Schwammspinner, Dickkopf (Ocneria dispar)

[395] Der Schwammspinner, Dickkopf (Ocneria dispar), unterscheidet sich im Aderverlaufe der Flügel dadurch von den beiden vorigen, daß im Vorderflügel Rippe 10 aus 7 entspringt und im Hinterflügel Rippe 6 und 7 aus einem Punkte, nicht aus einem gemeinschaftlichen Stiele kommen. Die vier Sporen an den Hinterschienen haben beide Gattungen mit einander gemein. Den wissenschaftlichen Namen führt dieser Spinner mit voller Berechtigung; denn beide Geschlechter haben ein so verschiedenartiges Ansehen, daß der Unkundige jedes für eine besondere Art ansprechen könnte. Das kleinere, graubraune Männchen (Fig. 1, S. 396) hat einige mehr oder weniger ausgeprägte schwarze Zackenbinden über die Vorderflügel und lange Kammzähne an den Fühlern, welche ihnen die Umrisse eines Hasenohres verleihen. Das außerordentlich plumpe und träge Weibchen hat schmutzigweiße Flügel, deren vordere ähnliche schwarze Zackenbinden tragen und einen braunen, knopfartigen Haarwulst am Ende des häßlichen Hinterleibes. Beide sind Ende Juli oder im August der mattschwarzen Puppe entschlüpft. In den Abendstunden geboren, scheinen sie auch nur während der Nachtzeit berechtigt zu sein, den beiden Trieben zu folgen, von welchen allein nur alle vollkommenen Kerfe beseelt sind: zu leben und leben zu lassen. Kaum sind dem Männchen seine Schwingen gewachsen, so fliegt es in wilder Lust umher, wie ein Schatten gleitet es an uns vorüber und ist im Augenblicke wieder verschwunden, weil sein fledermausartiger Flug und die Dunkelheit uns nicht vergönnen, ihm mit den Augen zu folgen. Am anderen Tage finden wir es wieder, oder wenigstens seinen Bruder, an einer Wand, in dem Winkel eines Fensters, von der nächtlichen Schwärmerei ruhend. Sehr fest sitzt es aber nicht, wir brauchen ihm nur nahe genug zu kommen, daß es unsere Gegenwart merkt, so fliegt es davon, und weil die Störungen mannigfacher Art sein können, so geschieht es, daß wir an sonnigen oder schwülen Tagen die Thiere in ewiger Unruhe umherfahren sehen. Ganz anders das Weibchen. Träge sitzt es an Wänden oder Baumstämmen und bedeckt seinen häßlichen, dicken Hinterleib dachartig mit den nichts weniger als schönen Flügeln. Kann man durch einen Fußtritt den Baumstamm erschüttern, an welchem es hängt, so fällt es herab mit nach vorn gekrümmter Hinterleibsspitze, es der Mühe kaum werth erachtend, durch Flatterndem erhaltenen Stoße entgegenzuwirken. Nur bei anbrechender Dunkelheit erhebt es mühsam seine Flügel und taumelt um die Bäume, ein fetter Bissen für die beutelüsternen Fledermäuse. So bringt es seine kurze Lebenszeit hin, des Tages in fauler Ruhe, des Nachts in unbeholfenem Flattern, bis ein Männchen ihm Ruhe beigebracht hat, und muß sich, wie auch das Männchen, nur vom Thaue ernähren; denn an Blumen findet man beide nie. Endlich trifft man es [395] (Fig. 2) vor einem braunen, dem Feuerschwamme nicht unähnlichen Filze, einem »großen Schwamme«, sitzend. Wie der Goldafter und der Schwan beginnt es mit einem Schleimüberzuge, an welchem die unterste Schicht des Filzes hängen bleibt, welchen es seinem tiefbraunen Afterpolster entzieht. Hierauf kommt eine Lage Eier, dann eine weitere Haarschicht, und so fort, bis ein ansehnliches Häuflein ohne bestimmte Form an dem Baumstamme, der übertünchten Lehmwand, oder an ähnlichen, stets aber geschützten Stellen untergebracht ist. Je zahlreichere Schwämme im angeführten Sinne sichtbar werden, desto seltener werden die Weibchen, die Männchen waren bereits früher von der Schaubühne abgetreten. Erst in dem nächsten Frühjahre erwacht in den Eiern das Leben, wenn nicht ein sorgsamer Landwirt oder Gärtner die ihm zugänglichen bei Zeiten vertilgt hat, wobei jedoch eine gewisse Vorsicht nöthig ist. Sie an Ort und Stelle zu zerdrücken, ist mißlich, weil sie sehr hart sind und in dem federnden Filze eher wegspringen als sich zerdrücken lassen. Man muß sie daher sorgfältig abkratzen, auf einem untergehaltenen Papiere, Bretchen usw. sammeln und verbrennen, aber nur in kleineren Mengen, weil sie mit heftigem Knalle zerspringen.


