26. Unser Herr als Bettler.

[138] Es ist schon lange her, da lebte einmal ein altes Weiblein, das entsetzlich arm und nötig war. Sie konnte sich wenig verdienen und betteln gehen wollte sie nicht, denn sie dachte immer: »Lieber als daß ich betteln geh', verkaufe ich meinen Löffel«. – Wie das arme Weiblein nun einmal in ihrem Stübchen so dasaß und über ihre Not nachdachte, kam ein Bettelmann, der war recht zerlumpt und sah so bleich und mager aus wie die teure Zeit. Der Bettler bat gar schön und um Gotteswillen um ein kleines Almosen und das Weiblein wußte fast nicht, was sie tun sollte, denn sie hatte nichts als eine Henne, und den Bettler ganz leer weggehen lassen wollte sie auch nicht. – Sie wurde endlich mit sich einig und hieß den Bettler sich setzen und ein wenig ausrasten; dann ging sie in die Küche, stach die Henne ab, kochte sie und setzte dieselbe und eine kräftige Suppe dem Bettler vor. Der Alte ließ sich Suppe und Henne gefallen, aß recht wacker los, und als er wegging, konnte er fast nicht aufhören zu danken. Als der arme Mann schon zur Türe hinaus war, erinnerte sich das Weiblein, daß sie noch ein wenig Tuch im Kasten habe, und holte gleich ein Stückchen vom Tuch für den Bettler, damit er sich ein Hemd machen könnte. Mit dem Tuche lief sie nun dem Bettler nach und schenkte es ihm. Der Arme nahm es lächelnd mit Dank an und sprach: »Weil du mit mir so gut gewesen bist, so schneide[139] Tuch herab, bis die Sonne untergeht«. Er sprach's und verschwand glänzend wie eine Wolke, die bei Sonnenuntergang am Himmel hängt.

Das Weiblein ging nun eilig nach Hause und fing an Tuch herabzumessen und nahm sich den ganzen Tag durch kaum Zeit zu atmen, so beschäftigt war sie. Und wie die liebe Sonne hinter den Bergen zur Ruhe ging, da war das ganze Häuslein, in dem sie wohnte, gesteckt voll weißer Leinwand, die so schön war, daß sich der Kaiser daraus hätte das Festtagstischzeug machen lassen können. – Sie maß noch fort, und als die schwarze Nacht kam, hatte sie keinen Platz mehr für ihr Tuch und mußte viele, viele Stücke bei guten Nachbarn aufbehalten lassen. Da machte wohl manche Bäuerin Augen auf das schöne Tuch, daß man ihr's leicht ansah, wie gern sie's gehabt hätte.

Dem Weiblein fehlte es aber nie mehr, solange es lebte, an Gottes Segen und es tat auch den Armen immerfort gar viel Gutes.


(Inntal.)

Quelle:
Zingerle, Ignaz Vinc. und Josef: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Innsbruck: Schwick, 1911, S. 138-140.
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