52. Die drei Pomeranzen.

[294] Es war einmal ein armes Weib, das hatte ein einziges Töchterlein, welches es wie ihren Augapfel liebte. Obgleich das Mädchen erst neun Jahre alt war, so war es doch so verständig wie eine Erwachsene und gar sanft und fromm. Eines Tages waren Mutter und Tochter im Walde gewesen, um Holz zu klauben, und als sie heimkehrten, sahen sie bei einem Baume drei Feen, welche schon lange zu warten schienen und in gebieterischem Tone zur Mutter sagten: »Heute über ein Jahr führe dein Kind zu uns hierher auf diese Stelle!« Voll Verzweiflung ging das Weib nach Hause. Wie viele Tränen weinte sie und wie traurig war sie stets! Aber das Mädchen suchte sie immer zu trösten. »Gott wird mir helfen, liebe Mutter,« sagte es oft; »du wirst sehen, daß ich vielleicht bald wieder wohlbehalten und glücklich zu dir zurückkehre.«

Als das Jahr abgelaufen war, führte die Mutter – denn sie wagte nicht ungehorsam zu sein – schweren Herzens ihre Tochter in den Wald. Dort warteten die drei Feen schon darauf, nahmen das Mädchen bei der Hand und entschwanden bald aus den Augen der Mutter, welche weinend nachschaute und tiefbetrübt nach Hause ging.

Die drei Feen aber führten das Mädchen in ihre Wohnung tief im Walde und legten ihm allerlei häusliche Dienste auf. Obwohl[295] das Mädchen alles unverdrossen verrichtete, gelang es ihm doch nicht, sich die Gunst seiner strengen und unfreundlichen Gebieterinnen zu erwerben. Ja, es kam dahin, daß sie das Mädchen immer mehr haßten und sie beschlossen, dasselbe in das sichere Verderben zu schicken.

»Höre, Kleine,« sagte eines Abends eine der drei Feen, »geh morgen an diesen und diesen Ort und diesen und diesen Palast hin. Dort tritt ein und nimm der Alten, welche du dort findest, die drei Pomeranzen weg und bringe sie uns her. Wehe dir, wenn du unser Gebot nicht erfüllest!«

Das arme Mädchen versprach, es tun zu wollen; aber es ahnte wohl selbst, wie gefährlich dieses Unternehmen sein werde. Es weinte die ganze Nacht, dachte immer an seine liebe Mutter und betete inbrünstig, daß ihm das aufgetragene Werk gelingen möge.

Am frühesten Morgen machte es sich auf den Weg. Als es einige Stunden gegangen war, begegnete es einem alten Manne. »Wohin gehst du?« fragte er mitleidig, als er das Kind mit den verweinten Augen sah. »Ach, wenn du es wüßtest!« erwiderte es und erzählte ihm treuherzig alles. Dann sprach der Alte: »Nimm diese Dinge, geh hin und mache davon Gebrauch, sobald du es nötig hast.« Und er gab ihm Nägel, ein Fläschchen Öl, einen Korb mit Brot, einen Besen und ein Seil. Das Mädchen nahm es, dankte recht herzlich dafür und machte sich, obwohl es an diesen Dingen ziemlich schwer zu tragen hatte, doch mit gutem Troste und besserem Mute wieder auf den Weg.

Bald kam es an den ihm von den Feen bezeichneten Ort und stand vor dem beschriebenen Palaste. Vor demselben war ein tiefer Graben und darüber führte eine Brücke, die war so alt und zerbrochen, daß man beim ersten Schritte darauf in die Tiefe stürzen mußte. Das[296] Mädchen aber nahm die Nägel und befestigte damit ein Brett nach dem andern, so daß es bald hinüber war. Nun gelangte es zu einem großen Tore, das war mit Riegel und Ketten verschlossen und die waren so eingerostet, daß auch ein Riese mit all seiner Kraft sie nicht hätte zurückschieben können. Da nahm das Mädchen das Ölfläschchen und bestrich Riegel, Ketten und Angeln mit Öl, worauf sie sich leicht wegschieben ließen und das Tor wie von selbst sich öffnete. Gleich hinter dem Tore lag ein Rudel Hunde, die stürzten wütend und[297] bellend auf das Mädchen los, als wollten sie es zerreißen. Da griff dieses in den Korb und warf das Brot unter die Hunde, welche nun darauf losstürzten. Das Mädchen ließ sie fressen und ging weiter über einen Hof. Da war ein Weib, welches den Hof mit seinem Kleide kehrte; das Mädchen aber gab ihm den Besen. Ganz nahe war ein Brunnen, daran stund ein Weib und zog den schweren Wassereimer mit ihren Haarflechten aus der Tiefe herauf. Hurtig gab ihr das Mädchen das Seil.