Schwammspinner (Ocneria dispar), 1 Männchen, 2 Weibchen vor einem von ihm gelegten Eierschwamme, 3 Puppe, 4 Raupen auf sehr verschiedenen Altersstufen. Alles natürliche Größe.
Schwammspinner (Ocneria dispar), 1 Männchen, 2 Weibchen vor einem von ihm gelegten Eierschwamme, 3 Puppe, 4 Raupen auf sehr verschiedenen Altersstufen. Alles natürliche Größe.

Auf der weichen Unterlage sonnen sich in fröhlichem Gewimmel die schwarzen Räupchen, gehen jedoch bald auseinander, treffen aber an den Astgabeln, an der Unterseite der Aeste, um vor Nässe geschützt zu sein, immer wieder zusammen, und jede sieht zu, wo für sie der Tisch gedeckt ist. Sie gehört keineswegs zu den Kostverächtern; denn die Rosenblätter unserer Gärten, die Blätter der Eichen im Walde, der Weide am Bache, der Pappel an der Heerstraße und der verschiedensten Obstbäume sagen ihr ohne Unterschied zu. Es kommen Jahre vor, in denen sie durch ihre ungeheuere Menge zur Plage größerer Landstriche wird. So berichteten französische Blätter unter dem 14. Juli 1818: »Die schönen Korkeichenwälder, [396] welche sich von Barbaste bis zur Stadt Podenas im südlichen Frankreich erstrecken, sind in einer ganz verzweifelten Weise von der Raupe der Ocneria dispar vernichtet. Nachdem sie nicht nur die Blätter der Korkbäume, sondern auch die Eicheln dieses und des folgenden Jahres verschlungen hatten (die Frucht braucht ein Jahr, ehe sie reift), wurden unsere Mais- und Hirsefelder, unsere Futterkräuter und unsere sämmtlichen Früchte ihnen zur Beute. Die den Bäumen benachbarten Wohnungen sind von ihnen erfüllt und können den unglücklichen Eigenthümern nicht mehr zum Aufenthalte dienen. Selbst die Weinstöcke, die hier und da auf unserem Sandboden zerstreut wachsen, sind nicht verschont geblieben«. Ich selbst habe bei einer anderen Gelegenheit beobachtet, wie die Thiere sich unten auf dem Boden krümmten und mit dem Hungertode rangen, nachdem sie eine vereinzelte, an einem Felseneinschnitte wachsende Gruppe von Pflaumenbäumen vollständig entblättert hatten, und ihnen die Möglichkeit benommen war, mehr Futter zu erlangen; denn weitere Wanderungen danach unternehmen sie nicht, wie gewisse andere Raupen.


Ein Zwitter des Dickkopfes.
Ein Zwitter des Dickkopfes.

Im Jahre 1752 waren sie in Sachsen scharenweise vorhanden, so daß sie in den Gegenden von Altenburg, Zeitz, Naumburg, Sangerhausen nicht nur alle Obstbäume, sondern zum Theil ganze Wälder kahl abgefressen hatten. Die Figuren 4 überheben uns der näheren Beschreibung. Blaue und rothe, borstig behaarte Warzen ziehen in Reihen über den graubraunen Körper, und wenn die Raupe erst erwachsen ist, macht ein dicker Kopf, welcher aus den dichten Borsten hervorsieht, sie leicht vor dem übrigen Ungeziefer kenntlich. Zur Verpuppung zieht sie einige Fäden zwischen den Blattüberresten ihres letzten Weideplatzes oder zwischen Rindenrissen an den Stämmen und ist als Puppe (Fig. 3) ungemein ungehalten, wenn sie gestört wird; denn sie wirbelt und windet ihre Hinterleibsglieder lange, wenn man sie anfaßt. Sie bedarf nur wenige Wochen der Ruhe.

Wir sehen hier noch ein merkwürdiges Naturspiel, ein Männchen auf der rechten, ein Weibchen auf der linken Seite in einem lebenden Wesen vereinigt, welches am 28. Juli 1864 in Berlin erzogen worden ist. Zwitterbildungen finden sich in der Kerfwelt ab und zu immer einmal, wenn auch nicht in der Regelmäßigkeit des vorliegenden. Hagen hat 1861 ein Verzeichnis der Schmetterlingszwitter zusammengestellt, soweit er schriftliche Nachrichten darüber auffinden konnte, und bringt in demselben neunundneunzig zusammen, eine Zahl, welche sich seitdem vermehrt hat, wie schon der vorliegende Fall beweist.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 395-397.
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