XI
Die entführte Frau.

[108] Verwandt mit den Placidusgeschichten; vgl. Gest. Rom. p. 445 ff. und die reichen Nachweise p. 730 a. Hinzuzufügen ist noch KNOWLES, FtKash. p. 154 ff. und die hier p. 165 not. 5 citierten Tibetan Tales p. 222 f., Folktales of Bengal p. 93 ff. und Legends of the Punjab III p. 97 ff. Auch die Geschichte Abu-Ssâbirs in den »Zehn Vesieren« (SALḤ. p. 37 ff.) kann man zu dieser Gruppe rechnen.


Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten zwei noch junge, kleine Söhnchen. Die Leute waren sehr arm. Eines Tages sagte der Mann zu seiner Frau: »Auf! wir wollen aufs Geratewohl in die weite Welt ziehen. Vielleicht können dann unsere Kinder erhalten werden und müssen nicht vor unseren Augen sterben.« Sie machten sich dann auf und zogen ohne bestimmtes Ziel dahin.[108]

Als sie ihres Weges zogen, kamen sie auf eine Wiese,1 und ein Bächlein floss langsam über die Wiese2 hin. Der Ort war so schön, daher setzten sie sich da hin. Aber die Kinder begannen infolge ihres Hungers zu weinen und verlangten etwas zu essen. »Frau!« sagte der Mann, »auf, hänge den Kessel auf und zünde ein Feuer an.« »Wozu soll ich Feuer machen«, fragte die Frau, »was soll ich kochen? Es ist ja nicht einmal der Name einer Sache da.« »Steh nur auf«, erwiderte er, »und setze den Kessel auf, damit du, so oft die Kinder zu essen wünschen, ihnen sagest: ›Wartet, bis es kocht.‹ Mögen sie ihre Hoffnung auf das Feuer und den Kessel setzen.«

Die Frau erhob sich gleich, setzte den Kessel auf und machte Feuer, und so oft die Kinder essen wollten, sagte sie: »Wartet, bis es kocht.« Als sie aber so dastanden, sahen sie ein Gazellenmännchen kommen, das hinkte. Der Mann packte es, schlachtete es, zerlegte es und that es in den Kessel. Und als es gar war, setzte er es seinen Kindern vor. Die eine Nacht blieben sie nun da, und am folgenden Tage zogen sie ihres Weges weiter, den ganzen Tag bis zum Abend. Wieder liessen sie sich an einem schönen Orte nieder, und wieder sagte der Mann zur Frau: »Auf! setze den Kessel auf den Herd.«3 Da sagte die Frau: »Gestern erbarmte sich Gott unser, und jenes Böcklein kam; wozu soll ich aber heute Feuer machen?« »Vielleicht hat Gott auch heute Erbarmen«, erwiderte er; »wo nicht, so mag der Kessel und das Feuer dazu dienen, Hoffnung zu erregen.« Die Frau stand dann auf, machte Feuer und fing an zu kochen. Und sogleich erblickten sie einen Wolf, der ein Lamm geraubt[109] hatte und es nun davontrug.4 Der Mann sprang auf und schrie den Wolf an, worauf dieser das Lamm losliess und davonlief. Da ging der Mann hin, nahm es, und es war noch unversehrt. Auch dieses Mal hatte es Gott ihnen bestimmt.

Sie verbrachten dort die Nacht, und am folgenden Tage brachen sie auf, um ihren Weg fortzusetzen. Wiederum kamen sie an einen [schönen] Ort und liessen sich da nieder. Und sogleich sahen sie eine grosse Karawane herankommen, die sich in ihrer Nähe (unterhalb ihrer) lagerte. Die armen Leute zündeten ihr Feuer an und setzten sich nieder, und auch die Karawane liess sich nieder, um auszuruhen.5 Da kam einer von der Karawane heran, um Feuer zu holen, erblickte die Frau und geriet in Erstaunen. »Wie ist doch! die Frau so schön!« rief er aus. Er nahm dann Feuer, ging zu seinem Herrn und sprach: »Mein Herr! Ich habe an jenem Feuer eine Frau gesehen, es ist eine schöne Frau, sie würde gerade für dich passen.« Da fragte der Herr, wer sie herbeibringen könnte. »Ich kann sie herbringen«, antwortete der Mann. »Wenn du sie herbringst«, sagte sein Herr, »sollst du ein schönes Geschenk bekommen.«

Der Diener ging dann hin und sagte zum Manne: »Freund! bei uns in der Karawane ist eine Frau, die jetzt daniederliegt und niederkommen soll. Sei so gut, lass deine Frau für diese Nacht zu ihr gehen, bis sie niedergekommen ist. Denn es schickt sich nicht, dass Männer an eine Frau herangehen, wenn sie niederkommen soll. Wenn unsere Frau sich wieder wohl befindet, dann mag deine Frau wieder zurückkommen. Wir wollen ihr das auch vergüten.« »Mag sie gehen«, sagte der Mann, »was habe ich von ihr.« Doch die Frau sagte: »Ich gehe nicht«, denn es war ihr unheimlich vor dem Manne. »Warum willst du nicht gehen?«[110] fragte der Mann, »vielleicht bringst du etwas für die Kinder mit.« »Ich gehe nicht«, erwiderte sie, »du wirst es bereuen, wenn ich gehe.« Doch der Mensch und ihr Mann drangen sehr in sie, und so erhob sie sich schliesslich und ging hin. Kaum aber war sie hingekommen, so legten sie sie in eine Kiste, und sofort packte die Karawane auf und zog von dannen.