Nun war das Mädchen an der Stiege. Vorsichtig und leise ging es hinauf und kam in ein großes Gemach; da saß eine Alte halb wach und halb schlafend und spann. Auf einem Kasten aber lagen in goldenem Teller die drei Pomeranzen. Rasch ergriff sie das Mädchen und eilte hinweg; allein die Alte hatte es doch gemerkt und humpelte ihr nach. Als das Mädchen am Brunnen war, rief die Alte dem Weibe, welches dort Wasser geschöpft, zu: »Halt sie auf, sie hat mir die drei Pomeranzen gestohlen!« Aber das Weib sagte: »Das tu ich nicht; seit so vielen Jahren zog ich den Wassereimer mit meinen Haarflechten herauf und nun hat mir das gute Kind ein Seil gegeben.« Als das Mädchen zum Weibe kam, welches den Hof kehrte, rief die Alte wieder: »Schlag sie zu Boden, sie hat mir die drei Pomeranzen gestohlen!« Allein das Weib sagte: »Das tu' ich nicht; seit so vielen Jahren kehrte ich den Hof mit meinem Kleide und nun hat mir das gute Kind einen Besen gegeben.« Das Mädchen war schon bei den Hunden, da schrie die Alte zornig: »Packt sie, Hunde, zerreißet sie, sie hat mir die drei Pomeranzen gestohlen!« Allein die Hunde bellten nicht einmal, sondern sagten: »Das tun wir nicht; seit so vielen Jahren haben wir Hunger gelitten und nun hat uns das gute Kind Brot gegeben.« Schon war das Mädchen am Tore, da schrie die Alte noch stärker: »Schließ dich, Tor, zerquetsche sie, sie hat mir die drei Pomeranzen[298] gestohlen!« Aber das Tor rührte sich nicht, sondern sagte: »Das tu' ich nicht; seit so vielen Jahren war ich rostig und nun hat mich das gute Kind mit Öl bestrichen.« Eben trat das Mädchen auf die Brücke, da schrie die Alte immer noch einmal im höchsten Grimme: »Falle, Brücke, wirf sie hinab, sie hat mir die drei Pomeranzen gestohlen!« Die Brücke aber schwankte nicht einmal, sondern sagte: »Das tu' ich nicht; seit so vielen Jahren war ich zerbrochen und nun hat mich das gute Kind wieder gemacht!«

Nun konnte die Alte nicht mehr weiter und das Mädchen war gerettet. Es dankte Gott und setzte freudig seinen Weg weiter fort, bis es wieder zu den Feen kam. Diese waren nicht wenig erstaunt, das Mädchen wieder zu sehen, noch erfreuter waren sie, als es ihnen die drei Pomeranzen überreichte. Nachdem es ihnen alles erzählt hatte, lobten sie es und fragten, was für eine Belohnung es wolle. Das Mädchen verlangte nichts anderes, als zu seiner Mutter zurückkehren zu dürfen. Die Feen gestatteten es ihm und überhäuften es überdies mit den reichsten und kostbarsten Geschenken.

Welch große Freude die Mutter hatte, ihre Tochter wieder zu sehen, kann ich nicht beschreiben und will nur noch sagen, daß Mutter und Tochter fürderhin glücklich zusammen lebten und alle frühere Armut und Not für immer ein Ende hatte.1


(Borgo.)

1

Schnellers Märchen und Sagen aus Welschtirol. S. 35.

Quelle:
Zingerle, Ignaz Vinc. und Josef: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Innsbruck: Schwick, 1911, S. 294-299.
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