XXII. Erzählung.
Der König mit den Eselsohren.

[46] Darauf benahm er sich in Bezug auf die Art und Weise des Weges wieder wie die früheren Male, gelangte in den kühlen Todtenhain, um Siddhi-K ýr zu holen, und trat mit ihm auf dem Rücken die Wanderung an. Abermals erzählte Siddhi-K ýr folgende Geschichte.

Wieder einmal früh vor Zeiten lebte in Schwarz-China an Indiens Ostseite ein König Namens Daibang (Tai-ping = Ruhe, Glück), der einen Sohn hatte. Dieser Sohn zeigte sich, seitdem er den königlichen Thron bestiegen hatte, den Leuten auch nicht ein einziges Mal. Jeden Tag liess er aus dem Volke einen schönen Jüngling holen, und nachdem er sich von ihm seine Haare hatte kämmen lassen, pflegte er ihn zu tödten. Nachdem er Jahre lang auf diese Weise die Jünglinge hatte tödten lassen, fand sich einmal bei Gelegenheit eines solchen Tages der einzige Sohn einer alten Frau. Als nun die Reihe das Haar des Königs zu kämmen an diesen Jüngling kam, ward die Mutter bei dem Gedanken an die Tödtung des Sohnes gar schwermüthig; sie zog ihrem[46] Sohne ein neues Gewand an, knetete Mehl mit der Milch ihrer Brust zu einem Teig und machte Brotkügelchen daraus, welche sie ihm in den Busen steckend mit folgender Weisung mitgab: »Bei deinem Kämmen der Haare des Königs mache es so, dass du in einem fort davon essend kämmest, dann dürfte er dich kaum tödten«.

Der Jüngling begab sich zum König, und als er ihm mit goldenem Kamme die Haare kämmte, da zeigte es sich, dass die Ohren des Königs Eselsohren gleich waren. Das war der Grund, warum der König die Jünglinge tödten liess, indem er besorgte, dass sie diesen Umstand unter die Leute bringen würden. Während er nun die Haare des Königs kämmte und dabei fortwährend seine Brotkügelchen ass, fragte der König: »Was isst du denn da?« »Reisbrötchen sind es«, sagte der Jüngling. »Gib mir auch davon«, bat ihn der König. Darauf hin reichte er dem König ein Brötchen. Als dieser es verzehrt hatte, sprach er: »Geruch und Geschmack sind sehr angenehm; was ist denn das für eine Mischung?« Der Jüngling erwiederte: »Meine Mutter hat es mit Milch der eigenen Brust geknetet und mir mitgegeben«. Da dachte der König: »Ihn zu tödten geht nicht an; wo in aller Welt wäre das möglich, da es ja, indem wir beide einer Mutter Milch getrunken haben, unnatürlich ist, das eigene Geschlecht zu tödten?« Zu dem Jüngling aber sprach er: »Ich will dich nicht tödten; aber dass ich Eselsohren habe, darfst du keinem andern Menschen sagen«. »Niemanden, o König«, sprach[47] der Jüngling, »werde ich es sagen«. »Nun, auch deiner Mutter sage es nicht; wenn du es jemanden verräthst, so werde ich dich tödten«. Also sprach er zu ihm.

Kein Mensch hatte davon erfahren. Der Jüngling kehrte nach Hause zurück. Die Jünglinge, die nach ihm dem Könige das Haar kämmten, liess dieser wie früher umbringen. Alle Leute priesen voll Verwunderung den Sohn der Alten glücklich. Jedermann fragte ihn: »Wie ist das doch zugegangen?« Allein weder seiner Mutter noch den andern sagte er auch nur das geringste.

