12. Der Zwerghirsch und die Hochzeitsgäste

[49] Der Zwerghirsch begab sich nach Hause und kam unterwegs an eine Hütte, in der man alles für die am nächsten Tage stattfindende Hochzeit bereit gemacht hatte. Die müden Leute waren gerade dabei, zu Bett zu gehen.

Er wartete, bis sie schliefen, kletterte dann aufs Dach und ließ sich durch den Rauchfang nach unten. Auf den Schüsseln standen vielerlei leckere Sachen. Er fraß alles auf und verrichtete auf den leeren Schüsseln seine Notdurft. Dann ging er in die Küche; hier kehrte er allen Hausrat von unterst zu oberst. Unten machte er sich seine Pfoten schwarz, indem er sie mit Ruß bestrich, darauf suchte er nach dem Schlafgemach der Braut und trat hinein. Mit seinen schmutzigen Pfoten beschmierte er das Antlitz der Braut, die fest schlief. Und so beschmutzte er alles, was im Hause war und begab sich in das anstoßende Gemach neben der Braut und wollte die Frau wecken. Er setzte sich vorsichtig auf ihre Nase und ließ einen Wind streichen. Darauf rannte er nach oben auf den Dachfirst und nahm ein kleines Kissen mit.

Der Gestank drang der Frau in die Nase. Sie wachte auf und ging in die Kammer der Braut, die pechschwarz aussah. Ganz verstört rief sie alle Hausgenossen zusammen. Die erschraken nicht wenig, als sie das schwarze Antlitz der Braut erblickten, das vor kurzem noch so strahlend hell gewesen war.

[49] Es entstand ein gewaltiger Lärm. Jeder dachte, daß die Braut zum Gespenst geworden war.

Als sie die leckeren Speisen nachsahen, fanden sie nur noch Kot. Sie entsetzten sich von neuem. Dann gingen sie in die Küche, da war alles von unterst zu oberst gekehrt. Doch bemerkten sie auch in der überall herumgestreuten Herdasche die Fußspuren des Zwerghirsches.

Nun suchten sie nach ihm. Der saß ungestört und ungesehen oben. Als man das ganze Haus vergeblich nach ihm abgesucht hatte, erblickte man ihn zuguterletzt auf dem Dachfirste. »Ha,« schrien sie wie aus einem Munde, »da ist der Dieb, der uns das Fleisch und die anderen schönen Sachen aufgefressen hat. Morgen soll die Hochzeit sein – und kein Happen Fleisch ist mehr im Hause!« Und alle gingen zugleich auf ihn los.

Nun warf der Zwerghirsch das Kissen nach unten; sie hielten es für den Zwerghirsch, der heruntergefallen war. Alle machten sich darüber her und sahen dann, daß es nur ein Kissen war.

Der Zwerghirsch saß mittlerweile noch oben. Einige kletterten hinauf und kriegten ihn zu fassen. Wie sollte er nur fortkommen? Das ging nicht mehr; unten waren Leute und oben waren Leute.

Zur Strafe für seine Missetaten wollten sie ihn am nächsten Morgen schlachten.

Der Zwerghirsch wurde unter einen Hühnerkorb gesetzt und weinte die ganze Nacht.

Da kam zufällig ein Frosch in die Nähe des Hühnerkorbes; zu dem sagte der Zwerghirsch:

»Frosch, hilf du mir, ich weiß mir keinen Rat mehr.«

»Wie bist du denn da hineingeraten?« fragte der Frosch.

»Na, ich habe den Hochzeitskuchen aufgefressen, da haben sie mich erwischt, und morgen soll ich geschlachtet werden.«

Der Frosch riet ihm: »Morgen früh um sechs Uhr, wenn sie kommen und dich schlachten wollen, dann bleibe steif und langausgestreckt liegen. Und von jetzt ab laß deinen Speichel [50] aus dem Munde laufen, so daß er morgen stinkt. Dann glauben die Menschen, du bist tot und werfen dich in den Busch.«

Am andern Tag kamen die Leute mit Messern und Seilen, um dem Zwerghirsch den Garaus zu machen. Als sie bei ihm waren, sagten sie:

»O seht! Der Zwerghirsch schläft: der Kopf liegt so, die Pfoten so! O, so schläft also ein Zwerghirsch; zum ersten Male sehe ich einen Zwerghirsch so schlafen.«

Sie faßten ihn an.

»Der ist tot; der ist schon steif.«

»Ach was, der ist nicht tot, der schläft nur.«

Darauf kehrten sie ihn um, beguckten, betasteten ihn: der Zwerghirsch blieb so steif wie ein Stück Holz.

»Also ist er doch tot! Wäre er nur lebendig, würde er sich krümmen und versuchen, zu entwischen. Auch ist er ganz steif und stinkt bereits.«

Zum Schlusse war jeder davon überzeugt, daß er tot war.

»Ja,« sagten sie, »wenn er nun einmal tot ist, nützt er uns nichts mehr. Es geht nicht gut, daß wir ihn schlachten und den Gästen Fleisch von einem toten Tier vorsetzen. Aufbewahren hat auch keinen Zweck. Es ist besser, wir werfen ihn, wo er nun schon tot ist, einfach in den Busch.«

Darauf hob man ihn hoch und warf ihn fort. Doch er sprang schnell auf die Beine, lachte alle laut aus und lief in den Busch.

Als die Leute dies sahen und hörten, stand ihnen der Verstand still. Wie war es nur möglich gewesen, daß der Zwerghirsch, der doch unbedingt tot gewesen war, plötzlich wieder lebendig geworden war. Sie gingen nach Hause und erzählten die ganze Geschichte den Zurückgebliebenen.

Inzwischen hatte der Bräutigam erfahren, daß seine Braut in der Nacht wie ein Gespenst ausgesehen hatte. Deshalb sagte er zu seinen Eltern:

»Laßt's gut sein. Ich heirate lieber nicht. Vielleicht wird sie später ein richtiges Gespenst. Die Unkosten haben wir uns umsonst gemacht.«

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 49-51.
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