26. Die schöne Helena und das Heldenweib

[117] Am Meeresufer stand eine befestigte Stadt, deren Fürst ein gewisser Sane war, ein schöner, stattlicher Jüngling von scharfem Verstand und heldenhafter Kraft des Körpers. Als er volljährig wurde, beschlossen, die Alten der Stadt ihn zu verheiraten und teilten ihm ihren Entschluß mit. Sane hatte nichts dagegen, aber.., es fehlte an einer passenden Braut. Er befahl deshalb, sein Pferd zu satteln, warf sich in seine Rüstung und begab sich in die Nachbarreiche, um sich eine Braut zu suchen. Von einem Land ins andere kam er; in den Schlössern der Könige hielt er Umschau und in den strohbedachten Hütten der Bauern suchte er; er ließ durch andere Erkundigungen einziehen, aber umsonst, er fand die nicht, die er wollte. Schließlich fand er in einem weitentfernten Land in einem Schloß, wo er zu Gast war, ein Mädchen, so schön, wie es nirgends eine gab. Sie hieß Helena. Kaum hatte er sie gesehen, als sein Herz in Liebe zu ihr entbrannte. Er frug sie, ob sie seine Frau werden wolle, und sie willigte ein. Nach der Hochzeit führte er seine junge Frau in seine Heimat. Als sie angekommen waren, lud Sane seine Freunde und Verwandten zu einem großen Feste ein.[117] Ein Tag um den andern verging in Festlichkeiten. Das Ehepaar merkte es gar nicht, daß darüber zwei Wochen dahingingen. Nun herrschte in jenem Lande der Brauch, daß jeder junge Ehemann nach vierzehn Tagen seine Frau auf ein ganzes Jahr verlassen und auf Reisen in fremde Länder gehen mußte25.

Auch Sane mußte sich dieser Sitte fügen, so schwer es ihn auch ankam.

Einen Monat, vielleicht zwei Monate nach seiner Abreise kam in Sanes Stadt ein Kaufmann aus Schahar26, das in der Nähe des jetzigen Stambul liegt, an. Er war von ungewöhnlicher Schönheit. Er lud Waren aus, wie man in Sanes Heimat noch keine gesehen hatte: Seide, wertvolle Gefäße, farbige Steine. Als er alles ausgeladen hatte, erkundigte er sich, wo er sich einrichten könne. Man wies ihn ans Haus des Fürsten. Er ging hin und ließ sich bei der Fürstin anmelden. Diese erlaubte ihm, in ihrem Hause als Gast zu bleiben. »Der Fürst ist zwar nicht zu Hause, aber sein Haus steht da und sein Tor ist jedem Gaste offen; er möge kommen«, ließ sie ihm sagen. Der Kaufmann brachte seine Waren her, stellte sie zum Verkauf aus und von allen Seiten strömte das Volk herzu, um die Kostbarkeiten zu bewundern. In der ganzen Stadt sprach man nur mehr von dem schönen Kaufmann und seinen seltenen Schätzen. Die Fürstin selbst konnte der Höflichkeit und Schönheit ihres Gastes gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Sie lud ihn in ihre Gemächer ein, frug ihn über fremde Länder aus und fand Vergnügen an seiner Unterhaltung.

Seinerseits empfand der Kaufmann eine starke Neigung zu der einsamen Frau; er verbrachte seine ganze freie Zeit bei ihr und es ist weiter nicht wunderlich, daß er sie durch seine Schönheit und einschmeichelnde Rede[118] ganz für sich einnahm. Immer näher kamen sich die beiden und schließlich kam es zum Ehebruch. Schon war ein halbes Jahr verflossen, seit der fremde Gast im Hause des Fürsten weilte, ohne daß die beiden Verliebten es bemerkten, und schon nahte allmählich der Tag, an dem der Fürst zurückkommen mußte. Mit Angst und Bangen erwarteten sie diesen Zeitpunkt, der Kaufmann versicherte Helenen, daß er ohne sie nicht leben könne und diese teilte seine Gefühle. Vergebens dachten sie darüber nach, wie sie es anstellen könnten, um sich nicht trennen zu müssen .... es fiel ihnen nichts ein. Aber was sie nicht fertigbrachten, das konnte eine der Dienerinnen der Fürstin. Einmal war sie eben damit beschäftigt, das Bett des Gastes zu machen, als dieser, der früher immer so fröhlich gewesen war, jetzt aber in tiefe Gedanken versunken schien, statt wie sonst ein Gespräch mit ihr anzufangen, schweigend dabeistand.