Ihr Mann hatte sich niedergelegt und war eingeschlafen, und auch seine Kinder waren eingeschlafen. [Sie schliefen] bis früh, dann erwartete er die Ankunft seiner Frau und sah nach dem Lagerplatze der Karawane hin. Doch die Karawane hatte aufgepackt und war weggezogen. Da begann er zu weinen und sich vor den Kopf zu schlagen, und dann zog er langsam, langsam nach einer grossen Stadt. Hier verkaufte er [seine Kinder] an den König der Stadt, und er selbst ging in den Häusern herum und bettelte sich sein Brod zusammen. Er wanderte dann von dieser Stadt wieder nach einer andern und wurde Diener beim König dieser letzteren Stadt. Ein Jahr und zwei war er da, als die Könige der beiden Städte aneinander gerieten. Der König, der die Knaben gekauft hatte, unterlag, und sein Heer wurde gefangen. Auch die Knaben nahm man gefangen – sie wussten nicht, dass sie Brüder waren –, und auch sie kamen in den Dienst des Königs.

Eines Tages sagte der König zu ihrem Vater: »Erzähle mir deine Erlebnisse, damit wir sie erfahren (?).« Da erzählte er seinem Herrn seine Geschichte, wie sie sich zugetragen hatte. Nach einigen Tagen kam eine grosse Karawane und lagerte vor dem Schlosse des Königs. Der Kapitän derselben befahl seinen Dienern und sprach: »Gebet auf die Tiere und die Frachtgüter acht, da ich6 zum Könige gehen will.« Er ging dann zu diesem und sprach zu ihm: »Ich möchte von dir zwei ordentliche Diener haben, die meine Karawane[111] bewachen sollen.« Der König sagte: »Schön« und gab ihm zwei Diener: die zwei Gefangenen, die Brüder waren. Diese setzten sich auf den Frachtgütern vor einer Kiste nieder. Als dann der Abend heranbrach, wurden sie schläfrig, und da sagte der eine von ihnen: »Erzähle uns eine kleine Geschichte, damit wir nicht einschlafen.« Der eine von ihnen begann darauf zu erzählen und sprach: »So und so. Ich hatte Vater, Mutter und einen Bruder. Auf die und die Weise ist meine Mutter von einem Kaufmann durch List entführt worden«, und erzählte ihm, wie es sich zugetragen hatte.

In der Kiste war aber eine Frau, und die war ihre Mutter. Als er nun erzählt hatte, sprach der andere junge Mann so: »Bei Gott, du bist mein Bruder. Auch mir ist es ergangen wie dir.« Als die Frau das hörte, sagte sie: »Bei Gott, das sind meine Kinder.« Sie schlug dann einmal an die Kiste, worauf diese zerbrach, und sie herausging. »Ihr seid meine Kinder!« rief sie aus. »Auch mir ist es so ergangen; ich bin eure Mutter!« Da freuten sie sich und erzählten sich bis Mitternacht, und darauf legten sie sich hin; der eine an die eine und der andere an die andere Seite von ihr, [und sie blieben so] bis zum Morgen. Am Morgen kam der Jude – der Kaufmann –, um nach der Ladung und der Kiste zu sehen, da sah er aber, dass die Kiste erbrochen war, und die zwei Knaben neben der Frau schliefen. Kaum sah er das, als er zum Könige zurückkehrte. Er beklagte sich bei ihm und sprach: »Effendi! was hast du gethan! da schlafen deine Diener neben meiner Frau!« »Wie, junger Mann?« fragte jener. »Jawohl, bei Gott!« erwiderte der Jude. Der König schickte dann Leute, die nachsehen sollten, und es war so, wie der Kaufmann gesagt hatte, die Knaben schliefen sogar noch. Man weckte sie und brachte sie vor den König. »Was habt ihr gethan?« sagte der König. »Ich habe euch vor jener Kiste postiert, und ihr beginget so etwas.« »Freund«, antworteten sie, »das ist unsere Mutter.« Und auch die Frau sagte: »Das[112] sind meine Kinder.« Die Frau erzählte dann und sagte: »So und so liegen meine Verhältnisse.« Auch die Knaben erzählten dann. Der jüdische Kaufmann geriet nun in grosse Furcht, als sie ihre Geschichte erzählten. Auch ihr Vater war dort, und der sprach: »Das sind also meine Kinder, und dies ist meine Frau.« Darauf nahm der Mann seine Frau und seine Kinder, – der König gab sie ihm – und so kamen sie alle wieder zusammen. Dem jüdischen Kaufmanne aber wurde der Kopf abgehauen.

1

Das erste margištâ ist mit mrg, übersetzt, was pers. merg sein dürfte; das ist wohl das Richtige. Dann hiesse minnâ eigentlich »mit ihr«. Für das zweite steht aber in der Übersetzung ѕljanbû,. Hiernach muss die Stelle heissen: »kamen sie an eine Quelle, und ein Bächlein floss langsam aus der Quelle.«

2

Das erste margištâ ist mit mrg, übersetzt, was pers. merg sein dürfte; das ist wohl das Richtige. Dann hiesse minnâ eigentlich »mit ihr«. Für das zweite steht aber in der Übersetzung ѕljanbû,. Hiernach muss die Stelle heissen: »kamen sie an eine Quelle, und ein Bächlein floss langsam aus der Quelle.«

3

Diesen darf man sich hier nur als drei Steine denken, zwischen denen das Feuer angelegt wird.

4

Das Wort heisst eigentlich: laufen lassen; aber das kann man hier nur so auffassen, dass er selbst mit dem Lamm fortlief. Auch die Bedeutung »vor sich herjagen« passt nicht recht.

5

? Die Übersetzung hat für rzigl, – srtâḥu.

6

Im Texte falsch: »er«.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 108-113.
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