14. Der Zwerghirsch und der Tiger

[56] Als der Hund nach Hause gegangen war, wollte der Zwerghirsch den Tiger besuchen. Unterwegs traf er eine Reihe Schlangen, die aufgeringelt ganz nahe der Wohnung des Tigers lagen und sich sonnten. Der Zwerghirsch wartete eine Weile, aber die Schlangen rührten sich nicht.

Bald kam der Tiger; und Tiger und Zwerghirsch sahen sich im selben Augenblick. Der Tiger hatte aber die Schlangen nicht bemerkt; so sagte er zum Zwerghirsch: »Zwerghirsch, was machst du da?« – »Ach,« antwortete der, »ich stehe hier schon eine ganze Zeit Wache, der Radja hat es befohlen.« – »Was bewachst du denn?« fragte der Tiger. »Ich muß auf die Sachen des Radja passen, seine Prunkschärpen,« erwiderte der Zwerghirsch und wies auf die Schlangen hin. Der Tiger schaute hin, und wie er sie so schön in Kreisen geordnet sah, meinte er: »Wie wär's, wenn wir die beiseite schleppten. Ich möchte sie umbinden und sehen, wie die Schärpen mir stehen.« – »Das darf ich nicht erlauben,« versetzte der Zwerghirsch, »der Radja hat mir befohlen, auf sie aufzupassen, aber ich kann ihn ja mal fragen.« Der Zwerghirsch hatte nämlich Angst vor dem Tiger bekommen und wollte sich nun recht unauffällig drücken. Er sagte: »Ich will vorangehen. Wenn ich dem Radja begegne, werde ich rufen.«

Der Zwerghirsch machte sich davon, und als er ein Stückchen entfernt war, rief er den Tiger und sagte: »Ich habe den Radja getroffen. Er sagt, du darfst seine Schärpen einmal probieren.«

Darauf faßte der Tiger nach den Schlangen und hob sie hoch; die erwachten, griffen ihn an, wanden sich um seinen Leib und bissen ihn. So starb der Tiger.

Der Zwerghirsch machte sich aus dem Staube und sagte: »Haha! Tiger! Du hieltest dich für so stark und furchtbar? Na, der listige Zwerghirsch wird im Handumdrehen mit dir fertig.«

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 56-57.
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