Der Âtman und seine Hüllen.

[124] Taittirîya-Upanishad 2.


Stufenweises Durchdringen durch die Erscheinungsformen oder Hüllen des Âtman als materielle Natur (annarasamaya), als Lebensprinzip derselben (prâṇamaya), als Gegenstand des Opferkults (manomaya), als Gegenstand der Erkenntnis (vijñânamaya)[124] bis zum innersten Kern, welcher der nicht erkannte, sondern in unaussprechlicher Seligkeit als das eigne Ich empfundene Âtman ist (ânandamaya).


1. Om!


Der Brahmanwissende erlangt das Höchste. Darüber ist dieser Vers:


Als Realität, als Erkenntnis, als Wonne [Vulgata: als unendlich],

Wer so das Brahman kennt, in der Höhle [des Herzens] verborgen und im höchsten Raume,

Der erlangt alle Wünsche

In Gemeinschaft mit Brahman, dem allweisen.


Aus diesem Âtman, fürwahr, ist der Äther [Raum] entstanden, aus dem Äther der Wind, aus dem Winde das Feuer, aus dem Feuer das Wasser, aus dem Wasser die Erde, aus der Erde die Pflanzen, aus den Pflanzen die Nahrung, aus der Nahrung der Same, aus dem Samen der Mensch.


Dieser Mensch, fürwahr, ist aus Nahrungssaft bestehend (annarasamaya); an ihm ist dieses [hinzeigend] das Haupt, dieses die rechte Seite, dieses die linke Seite, dieses der Rumpf, dieses das Unterteil, das Fundament. Darüber ist auch dieser Vers [freie Çloka's]:


2.

Aus Nahrung geboren sind die Geschöpfe,

Alle, wie sie auf Erden sind,

Durch Nahrung haben sie ihr Leben,

In diese gehn sie ein zuletzt.[125]

Nahrung ist der Wesen ältestes,

Drum wird allheilend sie genannt.


Alle Nahrung erlangt einer,

Der Brahman als die Nahrung ehrt,

Nahrung ist der Wesen ältestes,

Drum wird allheilend sie genannt.


Aus Nahrung entstehn die Wesen,

Durch Nahrung wachsen sie weiter,

Wesen durch sich, sich durch Wesen,

Nährt sie, darum heisst Nahrung sie.


Von diesem aus Nahrungssaft bestehenden verschieden, dessen innerer Âtman (Selbst), ist der aus Lebenshauch bestehende (prâṇamaya); mit dem ist jener gefüllt [wie ein Schlauch mit Wind, Ça k.]; jener nun ist menschengestaltig, und gemäss seiner Menschengestaltigkeit ist auch dieser menschengestaltig. An ihm ist der Einhauch das Haupt, der Zwischenhauch die rechte Seite, der Aushauch die linke Seite, der Raum (Äther) der Rumpf, die Erde das Unterteil, das Fundament. Darüber ist auch dieser Vers:


3.

Dem Lebensodem nachatmen Götter,

Auch die Menschen und Tiere all,

Odem ist ja der Wesen Leben,

Drum wird All-Leben er genannt.


Zur vollen Lebensdauer kommt,

Wer Brahman als den Odem ehrt,

Odem ist ja der Wesen Leben,

Drum wird All-Leben er genannt.
[126]

Bei diesem ist sein [als Leib] verkörpertes Selbst das nämliche wie bei dem vorigen.


Von diesem aus Lebenshauch bestehenden verschieden, dessen innerer Âtman (Selbst), ist der aus Manas (Vorstellung, Wille, Wunsch) bestehende (manomaya); mit dem ist jener gefüllt; jener nun ist menschengestaltig, und gemäss seiner Menschengestaltigkeit ist auch dieser menschengestaltig. An ihm ist das Yajus das Haupt, die Ṛic die rechte Seite, das Sâman die linke Seite, die Anweisung [d.h. das Brâhmaṇam] der Rumpf, die Atharva- und A giras-Lieder das Unterteil, das Fundament. Darüber ist auch dieser Vers:


4.

Vor dem die Worte umkehren

Und das Denken, nicht findend ihn,

Wer dieses Brahman's Wonne kennt,

Der fürchtet nun und nimmer sich.


Bei diesem ist sein [als Leib] verkörpertes Selbst das nämliche wie bei dem vorigen.


Von diesem aus Manas bestehenden verschieden, dessen innerer Âtman (Selbst) ist der aus Erkenntnis bestehende (vijñânamaya); mit dem ist jener gefüllt; jener nun ist menschengestaltig, und gemäss seiner Menschengestaltigkeit ist auch dieser menschengestaltig. An ihm ist der Glaube das Haupt, die Gerechtigkeit die rechte Seite, die Wahrheit die linke Seite, die Hingebung (yoga) der Rumpf,[127] die Macht (mahas) das Unterteil, das Fundament. Darüber ist auch dieser Vers:


5.