»Was ist dir, lieber Gast,« fragte die Dienerin, »warum bist du so traurig und läßt den Kopf hangen?«

»Du weißt es ja, warum,« antwortete der Kaufmann, »du weißt, wie sehr ich die Fürstin liebe, ohne sie kann ich nicht leben. Hilf mir!« Die Dienerin dachte eine Zeitlang nach und sagte dann ängstlich: »Wie soll ich dir helfen und was wird aus mir, wenn der Fürst zurückkommt?«

»Hilf mir, Liebe! Ich gebe dir alles, was ich habe, Edelsteine und kostbare Gewebe.«

»Was nützen mir deine Schätze, wenn mich der Fürst tötet?«

»Ich werde es so machen, daß niemand davon weiß, daß ich dich reich gemacht habe, ich lasse auf dem Hof eine Grube graben und lege alles dahinein, was du bekommen sollst, und von der Grube lasse ich einen geheimen Gang in dein Zimmer machen. Niemand kann dich dann im Verdacht haben.«

Die Dienerin gab nach und versprach ihm zu helfen, wenn er die Fürstin entführen würde. Sie machten aus,[119] der Kaufmann solle in einem Boot warten, an einer bestimmten Stelle, da, wo das Ufer des Meeres mit dichten Büschen bestanden ist; dorthin würde sie dann die Fürstin zum Baden führen, er solle dann zufällig dahergefahren kommen und diese zu einer Spazierfahrt einladen, das übrige aber sei dann seine Sache ...

Am ausgemachten Tage ging die Fürstin mit ihrer Dienerin ans Meeresufer, entkleidete sich und stieg ins Wasser. Da sie von der Abmachung der beiden nichts wußte, ergab sie sich sorglos dem Genüsse des Bades, als plötzlich ihr Geliebter in seinem kleinen Boote neben ihr auftauchte. Die Fürstin war furchtbar erschrocken und wollte ans Ufer eilen, er aber fesselte sie mit schmeichelnden Worten an die Stelle: »Komm, liebe Helena, wir wollen im Schatten des Uferwaldes dahinfahren.«

Sie war des zufrieden und setzte sich ins Boot, das aber mit Windeseile nicht dem Uferwald, sondern dem unter Segel stehenden Schiffe des Kaufmanns zueilte. Jetzt erst verstand sie die Absichten ihres Geliebten, aber nur kurze Zeit schwankte ihr Herz zwischen ihrer Heimat, ihren Angehörigen und ihrem Geliebten, dann warf sie sich in seine Arme.

Die Dienerin sah all dem zu; da sie aber mit dem Kaufmann alles verabredet hatte, hütete sie sich wohl, um Hilfe zu rufen. Sie ging nach Hause und sperrte sich in dem Zimmer der Fürstin ein. Auf die Frage, wie es dieser gehe, antwortete sie, die Fürstin sei unwohl und könne ihre Gemächer nicht verlassen; alles Essen, was man für die Fürstin schickte, aß sie selbst auf. Auf diese Weise gelang es ihr, drei Tage die Entführung ihrer Herrin zu verheimlichen. Am vierten aber erhob sie ein fürchterliches Geschrei, rang die Hände, schlug sich auf die Brust und rief, ihre Herrin sei verschwunden, ob sie nicht vielleicht mit dem Fremden entflohen sei. Jetzt erst errieten alle, daß die Fürstin in der Tat fort war. Viele hatten zwar die Abfahrt des Schiffes gesehen, aber niemand hatte[120] besonders darauf geachtet, denn es war ja ein alltägliches Ereignis, daß Schiffe ankamen und abfuhren.

Alles war in furchtbarer Erregung, denn binnen kurzem mußte der Fürst nach Hause kommen und was sollte man ihm dann berichten. Zuerst wollte niemand glauben, daß ihre stolze Fürstin mit einem Fremden geflohen war, und man dachte eher, sie habe sich verirrt. Man suchte überall, auf dem Lande und auf dem Meere, aber vergebens. Nach langem Suchen erst begriffen alle den Grund des Verschwindens der Fürstin.