Während er es nun durchaus niemanden verrieth, dass die Ohren des Königs grösser waren als die anderer Leute, fiel der Jüngling, weil er in seinem Innern stets daran dachte, in eine heftige, schwere Krankheit; weder Arzneimittel noch Opfergaben und was man auch sonst dergleichen Vorkehrungen traf, halfen etwas. Als er bereits dem Tode nahe war, rief man einen Arzt, und als dieser erschien, liess man ihn seinen Puls befühlen. Der Arzt sprach: »Bei dir ist keine andere Krankheit als ein Gemüthsleiden; bei diesem Leiden wird eine Arznei nichts helfen; wenn du das, was du auf deinem Herzen hast, über die Lippen brächtest und es einem Menschen anvertrautest, dann könntest du genesen«. Alle Anwesenden drangen in ihn: »Wenn du auch nur das geringste Geheimniss auf dem Herzen hast, so sprich es jetzt aus; wann willst du das, was du bei deinem Sterben nicht mittheilst, später offenbaren?« Doch der Jüngling betheuerte kein Geheimniss zu haben[48] und sagte nichts aus. Als aber später einmal bei einer Gelegenheit seine Mutter in ihn drang und ihn ausforschte, sprach er zu ihr: »Ich hätte allerdings ein Geheimniss; doch wenn ich es verrathe, so steht mir Bestrafung von Seiten des Königs in Aussicht«. »Wenn das der Fall ist«, versetzte die Mutter, »so geh in eine menschenleere Einöde und sprich es in eine Spalte der Erde oder in die Ritze eines Felsens oder eines Baumes, dann wirst du gesund«. Der Sohn gieng hin und traf auf die Höhle eines Eichhörnchens. Da rief er hinein: »Unser König hat Eselsohren!« und nachdem er das vielmal wiederholend gerufen, wurde er von dieser Zeit an gesund. Da aber das in dem Loche befindliche Eichhörnchen seine Worte gehört hatte und sie weiter verbreitete, so wurden sie, vom Winde fortgepflanzt, bis zu den Ohren des Königs getragen. In Folge dessen ordnete der König, weil er dachte, dass offenbar nur der Jüngling diese Worte gesprochen haben könne, einen Boten ab, und nachdem ihn dieser vor den König geführt hatte, sprach derselbe: »Ich hatte dir befohlen, es keinem Menschen zu sagen; da aber dein Verhängniss genaht ist, so hast du wohl jenes Geheimniss verrathen?« Auf diese Frage versetzte der Jüngling: »Ich selbst habe niemanden zu Hause auch nur das geringste gesagt«. »Du hast es augenscheinlich irgend einem Menschen gesagt«, sprach der König, »denn jene Worte von dir wurden mir zugetragen; hättest du sie nicht gesprochen, wie hätten sie von mir gehört werden können?« Da[49] antwortete der Jüngling: »Nach Hause zurückgekehrt, befiel mich eine schwere Krankheit; aber auf alle Fragen meiner sämmtlichen Verwandten, was das zu bedeuten habe, habe ich nichts verrathen. Doch als ich darauf dem Tode nahe war, rief man einen Arzt und liess ihn meinen Puls befühlen«, wobei er des Arztes Ausspruch ausführlich erzählte; »ausser dass ich es in die Höhle eines Eichhörnchens hineingesprochen«, fügte er hinzu, »habe ich es niemanden sonst mitgetheilt. Wenn nicht der Wind diese unglückseligen Worte verrathen, wer hätte sie sonst überbringen können?« Darauf sprach der König: »Sei dem wie immer, ich habe die Worte in der That, vom Winde fortgepflanzt, zugetragen erhalten; wozu soll ich ihn tödten?« und zu ihm sich wendend fuhr er fort: »Nun, weisst du vielleicht für diese meine Eselsohren irgend ein Täuschungsmittel?« Der Jüngling antwortete: »Wenn du, grossmächtiger König, auf meinen Vorschlag eingehen willst, so stünde mir wohl ein Mittel zu Gebote«. »Nenne mir nur, o Jüngling«, versetzte der König, »dein Mittel; ich will hören«. Und der Jüngling begann: »Grossmächtiger König! lass für dein Haupt eine Mütze verfertigen, und zwar lass eine die Ohren an beiden Seiten des Hauptes verhüllende Klappen-Mütze verfertigen und setze sie auf; allen andern, die in deine Nähe kommen, wird es dann als geziemend erscheinen, wenn auch sie ihrerseits in derselben Weise angethan vor dich treten«. Der König billigte diesen Vorschlag. Alle spendeten der Mütze, voll[50] Bewunderung sie betrachtend, ihren Beifall und allenthalben fand sie Anklang. Indem nun niemand wusste, dass die Ohren des Königs Eselsohren gleich seien, führte er die Mütze in die Mode ein, und unter dem Namen der Klappen-Mütze ward sie allgemein bekannt. Von nun an trugen die Würdenträger in der Umgebung Daibang-Chân's solche Mützen. Der Jüngling aber wurde zum Verwaltungs-Minister ernannt, und das Tödten der Leute von Seiten des Königs ward von da an eingestellt. Das ganze Volk erholte sich ausserordentlich und nahm zu an Wohlstand und Gedeihen.

Bei diesen Worten der Erzählung liess sich der auf glücklichem und gutem Pfade wandelnde Chân die Worte entschlüpfen: »Möchtest du so klug und weise werden wie der Sohn dieser Alten, durch den wegen der Ohren eines einzigen Königs so viele Menschen am Leben erhalten wurden!« Und Siddhi-K ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte entschlüpfen lassen!« und mit dem Ausrufe: »In der Welt bleibe ich nicht!« eilte er flugs durch die Lüfte davon.

Quelle:
Jülg, Bernhard: Mongolische Märchen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1868, S. 46-51.
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