28. Der kleine Däumling

[252] Es war einmal ein Holzhacker und eine Holzhackerin, die hatten sieben Kinder, lauter Buben. Der älteste war erst zehn und der jüngste sieben Jahre alt. Man könnte sich wundern, daß der Holzhacker in so kurzer Zeit so viele Kinder hatte, aber seine Frau war flink bei diesem Geschäft und bekam immer gleich zwei auf einmal. Sie waren gar arm, und ihre sieben Kinder waren ihnen sehr lästig, weil noch keines von ihnen sein Brot selber verdienen konnte. Was sie obendrein noch bekümmerte, war, daß der jüngste überaus zart war und kein Wort redete; sie hielten das für Dummheit, was doch nur ein Zeichen für die Güte seines Verstandes[252] war. Er war winzig klein, und als er zur Welt kam, war er nicht länger als ein Daumen, weshalb man ihn den kleinen Däumling nannte. Dies arme Kind war der Prügelknabe des ganzen Hauses, und man gab ihm stets Unrecht. Gleichwohl war er der schlauste und gescheiteste von allen seinen Brüdern, und wenn er auch wenig redete, so hörte er um so mehr zu. Es kam ein sehr schlimmes Jahr, und die Hungersnot war so groß, daß die armen Leute beschlossen, sich ihre Kinder vom Halse zu schaffen. Eines Abends, als die Kinder schon schlafen gegangen waren und der Holzhacker mit seiner Frau beim Feuer saß, sprach er aus schmerzgepreßtem Herzen zu ihr: »Siehst du nicht, daß wir unsere Kinder nicht mehr ernähren können? Ich könnte sie nicht vor meinen Augen verhungern sehen, und ich bin gesonnen, sie morgen mit in den Wald zu nehmen, um sie dort umkommen zu lassen, was sich sehr leicht machen läßt, denn während sie sich lustig tummeln und Reisig zusammenlesen, brauchen wir nur, ohne daß sie es merken, davonzulaufen.« »Ach,« rief die Holzhackerin aus, »könntest du wirklich deine Kinder vorsätzlich im Stiche lassen?« Ihr Mann hielt ihr umsonst ihre große Armut vor, sie brachte es nicht über sich, einzuwilligen; sie war arm, aber sie war Mutter. Indes, nachdem sie sich bedacht hatte, welchen Schmerz es ihr bereiten würde, dieselben verhungern zu lassen, willigte sie ein und legte sich unter Tränen schlafen. Der kleine Däumling hörte alles, was sie sprachen, denn, nachdem er von seinem Bett aus vernommen hatte, daß sie von wichtigen Dingen redeten, war er leise aufgestanden und unter den Schemel seines Vaters gekrochen, um ihnen zuzuhören, ohne selbst gesehen zu werden. Dann legte er sich wieder ins Bett, fand aber während der ganzen übrigen Nacht keinen Schlaf mehr, da er darüber nachdachte, was er tun solle. Er stand früh am Morgen auf und ging zum Rand eines Baches, wo er seine Taschen mit weißen Kieselsteinchen anfüllte, und dann kam er wieder nach Haus. Sie machten sich alle auf den Weg, und der kleine Däumling verriet seinen Brüdern nichts von alledem, was er wußte. Sie gingen in[253] einen dichten, dichten Wald, wo keiner den andern auf zehn Schritte Entfernung sehen konnte. Der Holzhacker machte sich daran, Holz zu schlagen und seine Kinder, das Reisig zusammenzulesen, um Bündel daraus zu machen. Wie nun Vater und Mutter sie so eifrig bei der Arbeit sahen, entfernten sie sich behutsam von ihnen und eilten dann plötzlich auf einem Seitenpfad davon. Als die Kinder sich allein sahen, fingen sie aus Leibeskräften an zu schreien und zu weinen. Der kleine Däumling ließ sie ruhig schreien, da er wohl wußte, wie sie wieder heimkommen würden; denn unter dem Gehen hatte er längs des Weges die weißen Kieselsteinchen fallen lassen, die er in seinen Taschen trug. Er sagte also zu ihnen: »Fürchtet euch nicht, liebe Brüder, Vater und Mutter haben uns hier allein gelassen, aber ich werde euch wohlbehalten nach Hause bringen, folgt mir nur!