Endlich brach der längst erwartete Tag an, an dem Sane zurückkehren sollte. Zu seinem Empfange versammelten sich seine Getreuen; sie führten ihn in den Gastraum und labten ihn mit Speise und Trank. Aber Sane hatte gleich bemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war, denn statt der Freudenrufe und fröhlichen Gesichter, die er erwartete, sah er nur niedergeschlagene, traurige Mienen. Ihm ahnte Böses, aber der Brauch verbot ihm, zuallererst die Gemächer der Fürstin aufzusuchen, wohin es ihn doch mit aller Kraft zog. Erst bei Sonnenuntergang befahl er seinen Leuten, ihn zu seiner Gemahlin zu führen, aber niemand rührte sich. Sane wiederholte seinen Befehl und ... erfuhr von dem Vorgefallenen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf ihn die Nachricht, und ohne erst in sein verödetes Haus zurückzukehren, beschloß er, sich gleich auf die Suche nach der Verlorenen zu machen.

Alle Winkel seines Landes durchsuchte er, aber umsonst. Schon wollte er nach Hause zurückkehren, als er sich daran erinnerte, daß in der Nachbarschaft der Atalyk27 seines Vaters lebte. Diesen suchte er auf und fand einen hochbetagten Greis, der ihn sofort erkannte, ehrfurchtsvoll grüßte und bewirtete. Im Laufe des Gesprächs[121] bemerkte Sane, daß der Greis bereits vom Verschwinden, Helenas wußte und so beschloß er, ihm gleich von seinen nutzlosen Nachforschungen zu erzählen.

»Das war ganz vergebens, Pschy (Fürst),« sagte der Greis, »man hält dich doch für einen klugen Menschen, aber dein Verstand scheint nicht so groß zu sein wie deine Tapferkeit. Warum suchst du deine Frau in deinem eigenen Lande? Da konnte sie sich doch nicht verstecken? Verliere deine Zeit nicht und suche jenseits des Meeres! Horch überall hin; je schöner ein Weib ist, desto mehr spricht man von ihr. Such' ein Jahr, zwei Jahre; du wirst sie schon finden!«

Sane verstand, kehrte nach Hause zurück und traf seine Vorbereitungen, um Helena, wenn es sein müßte, vom Meeresgrund heraufzuholen.

Er rüstete ein Schiff aus und segelte ab. Nach einer langen Fahrt zeigten sich in der Ferne Berge. Schon freute sich Sane im voraus der Auskünfte, die er in diesem unbekannten Land erhalten würde, als er ein Schiff erblickte, das dem seinen entgegenfuhr. Und auf dem Deck dieses Schiffes stand ein Jüngling, der sah aus wie ein schönes Mädchen; aber er hatte einen Panzer an, einen Köcher auf der Schulter, einen Bogen in der Hand und ein Schwert an der Seite; auf seinem Haupte glänzte ein stählerner Helm. Auch Sane stand so ausgerüstet auf dem Deck seines Schiffes; auf seiner Brust glänzte das Abzeichen des Fürsten. Als der schöne Jüngling an diesem Zeichen erkannte, daß ein Fürst sich auf dem Schiffe befand, bestieg er rasch einen Kahn und war mit ein paar Ruderschlägen an Sanes Schiff. Nach gegenseitiger Begrüßung frug der Jüngling den Fürsten, wohin er wolle. Dieser antwortete, er fahre aufs Gerate wohl in der Welt umher. »Wenn dem so ist, warum hast du denn keinen Freund, o Fürst, der die Gefahren der Reise mit dir teilt und mit dem du die Zeit im Gespräch verkürzen kannst? Wenn du willst, will ich dein Freund sein«, schlug ihm der schöne Jüngling vor.[122]

Sane willigte mit Freuden ein. Zuerst aber fuhr er mit seinem neuen Freunde ans Land. Das erste, was sie dort sahen, waren die Mauern einer Stadt. Sie beschlossen, sofort hineinzugehen und konnten ungehindert die Tore durchschreiten. Dann bogen sie in die erste Querstraße links ein, wo sie ins zweite Haus eintraten. Dort erzählte der Fürst seinem neuen Gefährten von den Zielen seiner Fahrt, wie ihm seine Frau geraubt worden sei und wie er durch beständiges Suchen und Fragen sie wiederzufinden hoffe.