Erkenntnis bringt er als Opfer,

Erkenntnis als die Werke dar,

Als Erkenntnis alle Götter

Ehren Brahman, das älteste.


Wer das Brahman als Erkenntnis

Weiss und nicht von ihm weichet ab,

Der lässt im Leibe die Übel

Und erlangt alles, was er wünscht.


Bei diesem ist sein [als Leib] verkörpertes Selbst das nämliche wie bei dem vorigen.


Von diesem aus Erkenntnis bestehenden verschieden, dessen innerer Âtman (Selbst) ist der aus Wonne bestehende (ânandamaya); mit dem ist jener gefüllt; jener nun ist menschengestaltig, und gemäss seiner Menschengestaltigkeit ist auch dieser menschengestaltig. An ihm ist Liebes das Haupt, Freude die rechte Seite, Freudigkeit die linke Seite, Wonne der Rumpf, Brahman das Unterteil, das Fundament. Darüber ist auch dieser Vers:


6.

Nichtseiend ist der gleichsam nicht,

Wer Brahman als nichtseiend weiss;

Wer Brahman weiss als Seiendes,

Ist dadurch selbst ein Seiender.


Bei diesem ist sein [als Leib] verkörpertes Selbst das nämliche wie bei dem vorigen.[128]

Da nun entstehen Fragen wie diese:


Ob irgendein Nichtwissender

Abscheidend geht in jene Welt?

Oder ob wohl der Wissende

Abscheidend jene Welt erlangt?


Er begehrte: »Ich will vieles sein, will mich fortpflanzen.« Da übte er Kasteiung. Nachdem er Kasteiung geübt, schuf er die ganze Welt, was irgend vorhanden ist. Nachdem er sie geschaffen, ging er in dieselbe ein. Nachdem er in sie eingegangen, war er

Seiendes und Jenseitiges,

Aussprechliches und Unaussprechliches,

Gegründetes und Grundloses,

Bewusstsein und Unbewusstsein,

Realität und Nichtrealität.

Als Realität ward er zu allem, was irgend vorhanden ist; denn dieses nennen sie die Realität. Darüber ist auch dieser Vers:


7.

Nichtseiend war dies zu Anfang;

Aus ihm entstand das Seiende,

Er schuf sich selbst wohl aus sich selbst,

Daher dies »wohlbeschaffen« heisst.


Was dieses Wohlbeschaffene ist, fürwahr, das ist die Essenz. Denn wenn einer diese Essenz empfängt, so wird er wonnevoll. Denn wer könnte atmen, wer leben, wenn in dem leeren Raume [âkâçe, in dem Nichts, aus dem die Welt entstanden] nicht jene Wonne wäre. Denn er ist es, der die Wonne schaffet. Denn[129] wenn einer in jenem Unsichtbaren, Unrealen, Unaussprechlichen, Unergründlichen den Frieden, den Standort findet, alsdann ist er zum Frieden gelangt. Wenn aber einer in jenem einen Zwischenraum, eine Trennung [oder »eine wenn auch kleine Trennung«, zwischen sich als Subjekt und dem Âtman als Objekt] annimmt, dann besteht sein Unfriede fort; es ist aber der Unfriede des, der sich weise dünket [indem er Brahman zum Objekt der Erkenntnis macht]. Darüber ist auch dieser Vers:


8.

Aus Furcht vor ihm der Wind läutert,

Aus Furcht vor ihm die Sonne scheint,

Aus Furcht vor ihm eilt hin Agni

Und Indra und der Tod zu fünft.


Dieses ist die Betrachtung über die Wonne.


Er, der hier im Menschen wohnt, und jener dort in der Sonne, die sind eins.

Wer, solches wissend, aus dieser Welt dahinscheidet, der gelangt in jenen aus Nahrungssaft bestehenden Âtman, und gelangt in jenen aus Lebenshauch bestehenden Âtman, und gelangt in jenen aus Manas bestehenden Âtman, und gelangt in jenen aus Erkenntnis bestehenden Âtman, und gelangt in jenen aus Wonne bestehenden Âtman.

Darüber ist auch dieser Vers:


9.

Vor dem die Worte umkehren

Und das Denken, nicht findend ihn,[130]

Wer dieses Brahman's Wonne kennt,

Der fürchtet sich vor keinem mehr.


Ihn, fürwahr, quälen nicht mehr die Fragen: »Welches Gute habe ich unterlassen?« – »Welches Böse habe ich begangen?« –

Wer, solches wissend, sich von diesen hin zum Âtman rettet, der rettet sich zugleich von beiden [Gutem und Bösem] hin zum Âtman, – wer solches weiss. – So lautet die Upanishad.

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. 124-131.
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