie an den früheren Platz. Lange sassen sie da; endlich, als es Zeit zum Essen war, sagte der Arme: »Du, lass uns essen!« – »Was sollen wir denn essen? Hast du vielleicht noch etwas Essbares bei dir?« war die Antwort des Reichen. Dann nahm der Reiche von seinem eigenen Vorrat und ass, aber dem Armen gab er nichts. Der Arme schaute lange Zeit darauf hin, endlich sagte er: »Gieb auch mir zu essen.« – »Überlass mir ein Auge, ich werde es dir ausstechen, dann gebe ich dir zu essen,« entgegnete der Reiche. Es war nichts zu machen, der Arme bot sein Auge dar, der Reiche stach es ihm aus. Dann gab der Reiche dem Armen ein Stückchen Kuchen und jagte ihn fort.

Einäugig geht der Arme weiter; als er aus dem Walde ins Freie gelangt, sieht er in der Ferne ein Licht und marschiert darauf zu. Als er näher zum Licht kommt, so sieht er vor sich ein Haus. Er schaut durch die offene Thür in das Innere – niemand ist da; er tritt ein und verbirgt sich darin. Bald darauf kommen der Bär, der Wolf und der Fuchs heranspaziert und treten auch in das Haus. Da spricht der Bär: »Wir sitzen hier beisammen, wir schlafen beisammen, warum essen wir nicht beisammen? Warum essen wir nicht zusammen von unseren Speisevorräten? Jeder, der etwas hat, mag es hergeben!« – »Seht, was ich habe,« sagte der Fuchs, indem er ein Stück goldgewirkten Zeugs hervorholte, »dies schliesst alle meine Schätze in sich; von diesem Stücke lebe ich; dieses Stück schafft mir zu essen und zu trinken; ich nehme das Stück Zeug, schüttele es zwei Mal – und siehe da, allerlei Getränk und allerlei Speise, wie sie Gott geschaffen, kommen[359] hervor.« – »Das ist freilich ein sehr kostbares Ding,« sagte der Bär, »aber ich besitze eine mit Geld angefüllte Grube: seht, das habe ich!« Und er führte sie hinaus und zeigte ihnen die mit Geld angefüllte Grube. Der Wolf aber zeigte ihnen einen Baum und sagte: »Seht, wenn ich bei meinen Raubzügen gelegentlich verwundet werde, so komme ich zu diesem Baume, reibe an demselben meinen Körper und alles wird wieder heil, als ob nichts gewesen wäre.«

Nachdem alle drei auf diese Weise von ihren Reichtümern sich Mitteilung gemacht hatten, sprach der Bär zum Wolf und Fuchs: »Wenn nun aber schliesslich unsere Vorräte zu Ende gehen, so wird es schlimm werden; darum lasst uns arbeiten. Wohin wenden wir uns?« – »Ich gehe den Hühnern nach,« entgegnete der Fuchs. »Ich begebe mich zu den Hirten und hole mir ein Schaf,« sprach der Wolf. »Und ich will Hafer fressen,« sprach der Bär.

So redeten sie mit einander zur Nachtzeit über ihre Tagesarbeit. Morgens in aller Frühe machten sie sich fort? ein jeder an seine Arbeit – wie er gewollt hatte. Der Arme sass noch in seinem Versteck, als aber die drei fort waren, da kam er heraus, nahm alles, was jene zurückgelassen hatten, das Stück Zeug und das Geld aus der Grube und steckte es in seinen Sack. Dann ging er zu dem Baume, welchen der Wolf gezeigt hatte, und rieb daran das Auge, welches der Reiche ihm ausgestochen hatte, und siehe da, das Auge sass wieder gesund an seinem Platze wie früher. Dann wanderte der Arme weiter und kam zu den Hirten. Und die Hirten fragten ihn: »Wo warst du? Was trägst du auf deinem Rücken?« Er antwortete: »Der Reiche hatte mich mit auf die Jagd genommen und nun trage ich etwas nach Hause!«

Darauf kommt der Wolf zu den Hirten und ruft: »Werft mir meinen Tribut zu!« Die Hirten rufen: »So komm doch näher.« Der Wolf kriecht immer näher heran; die Hirten sagen: »Er lässt uns keine Ruhe,« jagen nach ihm, schiessen auf ihn und – was geschieht? Wir wünschen,[360] dass das Gleiche mit deinem Feinde geschehe! Das Gehirn fällt ihm aus dem Kopfe. Da lief der Arme schnell hinzu, hob das Hirn auf, sagte, das sei eine ausgezeichnete Arznei, und schob es in seinen Sack. Der Wolf aber lief eilig zu seinem Baum und rieb sich daran, aber es half nichts; da ging er nach Hause, legte sich nieder und fing an zu kränkeln; der Arme eilte auch fort und kam in den Aul eines Fürsten.