»Auf diese Weise wirst du sie nicht finden!« sagte der Freund. »Es ist besser, du verkleidest dich als Bettler, da kommst du überall hinein, wo man sonst nicht hinein darf; niemand schämt sich vor dir und du erfährst Dinge, die ein anderer nie erfährt.«

Der Rat schien dem Fürsten gut und er beschloß, ihn sogleich zu befolgen. Sein Freund besorgte ihm einen Bettelsack, ein zerlumptes Gewand und einen Wanderstab, und bald verwandelte sich der stattliche Fürst in einen buckligen Bettler. Sofort machte er sich auf den Weg, drang in die Paläste der Großen und in die Hütten der Armen, schnüffelte überall umher, aber es war alles umsonst. Ganz verzweifelt kehrte er zu seinem Freund zurück und erzählte ihm von seinen vergeblichen Nachforschungen.

»Warst du auch in dem reichen Hause hier gleich daneben?« fragte der Freund. Nein, da war er nicht gewesen. Aber dem war abzuhelfen. Sofort ging er hinüber, wurde vom Torwächter durchgelassen und bettelte ein Zimmer nach dem andern ab. Überall bekam er reichlich. Im zweiten Stock fand er in einem besonderen Raum die Herrin des Hauses, die auf einem Ruhebette lag und ... es war Helena. Auch sie erkannte ihn sofort. Doch keine Freude blitzte aus ihren Augen, sondern heller Zorn; mit keifender Stimme befahl sie ihren Leuten, den frechen Bettler hinauszuwerfen und schmiß ihm selbst einen Besen nach.[123]

»Was soll ich jetzt tun?« frag er seinen Freund, als er ihm alles genau erzählt hatte. »Rate mir, vielleicht findest du ein anderes Mittel.«

»Wirf das Zeug weg, das du anhast, jetzt gilt es mit dem Schwerte deine Helena wiederzuerlangen«, gab dieser zur Antwort.


Das war Sane ganz nach dem Herzen. Schneller als er sich in einen Bettler verwandelt hatte, stand er wieder als junger, kriegerischer Fürst da.

»So, nun wollen wir keine Zeit verlieren,« sagte der Freund, »hol' du dir deine Frau, ich werde die Wache bemeistern und deinen Rückzug decken. Gleich, heute noch muß es geschehen.«

Mit Ungestüm drangen sie in das Nachbarhaus ein. Die Wache wagte keinen Widerstand. Sane stürmte die Treppe hinauf, schlug die ihm sich widersetzenden Krieger nieder, warf drei davon die Treppe hinunter, packte die in Ohnmacht gefallene Helena und trug sie hinunter. Aber unten hatte sich viel Volk versammelt, denn die Nachricht von dem kühnen Überfall hatte sich blitzschnell durch die Stadt verbreitet. Doch verloren Sane und sein Freund die Geistesgegenwart flicht. Sane schlug sich durch die Menge und sein Freund deckte ihm den Rücken. Langsam fochten sie sich durch die Hunderte von Feinden zum Meeresufer, wo ihr Schiff sie erwartete. Sie erreichten es glücklich und lichteten sofort den Anker. Der Wind war günstig und trug das Schiff schnell davon. Von Deck aus aber sandten die beiden einen tödlichen Pfeil nach dem andern in die dichte Menge der Feinde am Ufer.


Nun segelte Sane mit seiner in blutigem Kampf zurückeroberten Gattin und seinem Freunde der Heimat zu. Als diese in Sicht kam, sagte Sane zu seinem Freunde: »Da ist schon das Ufer. Ich hoffe, du wirst mein Gast sein, damit ich dir für deine Dienste danken kann.«[124]

»Nein, ich kann nicht,« erwiderte dieser, »wichtige Geschäfte rufen mich nach Hause zurück. Danken kannst du mir nur dadurch, daß du deine Beute mit mir teilst.«

»Warum teilen? Nimm sie dir ganz; ich werde ja doch nicht mit ihr leben können.«

»Nein, wir müssen sie teilen.« Sprach's und spaltete sie mit dem Säbel in zwei Hälften; Kopf und Brust fielen auf die eine Seite, der übrige Körper auf die andere.

Im ersten Augenblick war Sane wie versteinert vor Schrecken, einen solchen Ausgang hatte er nicht erwartet. Und trotzdem tat ihm die Tote, die seine geliebte Frau einst gewesen, nicht leid, so sehr hatte ihr Verrat seinen Stolz beleidigt.