« Sie gingen hinter ihm drein und er geleitete sie bis an ihr Haus auf demselben Wege, wie sie in den Wald gekommen waren. Sie getrauten sich zuerst nicht einzutreten, sondern stellten sich alle an die Tür, um zu horchen, was Vater und Mutter redeten. In dem Augenblick, da der Holzhacker und die Holzhackerin nach Hause kamen, schickte ihnen der Ortsvorsteher zehn Taler, die er ihnen von lange her schuldete und auf die sie gar nicht mehr gerechnet hatten. Dies gab ihnen wieder neues Leben, denn die armen Leute starben fast vor Hunger. Der Holzhacker schickte sein Weib noch selbige Stunde in die Metzgerei. Da sie seit langer Zeit nichts mehr gegessen hatte, kaufte sie dreimal soviel Fleisch, als es für zwei Personen zum Abendessen nötig war. Als sie satt waren, sagte die Holzhackerin: »Ach, wo mögen jetzt meine armen Kinder sein? Sie könnten sich das, was uns übrigbleibt, schmecken lassen! Aber, Wilhelm, du warst es ja, der sie hat umbringen wollen, ich habe es im voraus gesagt, daß wir es bereuen würden. Was werden sie jetzt im Walde anfangen? Ach, du mein Gott, die Wölfe haben sie vielleicht bereits gefressen, es ist unmenschlich von dir, deine Kinder so im Stich gelassen zu haben.« Der Holzhacker verlor schließlich die Geduld, denn sie sagte mehr[254] als zwanzigmal, daß sie es bereuen würden und daß sie es im voraus gesagt habe. Er drohte, sie durchzuprügeln, wenn sie nicht schweigen würde. Nicht daß der Holzhacker nicht noch weit mehr bekümmert gewesen wäre als sein Weib, aber sie machte ihm den Kopf ganz heiß, und er, er war vom Schlage so vieler Leute, die derlei Weiber besonders gern haben, die alles schon im voraus sagen, dagegen solche höchst unbequem finden, die immer alles schon im voraus gesagt haben wollen. Die Holzhackerin weinte in einem fort. »Ach, wo werden jetzt meine Kinder sein, meine armen Kinder?« Einmal sagte sie dies so laut, daß die Kinder, die draußen an der Türe waren, es hörten und allesamt anfingen zu schreien: »Da sind wir, da sind wir!« Sie lief geschwind hin und machte ihnen die Tür auf und sagte unter Herzen und Küssen zu ihnen: »Wie froh bin ich, euch wiederzusehen, ihr lieben Kinder, ihr seid recht müde und habt argen Hunger. Und du, Peterlein, wie schmutzig du bist, komm und laß dich abwaschen.« Dieses Peterlein war ihr Ältester, und den hatte sie lieber als alle die anderen, weil er ein kleines Rotköpfchen war und sie selbst ein Rotkopf. Sie setzten sich um den Tisch herum und aßen mit solcher Lust, daß Vater und Mutter ihre Freude daran hatten; sie erzählten von der Angst, die sie im Walde ausstehen mußten und redeten fast immer alle auf einmal. Unsere guten Leute waren überglücklich, ihre Kinder daheim zu sehen, und ihr Glück währte genau solange wie die zehn Taler; als aber das Geld verbraucht war, verfielen sie wieder in ihren alten Kummer und entschlossen sich, sie abermals im Stiche zu lassen, und, damit ihr Anschlag nicht mißlinge, sie noch viel weiter wegzuführen als das erstemal. Sie konnten davon nicht so heimlich reden, als daß sie der kleine Däumling nicht doch gehört hätte; der rechnete sicher darauf, sich aus der Sache herauszuziehen, wie er es schon einmal getan, aber trotzdem er am frühen Morgen aufgestanden war, um Kieselsteinchen zusammenzulesen, konnte er dies doch nicht ausführen, denn er fand die Tür des Hauses doppelt