Der Fürst aber war schwer krank; von allen Seiten waren seine Freunde und Bekannten zu ihm gekommen. Der Arme fragte: »Was giebt es hier?« Sie antworteten: »Unser Fürst ist schwer krank!« »Nun, wenn ihr so gütig sein wollt, zeigt mir doch den Kranken!« – »Ach, wozu willst du ihn sehen?« – »O, ich wünschte ihn wohl zu sehen!« Das vernahm der Fürst und liess den Armen hereinführen. Der Arme trat in das Gemach des Fürsten, setzte sich auf einen Sessel und sagte: »Möge die Kraft eines Gesunden in dir sein!«A1 so wie man zu einem Kranken sagen muss. Dann fragte der Arme, wie er sich in betreff der Arzneimittel befinde. »Ach,« antwortete der Kranke, »wenn ich nur jemand hätte, der mir Arznei verordnete, ich gäbe ihm alles, was er von mir sich erbitten würde.« Da fordert der Arme, dass man ihm Milch herbeischaffte. Und sie brachten Milch. Und der Arme nahm das Gehirn der Wolfes und kochte dasselbe in der Milch. Dann verlangte er eine Schale, goss etwas von der Arznei hinein und reichte es dem Fürsten, damit er es austrinke. Der Fürst leerte die Schale und wurde gesund, wie ein HirschA2 – er war geheilt. Dann schickte der Fürst seine Diener aus. »Gehet,« sagte er, »und treibt meine Herde herbei!« Und sie trieben die Herde herbei. Der Fürst ging hinaus,[361] fing das beste Ross und zäumte es auf, wie es sich gehört. Als das Pferd nun gezäumt war, nahm er einen Säbel, eine Pistole und eine Flinte, alles vom Besten. Nachdem sich nun der Arme auf das Pferd gesetzt hatte, schenkte der Fürst ihm noch eine Schafherde nebst dem Hirten. Der Arme ritt fort, dass die Funken stoben.

Der Reiche erkannte den Armen, ging ihm entgegen und sprach zu ihm: »Wo hast du das alles erbeutet? Sage es mir, oder ich nehme dir die Hälfte fort, wir hatten doch gemeinsame Sache gemacht!«

»Komm her, ich werde dir ein Auge ausstechen – dann will ich dir auch gestehen, wo ich alles erbeutet habe«, sprach der Arme. Der Reiche nun – es war nichts zu machen – ging darauf ein: der Arme stach ihm ein Auge aus mit dem Dolch, dem Geschenk des Fürsten. Dann aber erzählte der Arme: »In der Nacht, als ich dich verliess, ging ich einem Lichtschein nach und kam zu einem Hügel, in welchem der Bär, der Wolf und der Fuchs wohnen: von ihnen habe ich alles das erbeutet. Nun eilte der Reiche auch in das Haus des Bären, des Wolfes und des Fuchses, trat ein und versteckte sich. Von den Tieren war niemand zu hause. Alle waren bei ihrer Arbeit. Am Abend kehrten alle heim; der Wolf zuerst, er war nicht recht gesund. Nachdem sie eine Zeitlang bei einander gesessen hatten, fragte der Bär: ›Nun, was hat denn ein jeder geschafft?‹ ›Ich kam zu den Hirten,‹ sagte der Wolf,« aber man gab mir keinen Tribut; wohl aber brachte man mir eine Wunde bei; »da ging ich zu meinem Baume und rieb und rieb daran, aber es half nicht – da bin ich nun krank.« – »Ich bin um alle Hühnerställe herumgegangen, habe aber nichts erbeutet und bin mit leeren Händen heimgekehrt,« sagte der Fuchs. »Ich ging aus, um Hafer zu fressen, aber weil derselbe noch grün ist, so bin ich ebenfalls leer heimgekehrt,« sagte der Bär. So sassen sie eine Weile und als die Essenszeit kam, da sprach der Bär zum Fuchs: »Fuchs, bringe uns[362] doch irgend etwas!« Der Fuchs zündete ein Licht an und suchte; sein Zeug ist fort. »Was sollen wir denn essen, wenn mein Zeug nicht da ist!« Da erhob sich der Bär und sagte: »Du willst uns etwas necken! Ich hole mir wenigstens einen Rubel aus meiner Grube.« Aber die Grube war ganz leer. Beide hielten Rat und der Bär meinte, das hat niemand als der Wolf beiseite gebracht. »Ich bin krank,« sprach der Wolf, »ich habe nichts gesehen.« Der Bär aber sagte: »Das bist du gewesen, es kann niemand anders sein; du stellst dich nur krank! Aber uns wirst du nicht betrügen!« Und der Bär und der Fuchs fielen über den Wolf her und verzehrten ihn.

Nachdem sie den Wolf aufgefressen hatten, entdeckte der Fuchs den Reichen und rief: »Sieh, hier ist ein Mensch, das ist der Dieb! Warum haben wir unsern Kameraden aufgefressen?« Der Bär zog den Menschen aus seinem Versteck und zerriss ihn. Der wollte sich verantworten, dass nicht er der Dieb sei, aber was sollte der Bär ihn noch anhören! Der Bär und der Fuchs verspeisten ohne weiteres den reichen Mann. Dem Armen aber hatte Gott das Leben geschenkt; er weilt noch heute unter den Lebenden.198

Fußnoten

A1 Ossetischer Gruss, n' Agassad-da-ua, womit man einen Kranken anredet.


A2 Ossetische Redensart. Wenn einer den andern fragt, wie es gehe, so lautet die Antwort: sadshi-chusan, wie ein Hirsch d.h. ich bin gesund und rüstig wie ein Hirsch.


Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 363.
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