»Ich nehme ihren Kopf«, sagte er, »und zeige ihn meinen Leuten. Alle sollen wissen, daß ich nicht mit leeren Händen zurückgekommen bin, und daß Untreue den verdienten Lohn gefunden hat!«

Der Freund aber hob den toten Körper auf und warf ihn ins Meer. Dann stieg er auf sein Schiff und verabschiedete sich von Sane: »Leb wohl! Du hast zwar deine Frau verloren, aber sie wäre dir doch nicht treu geblieben. Wisse zu deinem Trost, daß die sieben Brüder Baraghun eine Schwester haben; die soll dir Lebensgefährtin sein!«


Nach Hause zurückgekehrt, erzählte Sane von dem Vorgefallenen und befahl, dem Volke Helenas Kopf zu zeigen. Dann beschloß er die Brüder Baraghun aufzusuchen. Überall suchte er auf dem Festlande, überall vergebens. Überzeugt, daß sie da nicht zu finden wären, setzte er sich aufs Schiff und suchte die Meere nach ihnen ab. Kreuz und quer durchsegelte er das Schwarze Meer, dann das Mittelländische. Dort fand er eine große Insel, wo er landete und nach den Brüdern Baraghun forschte. Wirklich lebten diese auf dieser Insel. Sane bestieg ein Pferd und ritt zur nächsten Stadt. Als er durch das Tor kam, frug er den ersten besten nach den Gesuchten. Der wies[125] ihn an das Schloß. Er ritt sogleich hin, klopfte und wurde eingelassen. Die Brüder Baraghun nahmen ihn freundlich auf, obwohl sie nicht wußten, wer er war und was er wollte, aber an dem Abzeichen auf seiner Brust erkannten sie einen Fürsten.

Nach dem Abendessen brachte man ihn zu Bette. Am folgenden Morgen stellten sich ihm die sieben Brüder feierlich vor und frugen ihn, wie es Brauch und Sitte in ihrem Lande war, nach seinem Begehr. Sane nannte seinen Namen und gab Aufschluß über den Zweck seiner Reise. Traurig ließen da die sechs ältesten Brüder ihre Köpfe hängen, nur der jüngste blickte Sane lustig ins Gesicht und frug nach einigen Augenblicken seine Brüder, warum sie schwiegen, der Gast warte doch auf Antwort. Dann sagte der älteste: »Unsere Schwester ist stark wie ein Recke; sie ist nicht nur stolz, sondern auch grausam. Keiner von uns wird sich getrauen, sie von deiner Werbung zu benachrichtigen; ja keiner von uns wagt es, die Schwelle ihres Gemaches zu überschreiten.« Da rief der Jüngste: »Möge ich umkommen, aber ich bin bereit, mich für unsern teuren Gast zu opfern. Ich will ihr gleich von deinem Anliegen melden!« Sprach's und ging, seine Schwester aufzusuchen; Sane aber rief ihm nach: »Sag deiner Schwester nur, ich möchte sie sehen, um ihr persönlich meine Bitte vorzutragen.«

Der Jüngste trat keck ins Zimmer seiner Schwester und sagte: »Seit gestern Abend ist Fürst Sane unser Gast; er wünscht dich zu sehen. Welche Antwort soll ich ihm überbringen?«

»Er möge kommen«, antwortete sie. Ungemein erfreut flog der Bote zu Sane zurück und mit vor Freude glänzendem Gesicht überbrachte er die Botschaft. Auch die andern Brüder freuten sich darüber, daß ihre Schwester sanftmütiger geworden war.

Sane folgte der Einladung sofort. Als er unter der Tür stand, erhob sich die Schwester, die sonst niemandem je[126] eine solche Ehre erwiesen hatte und zu der sich niemand hineintraute, von ihrem Ruhebette und streckte dem Gast sogar die Hand entgegen. Dann faßte sich Sane ein Herz und sagte:

»Fürstin, ich habe von deiner Schönheit gehört und komme, um dir mein Herz und meine Hand anzubieten. Willst du mein Weib werden?«

Ohne ein Wort zu sagen, wandte sich die Fürstin ab. Sane wiederholte seine Werbung; sie wandte sich noch mehr ab von ihm. Erst nachdem er ein drittes Mal seine Bitte wiederholt hatte, sagte sie: »Ich bin mit allem einverstanden.«

Außer sich vor Freude ging Sane eilends zu den Brüdern zurück. Als diese von der Einwilligung der Fürstin erfuhren, befahlen sie, sogleich dem ganzen Volke die frohe Botschaft kundzugeben.