verschlossen. Er wußte nicht, was er tun sollte; als aber die Holzhackerin[255] ihnen zu ihrem Frühstück jedem eine Scheibe Brot gegeben hatte, glaubte er, er könne an Stelle der Kieselsteine sein Brot nehmen und es brockenweise längs des Weges, den sie nehmen würden, ausstreuen, und so schob er es in seine Tasche. Der Vater und die Mutter führten sie an den dichtesten und dunkelsten Fleck im Walde, und sobald sie dort waren, machten sie sich auf einem Schleichwege davon und ließen sie zurück. Der kleine Däumling grämte sich darüber nicht sonderlich, weil er meinte, seinen Weg leicht wiederzufinden mittels des Brotes, das er überall ausgestreut hatte, wo er gegangen war; aber er war sehr überrascht, als er nicht ein einziges Krümchen mehr davon wiederfinden konnte; die Vögel waren gekommen und hatten alles aufgepickt. Da waren sie denn recht betrübt, denn je weiter sie liefen, desto weiter verirrten sie sich und kamen immer tiefer in den Wald. Die Nacht brach herein und es erhob sich ein heftiger Wind, der ihnen schreckliche Angst einjagte. Es war ihnen, als ob sie von allen Seiten nichts als das Heulen der Wölfe hörten, die auf sie zukamen, um sie zu fressen. Sie getrauten sich kaum, miteinander zu reden, noch auch den Kopf zu wenden. Plötzlich kam ein heftiger Regenguß, der ihnen bis auf die Haut drang, sie glitten bei jedem Schritt aus und purzelten in den Schmutz, aus dem sie sich ganz besudelt wieder erhoben, und sie wußten nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollten. Der kleine Däumling kletterte auf einen Baum, um zu sehen, ob er nichts entdecken könne. Wie er nun nach allen Seiten umherspähte, gewahrte er einen schwachen Schimmer wie von einem Kerzenlicht, aber das war gar weit über dem Walde drüben. Er kletterte vom Baum herab, und als er wieder unten war, sah er nichts mehr; da war er trostlos. Doch nachdem er eine Weile mit seinen Brüdern in der Richtung weitergegangen war, von wo er das Licht gesehen hatte, erblickte er es beim Heraustreten aus dem Walde von neuem. Sie gelangten endlich an das Haus, wo das Kerzenlicht war, nicht ohne mancherlei Schrecken, denn häufig verloren sie es aus den Augen, was[256] jedesmal der Fall war, wenn sie in eine Senkung herabstiegen. Sie klopften an die Türe, da kam eine biedere Frau und machte ihnen auf. Sie fragte, was sie begehrten, und der kleine Däumling gab zur Antwort, sie wären arme Kinder und hätten sich im Walde verirrt, und sie bäten, ihnen aus Barmherzigkeit ein Nachtlager zu geben. Als nun die Frau sah, wie herzig sie alle waren, fing sie zu weinen an und sagte: »Ach, ihr armen Kinder, wo seid ihr hingeraten? Wißt ihr nicht, daß dies hier das Haus eines Menschenfressers ist, der die kleinen Kinder auffrißt?« »Ach, liebe Frau,« antwortete der kleine Däumling, am ganzen Leibe zitternd geradeso wie seine Brüder, »was sollen wir anfangen? Ganz sicher werden die Wölfe des Waldes uns heute nacht ohne Erbarmen fressen, wenn Ihr uns nicht bei Euch aufnehmt. Und da ist es uns doch lieber, wenn der gnädige Herr uns auffrißt; und vielleicht, daß er Mitleid mit uns hat, wenn Ihr so gut seid, ihn darum zu bitten.