29. Riese und Hirte.

[156] In alter grauer Zeit kam einmal ein Riese in ein Tal und der war so stark, daß ihm fast alles möglich war. Er hob ganze Felsen auf und schleuderte sie wie einen kleinen Stein so weit, daß man sie fast nicht mehr sah. Einmal kam er zu einem Hirten und fragte ihn: »Kannst du einen Baum samt den Wurzeln ausreißen?« Und mit diesen Worten riß er eine Fichte, die einzeln da stand, aus dem Boden und kehrte das Unterste zu oberst.

Der Hirte, der dies sah, besann sich nicht lange und antwortete: »Das ist keine Kunst, ich kann's auch.«

Wie dies der Riese gehört hatte, ließ er das gut sein und fragte weiter: »Kannst du aber auch aus einem Steine Wasser herauspressen?«

Bei diesen Worten nahm er einen aschtrockenen Stein her und preßte und preßte so lange, bis endlich das klarste Wasser aus dem Steine herausrann. Der Hirte sah zu und sagte: »Ja, das ist keine Kunst, ich kann's auch«.

Da ließ der Riese das Steinpressen wieder gut sein und fragte zum dritten Male: »Kannst du einen Stein so hoch werfen, daß er erst nach einer Viertelstunde wieder zurückkommt?«[157]

Und er warf einen Stein so hoch in die Luft, daß er erst nach einer Viertelstunde wieder auf die Erde fiel. Der Hirte hatte zugesehen und sprach lächelnd: »Das ist keine Kunst, ich kann's auch. Morgen will ich dir alles auch machen und vielleicht noch besser.«

Mit diesen Worten gingen sie auseinander. Der Hirte kehrte aber wieder zurück und höhlte fürs erste den Baum aus, den er ausreißen wollte, deckte ihn aber mit der Rinde so fleißig zu, daß man gar nichts merkte. Fürs zweite schaute er sich um ein großes Stück alten Käses und fürs dritte fing er sich einen Vogel.

Als es am andern Tage noch früh am Morgen war, da kamen schon beide am verabredeten Platze zusammen. Da sprach der Hirte: »Ich kann den Baum nicht bloß ausreißen, sondern ihn auch umbiegen.« Er bog nun den ausgehöhlten Baum um, bis er endlich krachte und brach.

Dann sagte er: »Nun will ich aus einem Steine das hellichte Wasser pressen.« – Er nahm nun statt des Steines den alten grauen Käslaib und drückte ihn, bis das hellichte Naß ihm an den Fingern herabrann.

Da machte der Riese große, weite Augen und sprach: »Du bist stärker, als ich gemeint habe. Aber nun mache auch das dritte!«

Da antwortete der Hirte: »Ich kann den Stein noch höher werfen als du. Der deinige ist in einer Viertelstunde wieder herabgefallen. Wenn ich aber aus vollen Leibeskräften einen Stein werfe, kehrt er gar nicht mehr wieder.«

Nach diesen Worten bückte er sich nieder und tat, als ob er einen Stein aufheben würde. In der Tat nahm er aber den Vogel, griff aus und warf ihn empor. Dieser spreizte aber seine leichten braunen Flügel aus und flog und flog und kehrte nie mehr wieder.[158]

Der dumme Riese glaubte aber, es sei wirklich ein Stein gewesen und wartete mit aufgespanntem Munde aufs Zurückfallen desselben. Als er aber nie zur Erde fiel, glaubte er, der Hirt sei stärker als er und gab sich besiegt.

Hier hat auch das Märchen ein Ende und sagt nicht, was nachher der Riese getan hat.


(Inntal.)

Quelle:
Zingerle, Ignaz Vinc. und Josef: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Innsbruck: Schwick, 1911, S. 156-159.
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