Der Hochzeitstag wurde festgesetzt. Jeder der sieben Baraghun ließ dafür einen Ochsen, eine Kuh und einen Hammel schlachten. Es war eine Riesenhochzeit; so viel Volk war da, daß es gar nicht zu übersehen war. Ein Barde kam, nahm sein Instrument zur Hand und sang Lieder vom alten Ruhm des Volkes. Dann aber fuhr er über die Saiten und stimmte ein anderes Lied an; davon sang er, wie ein Kaufmann aus den Ländern jenseits der See in die Gemächer eines Fürsten eingedrungen war und dessen Frau entführt hatte.

Sane erriet sofort, von wem da die Rede war; aber die Baraghun und der Sänger selbst wußten nicht, daß sich dieses Lied auf ihn bezog. Traurig ließ er den Kopf hängen und dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. Als die Schwäger Sanes das bemerkten, befahlen sie dem Sänger, ein anderes Lied zu singen.

Von neuem griff der in die Saiten und sang davon, wieviel Blut wegen Helena geflossen sei, als der verratene Ehemann sie sich im Kampfe zurückholte.[127]

Noch, tiefer ließ Sane den Kopf hängen, noch, schwerer wurde ihm zumute, als er sah, daß sein Schicksal schon im Munde der Leute war.

Als die Baraghun sahen, daß auch dieses Lied ihrem Schwager weh tat, schlugen sie vor, sich nach Landesbrauch mit Wettkämpfen und Spielen zu unterhalten. Alles drängte aus der Halle auf den Hof. Die Jugend ergötzte sieh mit Spielen und maß ihre Kräfte in Ringkämpfen und andern Übungen. Dann fingen sie an, mit Pfeil und Bogen nach der Scheibe zu schießen, schließlich wetteiferten sie im Steinwerfen. Sane sah alle dem schweigend zu, nahm aber nicht Teil daran. Das mißfiel den Gästen und sie wandten sich an ihn mit der Frage, warum er denn nicht mittue. Einer reichte ihm sogar einen Stein und forderte ihn auf, seine Kraft und Geschicklichkeit zu zeigen.

»Dem allgemeinen Wunsch will ich mich nicht entziehen«, sagte Sane. »Ich will's probieren.«

Sprach's, hob den schweren Stein und warf ihn dreimal weiter als irgendeiner. Alle wunderten sich und versicherten, daß sie das nicht fertig brächten, wenn sie sich auch hundert Jahre üben würden.

Damit war die Hochzeit zu Ende. Als die Gäste auseinandergegangen waren, sprach man in der ganzen Stadt bald nur von Sanes Reckenkraft. Und als am Himmel die Sterne funkelten und es dunkel geworden war, führte man Sane ins Brautgemach.


Tiefe Nacht war es schon, aber Sane konnte nicht einschlafen. Er bemerkte in seiner jungen Frau eine sonderbare Unruhe. Um der Ursache davon auf den Grund zu kommen, tat er, als ob er schliefe. Da erhob sie sich, schritt in den Saal, der neben dem Schlafzimmer lag, öffnete eine Truhe, entnahm dieser eine volle Rüstung und legte sie an. Dann stieg sie in den Hof hinunter, zog ihr Pferd aus dem Stall, sattelte es, bestieg es und flog wie ein Pfeil durch das offene Tor ins Freie.[128]

Sane sprang auf, zog sich an, gürtete sich seine Waffen um, holte sein Pferd und jagte seiner Frau nach. Da es sehr dunkel war, bemerkte diese nicht, daß ihr jemand nachgaloppierte. Bald kamen sie beide zu einer tiefen Schlucht, wo eine größere Anzahl Bewaffneter versammelt war. Sane mischte sich unter sie, ohne bemerkt zu werden, und folgte mit gespannter Aufmerksamkeit dem, was da vorging. Die Leute hatten sich versammelt, um unter der Führung der Frau Sanes die benachbarte Stadt anzugreifen. Sollte das Unternehmen glücken, so wollten sie das geraubte Gut auf ihre Pferde laden und zurückgehen, während ihre Führerin die Verfolgung aufzuhalten hatte.