« Das Weib des Menschenfressers dachte, sie könne sie bis zum nächsten Morgen vor ihrem Manne versteckt halten, ließ sie eintreten und führte sie zum Wärmen an ein tüchtiges Feuer, denn dort hing ein ganzer Hammel am Bratspieße für das Abendessen des Menschenfressers. Als sie anfingen, sich zu wärmen, hörten sie drei- bis viermal an die Tür poltern, das war der Menschenfresser, der heimkam. Unverzüglich hieß sein Weib sie sich unter das Bett verkriechen und ging hin, um die Türe aufzumachen. Der Menschenfresser fragte gleich, ob das Abendessen fertig sei und ob man Wein abgefüllt habe, und setzte sich dann ohne weiteres zu Tisch. Der Hammelbraten war noch ganz blutig, aber er dünkte ihn darum nur um so besser. Er schnüffelte nach rechts und links und sagte immerzu, daß er frisches Fleisch rieche. »Es muß dies«, sagte sein Weib zu ihm, »das Kalb sein, das ich vorhin geschlachtet habe, was du riechst.« »Ich rieche frisches Fleisch, ich sag' es dir noch einmal!« versetzte der Menschenfresser und sah sein Weib von der Seite an, »und es ist etwas hier, was mir nicht gefällt!« Bei diesen Worten stand er vom Tische auf und ging schnurstracks[257] zum Bette hin. »Ha!« sagte er, »schau her, wie du mich betrügen willst, du verfluchtes Weib, ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich dich nicht auch auffresse; du kannst von Glück sagen, daß du schon so ein altes Luder bist! Dies Wildbret da kommt mir gerade recht, um es meinen Freunden, den Menschenfressern, aufzutischen, die mich dieser Tage besuchen werden.« Er zog die Kinder, eines nach dem andern, unter dem Bette hervor. Die armen Kinder fielen auf die Knie und flehten um Erbarmen, aber sie hatten es mit dem grausamsten aller Menschenfresser zu tun, der, weit entfernt, Mitleid zu haben, sie schon mit den Augen verschlang und zu seinem Weibe sagte, das seien leckere Bissen, wenn sie noch eine gute Soße daran machen würde. Er holte ein großes Messer, und während er auf die armen Kinder losging, wetzte er es an einem langen Steine, den er in seiner linken Hand hielt. Er hatte schon eines von ihnen gepackt, da sagte sein Weib zu ihm: »Was willst du jetzt so spät noch machen, hast du nicht bis morgen früh noch Zeit genug?« »Halts Maul!« erwiderte der Menschenfresser, »sie werden nur desto mürber sein!« »Aber du hast ja noch soviel Fleisch da,« warf sein Weib ein, »das Kalb da, die zwei Hämmel und das halbe Schwein!« »Du hast recht,« sagte der Menschenfresser, »gib ihnen ein tüchtiges Nachtessen, damit sie nicht abmagern und bring sie zu Bett!« Die gute Frau war überglücklich und brachte ihnen ein reichliches Abendbrot, aber sie konnten nichts herunterbringen, so voller Angst waren sie. Der Menschenfresser seinerseits machte sich wieder ans Trinken, ganz glücklich darüber, etwas zu haben, womit er seine Freunde ordentlich bewirten könne. Er trank noch um ein Dutzend Schluck mehr als gewöhnlich, was ihm ein wenig zu Kopfe stieg und ihn nötigte, sich schlafen zu legen.

Der Menschenfresser hatte sieben Töchter, die noch Kinder waren. Diese kleinen Menschenfresserinnen hatten samt und sonders eine schöne Gesichtsfarbe, weil sie wie ihr Vater von rohem Fleische lebten, aber sie hatten graue und kugelrunde Äuglein, eine krumme Nase und einen mächtig großen Mund[258] mit langen, sehr spitzen und sehr weit auseinanderstehenden Zähnen. Sie waren noch nicht sehr bösartig, aber doch vielversprechend, denn sie bissen schon die kleinen Kinder, um ihnen das Blut auszusaugen. Man hatte sie frühzeitig zu Bett geschickt, und nun lagen sie alle sieben in einem großen Bett, und jede von ihnen hatte eine goldene Krone auf dem Kopfe. Im nämlichen Zimmer stand ein zweites Bett von derselben Größe, in dieses Bett hieß das Weib des Menschenfressers die sieben kleinen Buben sich schlafen legen, worauf sie selber sich zu ihrem Manne legte.

