VI
Der Blinde und der Sehende.1

[186] Es waren einmal drei Männer auf der Wanderschaft: ein Blinder, ein Tauber und ein Nackter. Als sie die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatten, sprang der Taube auf und rief: »Kinder! ein Reitergestampfe!«, der Blinde rief: »Da sind sie bereits, die Reiter!« und der Nackte rief: »Laufet Kinder, dass sie uns nicht ausziehen.« Der Nackte lief nun voraus, der Taube hinter ihm her, und der Blinde musste auf dem Wege bleiben. Nach einiger Zeit kam ein Sehender, und der hatte einen Beutel Geld bei sich. Als der Blinde etwas klimpern hörte, rief er: »Wer da?« »Ich bin es«, antwortete man ihm »und wer bist du?« – »Wahrhaftig, ich bin ein Blinder. Meine Genossen haben mich zurückgelassen und sich davongemacht, und nun weiss ich nicht, wohin ich gehen soll, denn ich sehe den Weg nicht.« Dann sprach der Blinde zum Sehenden: »Komm her! halte dich an meinem Rücken fest, und ich werde dich nach dem Dorfe führen.« Der Sehende fasste den Rücken des Blinden an, und sie begannen zu marschieren. Als sie ein Stückchen gegangen waren, sagte der Blinde zum Sehenden: »Was hast du da bei dir?« »Ich habe eine Börse Geld«, antwortete[186] der Andere. »Gieb sie mir«, sagte der Blinde, »ich will sie für dich tragen, du bist müde«, und der Andere gab sie ihm. Als sie weiter gingen, sprach der Blinde zum Sehenden: »Bleib hier stehen, ich möchte gehen, um ein Bedürfnis zu verrichten.« Der Sehende setzte sich hin, und der Blinde ging weg, mit der Absicht sich wegzustehlen und die Börse zu verstecken. Er ging dann ein wenig nach der Seite und streckte sich auf dem Boden aus. Der Sehende wartete eine Weile, und der andere kam nicht. Da rief er nach ihm, aber er antwortete nicht. Nun begann er zu weinen: »Um Gottes willen! behalte mein Geld, aber lass mich nicht in dieser Wüste zurück, die Tiere werden mich ja fressen.« Der Blinde antwortete nicht. Da ergriff der Sehende einen Stein und rief: »Du da! sprich: wo nicht, erreicht dich der Stein; mit Gottes Hilfe wird er deinen Rücken nicht verfehlen.« Als der Blinde noch nicht antwortete, schleuderte er den Stein nach ihm, und er traf den Blinden mitten im Rücken. Aber noch immer kam kein Laut von ihm. »Vielleicht hat er doch getroffen«, sagte der Sehende und rief noch einmal dem Blinden zu: »Du da! sprich! wo nicht, trifft dich ein zweiter Stein mitten am Kopf.« Der Blinde antwortete nicht. Da warf er den Stein nach ihm und schraq! mitten am Schädel! Als sich vom Blinden noch immer kein Laut vernehmen liess, rief der Sehende: »Sieh, [bei?] Gott, der da die Wahrheit ist! Ich will noch diesen Stein werfen. Ich hoffe, dass er dich trifft.« Als er ihn warf, traf er den Kopf des Blinden, und er schrie auf. Da sagte der andere: »Da heult der Erzbetrüger: ...2, wenn du ein Blinder, wenn du nicht ein Sehender bist.« .....3 »Scher' dich weg, abscheulicher Blinder«, erwiderte der andere, »du bist blind, und willst einen Sehenden überlisten!« Da nahm der Sehende dem Blinden seine Börse weg, liess ihn da in der Wüste und ging nach Hause.

1

Im Texte: »Geschichte dreier Männer«. Dieses Stück ist leider an einigen Stellen unklar.

2

Hier dürfte eine kleine Lücke sein.

3

Hier dürfte eine kleine Lücke sein.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 186-187.
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