So geschah es denn auch. Zur festgesetzten Zeit drangen sie in die Stadt, mordeten mitleidslos die schlafenden Einwohner, raubten, was ihnen kostbar schien und beluden ihre Pferde damit. Die Einwohner der Stadt, die völlig unvorbereitet überfallen worden waren, verloren zuerst den Kopf, sammelten sich dann aber doch und griffen die Räuber an. Sanes Frau warf sich ihnen entgegen; er selbst aber bemerkte bald mit Schrecken, daß ihre Kraft nachließ. Er eilte ihr zu Hilfe und sie vollbrachten zu zweit Wunder der Tapferkeit. Als sie sah, daß ihr ein Recke beistand, der noch stärker war als sie selbst, wunderte sie sich über seine Riesenkraft und seinen Heldenmut. Plötzlich bemerkte sie, daß die Hand des Unbekannten blutete; ein Pfeil hatte ihn getroffen. Schnell eilte sie zu ihm und verband ihm die Wunde mit ihrem seidenen Tuch. Der Kampf näherte sich aber jetzt seinem Ende; die Feinde zogen sich zurück und die Angreifer machten sich mit reicher Beute auf den Heimweg.


Die Räuber waren noch am Verteilen der Beute, als Sane auf sein Pferd sprang und verschwand. Seine Frau suchte mit den Augen ihren Retter, konnte ihn aber nirgends erblicken. Dann warf sie sich gleichfalls aufs Pferd[129] und ritt in der Richtung auf ihr Schloß davon. Vor Sonnenaufgang kam sie noch nach Hause und legte sich ins Bett an die Seite ihres Mannes. Da bemerkte sie, daß seine Hand mit einem Seidentuch verbunden war. Als sie näher zusah, erkannte sie es und erriet, wer ihr Retter war. Ihr Erstaunen verwandelte sich rasch in Leidenschaft, sie warf sich an die Brust ihres Mannes und sagte: »Wisse, daß ich bis jetzt andern Frauen nicht glich. Nachts ritt ich immer heimlich weg und nahm Teil an Überfällen. Ganze Wochen und Monate war ich von Hause weg und führte an verschiedenen Orten Heldentaten aus. Einmal traf ich, als Mann verkleidet, auf offenem Meere einen Ritter, der seine Frau suchte, und ich half ihm dabei. Als wir sie mit bewaffneter Hand zurückgenommen hatten, zerhieb ich die Treulose mit meinem Säbel und warf ihren Körper ins Meer ...«

Jetzt war die Reihe, sich zu verwundern, an Sane: er erkannte den Freund und Helfer von damals wieder in den Zügen seiner Frau. Er wollte sich ihr in die Arme werfen, sie aber schob ihn zurück und sagte: »Bis jetzt war ich ein Heldenweib; jetzt aber habe ich einen Helden gefunden, der stärker ist als ich. Ich ergebe mich ihm, entsage meinen Gewohnheiten und nehme die Pflichten eines Weibes auf mich. Ich will ein schwaches Weib sein in Zukunft; das wird besser sein für dich und für mich.«

Als diese Umwandlung in ihrem Wesen bekannt wurde, freuten sich alle, ihre sieben Brüder nicht weniger als das ganze Volk. Alles eilte, Sane und seine unvergleichliche Frau zu beglückwünschen. In Festen und Schmausereien vergingen einige Tage, dann aber begab sich das junge Paar mit reichen Geschenken versehen in Sanes Heimat.

25

Der Brauch besteht auch bei gewissen Kaukasiern, u.a. bei den Tscherkessen. Es ist üblich, daß der jungverheiratete Ehemann bis zur Geburt des ersten Sohnes oder jedenfalls in der ersten Zeit der Ehe seine Frau nur heimlich besucht.

26

Schahar, persisch, = die Stadt.

27

= Erzieher. Es war bei Tscherkessen, Abchasen und andern kaukasischen Stammen üblich, Kinder nicht zu Hause zu erziehen, sondern andern zur Erziehung zu übergeben. Zwischen Zögling und Erzieher entwickelte sich natürlich ein dauerndes Verhältnis von Freundschaft, Vertrauen und gegenseitiger Hilfsbereitschaft.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 117-130.
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