Der kleine Däumling, der wohl bemerkt hatte, daß die Töchter des Menschenfressers goldene Kronen auf den Köpfen trugen und fürchtete, daß es den Menschenfresser gereuen würde, sie nicht noch am selbigen Abend umgebracht zu haben, stand gegen Mitternacht auf, nahm die Kappen seiner Brüder und die seinige und ging ganz leise hin, um sie den sieben Töchtern des Menschenfressers auf die Köpfe zu setzen, nachdem er ihnen ihre goldenen Kronen abgenommen hatte; diese setzte er nun seinen Brüdern und sich selber auf, damit der Menschenfresser sie für seine Töchter und seine Töchter für die Buben halte, die er umbringen wollte. Die Sache glückte so wie er es sich gedacht hatte; denn als der Menschenfresser um Mitternacht aufwachte, gereute es ihn, auf den nächsten Morgen verschoben zu haben, was er am Abend zuvor hätte ausführen können. Er sprang also rasch aus dem Bett und packte sein großes Messer. »Ich will nachschauen«, sagte er, »wie es den kleinen Schlingeln geht, ich will keine Zeit verlieren!« Er tastete sich also ins Zimmer seiner Töchter und kam an das Bett der kleinen Buben, die allesamt schliefen mit Ausnahme des kleinen Däumlings, welcher mit Grausen die Hand des Menschenfressers seinen Kopf betasten fühlte, wie er vorher allen seinen Brüdern selbigen betastet hatte. Wie nun der Menschenfresser die goldenen Kronen spürte, sagte er: »Da hätte ich beinahe etwas Schönes angerichtet, ich sehe wohl, daß ich gestern abend zuviel getrunken habe!« Er ging dann zum Bett seiner Töchter, und als er dort die Käppchen[259] der Buben spürte, sagte er: »Ah, da sind sie, unsere lustigen Vögel! Nun keck ans Werk!« Mit diesen Worten schnitt er ohne Zaudern seinen sieben Töchtern den Hals ab. Höchst zufrieden mit dieser Unternehmung ging er wieder ins Bett.

Sobald der kleine Däumling den Menschenfresser schnarchen hörte, weckte er seine Brüder und hieß sie sich flink anziehen und ihm nachgehen. Sie schlichen sich leise in den Garten hinab und sprangen über die Mauer. Sie liefen schier die ganze Nacht hindurch, fortwährend zitternd und ohne zu wissen, wohin sie gingen.

