66. Urýsmäg und der Einäugige Riese

[251] Urýsmäg kam einst von einer seiner Wanderfahrten zurück und fand die Narten in recht trüber Stimmung beieinandersitzend. Kaum, daß sie ihm für seinen Gruß dankten. »Was ist denn mit denen los?« frug Urýsmäg Satanen. »Ach, auf ihren Magen hören sie zu viel«, antwortete sie. »Ho, ho! Narten, ihr seht ja aus, als ob jeder von euch das begraben hätte, was ihm am liebsten ist,« rief Urýsmäg den Narten zu. »Also, wer ein Mann sein will, der macht sich auf; der alte Urýsmäg führt uns, vielleicht erwischen wir doch etwas«, beschlossen sie. Die besten unter ihnen machten sich auch wirklich mit Urýsmäg auf den Weg. Lange, lange wanderten sie, bis sie kaum mehr konnten vor Müdigkeit und Hunger. Plötzlich erblickte Urýsmäg am Fuße eines Berges einen Hirten von ungewöhnlicher Größe, der eine Schafherde hütete.

»Na, ihr Jungen, wer von euch holt uns einen fetten Hammel zum Abendessen?« frug Urýsmäg, und da keiner Lust hatte, beschloß er selber die Sache anzugehen. Wie ein Pfeil galoppierte er auf den Hirten zu, sprang vom Pferd und holte sich den besten Hammel, so groß wie ein ordentlicher Ochse, aus der Herde. Aber er konnte das Tier nicht halten; das zog ihn mit sich und Urýsmäg geriet in die Hände des einäugigen Riesen. »Ach, du mein herziger Bodsól,« sagte dieser zu dem Hammel, »da hast du mir ja einen recht netten Braten gebracht, ich danke dir.« Sprach's, packte Urýsmäg und steckte ihn in seine Hirtentasche. Hungrig war Urýsmäg ja und darum machte er sich gleich an den Proviant des Hirten. »Was rührst du dich denn,« rief ihm dieser zu, »bleib' ruhig sitzen, wenn ich andrücke, zerbreche ich dir ja doch alle Rippen!«

Inzwischen näherte sich die Sonne dem Horizonte und der Hirte trieb seine Herde nach Haus, d.h. in eine Höhle,[252] deren Eingang er mit einem großen Felsstück verschloß. So dicht paßte der Fels zu der Öffnung, daß kein Sonnenstrahl mehr eindringen konnte.

»Bring' den Bratspieß,« befahl der Riese seinem Sohne, »ich will ein schmackhaftes Stück braten, das mir Bodsól heute hergeschleppt hat.« Als der Sohn das Verlangte gebracht hatte, packte der Riese Urýsmäg, steckte ihn an den Spieß, den er ans Feuer stellte und legte sich dann zum Schlafen nieder. Zufällig aber war der Spieß nicht durch Urýsmäg selbst gegangen, sondern zwischen dem Körper und den Kleidern, darum konnte er, Urýsmäg, als der Riese zu schnarchen angefangen hatte, sich losmachen. Er steckte den Bratspieß ins Feuer, bis er glühte und stieß ihn dann dem Riesen ins gesunde Auge. Fürchterlich brüllte der Geblendete, und drohte Urýsmäg, er werde ihn, trotzdem er nun blind sei, doch erwischen. Urýsmäg erschlug auch seinen Sohn. Aus Wut und Bosheit biß sich der Riese in die Finger, aber das nützte ihm gar nichts. Am Morgen fingen die Schafe zu blöken an, weil sie hungrig waren und auf die Weide wollten. »Warte nur,« sagte der Riese zu Urýsmäg, »du kommst mir doch nicht raus.« Dann wälzte er den Stein vom Eingang weg, setzte sich davor und ließ die Tiere einzeln heraus. In der Herde war aber ein großer, weißer Ziegenbock mit langen Hörnern, der Liebling des Riesen. Diesen Bock schlachtete Urýsmäg, zog sich das Fell über und ging auf allen Vieren zum Ausgang. »Bist du's, Gurtschi,« sagte der Riese, als er ihn abtastete, »geh' nur, mein gescheites Tier, und hüte mir die Schafe gut und führ' sie mir abends zurück; ich muß dableiben und den frechen Kerl bestrafen, der mich geblendet hat. Jetzt geh nur, geh!« Damit streichelte er ihm den Rücken und ließ ihn hinaus.

Draußen wartete Urýsmäg, bis die ganze Herde aus der Höhle war. Dann rief er dem Riesen zu: »Du, da bin ich, du blinder Esel!« Der Riese verreckte fast vor Ärger und Wut; Urýsmäg aber trieb die Herde den Narten zu,[253] schlachtete etliche Hammel und bewirtete seine Gefährten. Was von der Herde übrig blieb, trieben die Narten zu sich nach Hause, wo sie sich darein teilten. »Nein,« sagte einer von den Narten, »so geht es nicht, Urýsmäg muß noch ein Teil bekommen, wir wären ja Hungers gestorben, wenn der Weißbart uns nicht geführt hätte.« Da niemand etwas einzuwenden hatte, gab jeder von seinem Anteil noch etwas an Urýsmäg ab. Und jetzt sahen sie gar nicht mehr so trübselig aus wie früher.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 251-254.
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