Als der Menschenfresser aufwachte, sagte er zu seinem Weib: »Geh hinauf und richte unsere kleinen Schlingel her, die von gestern abend.« Die Menschenfresserin war höchst erstaunt über die Gutmütigkeit ihres Mannes, denn sie ahnte nicht, was er unter Herrichten meinte, und glaubte, er befehle ihr, sie anzukleiden. So stieg sie hinauf und war ganz entsetzt, als sie ihre sieben Töchter mit abgeschnittenen Köpfen und in ihrem Blute schwimmend vorfand. Ihr erstes war, in Ohnmacht zu fallen (denn dies ist das erste Auskunftsmittel, das fast alle Weiber bei ähnlichen Anlässen gleich zur Hand haben). Da der Menschenfresser fürchtete, sein Weib brauche zu dem Geschäft, das er ihr aufgetragen, zuviel Zeit, begab er sich nach oben, um ihr behilflich zu sein. Er war nicht weniger bestürzt als sein Weib, da er das grausige Schauspiel erblickte. »Ha! Was habe ich da gemacht!« rief er aus, »sie sollen es mir büßen, die Unglückseligen, und zwar sofort.« Er goß eilends seinem Weibe einen Topf Wasser ins Gesicht, und als er sie wieder zu sich gebracht hatte, sagte er: »Geschwind, gib mir die Siebenmeilenstiefel, damit ich sie noch erwische!« Er setzte sich in Trab und gelangte, nachdem er in allen Richtungen weit umhergelaufen war, endlich auf den Weg, den unsere armen Kinder einhertrotteten, die nur noch zehn Schritte von der Behausung ihres Vaters entfernt waren. Sie sahen den Menschenfresser, der von Berg zu Berg sprang und über Flüsse setzte, so leicht, als überschreite[260] er den kleinsten Bach. Der kleine Däumling, der dicht bei der Stelle, wo sie gerade waren, eine Felsenhöhle wahrnahm, hieß seine sechs Brüder sich darin verstecken und schlüpfte dann selbst hinein, indem er immerzu ausspähte, was aus dem Menschenfresser würde. Dieser, der sich von dem weiten Wege, den er vergeblich gemacht hatte, sehr ermüdet fühlte (denn die Siebenmeilenstiefel nehmen ihren Mann arg mit), wollte Rast halten und kam durch Zufall auf den Felsen zu sitzen, unter dem die Büblein sich versteckt hatten. Da er vor Müdigkeit sich nicht mehr halten konnte, schlief er ein, nachdem er eine Zeitlang gerastet hatte, und begann so fürchterlich zu schnarchen, daß die armen Kinder davor nicht weniger Angst hatten, als wenn er sein großes Messer schwang, um ihnen den Kopf abzuschneiden. Der kleine Däumling hatte keine so große Angst und sagte zu seinen Brüdern, sie sollten schleunigst heimlaufen, während der Menschenfresser noch fest schlafe, und sollten seinetwegen nicht in Sorge sein. Sie folgten seinem Rat und erreichten eilends das Haus. Der kleine Däumling aber trat zum Menschenfresser heran, zog ihm sachte seine Stiefel aus und legte sie sich unverzüglich selber an. Die Stiefel waren sehr groß und sehr weit, aber da sie verhext waren, hatten sie die Gabe, sich je nach dem Beine dessen, der sie anzog, zu vergrößern oder zu verkleinern, derart, daß sie so genau zu seinen Füßen und zu seinen Beinen paßten, als ob sie für ihn gemacht wären. Er ging schnurstracks zur Behausung des Menschenfressers, wo er dessen Weib traf, wie sie bei ihren ermordeten Töchtern weinte. »Euer Mann«, sagte der kleine Däumling zu ihr, »ist in großer Gefahr, denn er ist einer Räuberbande in die Hände gefallen, und sie haben geschworen, ihn umzubringen, wenn er ihnen nicht all sein Gold und all sein Silber herausgäbe. Gerade als sie ihm den Dolch auf die Kehle setzten, bemerkte er mich und bat mich, Euch Botschaft von der Lage zu bringen, in der er sei, und Euch zu sagen, daß Ihr mir alles geben sollt, was er an Barschaft besitzt, ohne das geringste zurückzubehalten, weil sie ihn sonst[261] erbarmungslos umbringen würden. Da die Sache sehr eilt, wollte er, daß ich seine Siebenmeilenstiefel, dir Ihr da seht, anziehe, damit ich schleunigst herkäme und auch, damit Ihr nicht etwa glaubt, ich sein ein Betrüger.« Die gute Frau war sehr erschrocken, denn dieser Menschenfresser war der beste Ehemann, wenn er auch die kleinen Kinder fraß. Als nun der kleine Däumling solcherweise mit allen Schätzen des Menschenfressers beladen war, kehrte er in sein Vaterhaus zurück, wo er mit tausend Freuden aufgenommen wurde. Er verhalf seiner ganzen Familie zum Wohlstand, kaufte neugeschaffene Ämter für seinen Vater und für seine Brüder, und dadurch versorgte er sie alle und machte selber ein ganz erstaunliches Glück.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 252-262.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon