Vaitathyam, die Unwahrheit der empirischen Realität.

[198] Gauḍapâda's Kârikâ zur Mâṇḍûkya-Upanishad II.


1.

Alles, was wir im Traum sehen,

Ist unwahr, sagen Weise uns,

Weil alles dies nur inwendig,

Weil es in uns beschlossen liegt;


2.

Auch weil die Zeit zu kurz wäre

Zum Besuch ferner Gegenden,

Und weil wir ja beim Aufwachen

Nicht sind in jenen Gegenden.


3.

»Da sind nicht Wagen, nicht Strassen«,

Lehrt die Schrift und das Denken uns,

So ist des Träumens Unwahrheit

Erwiesen und auch offenbart.


4.

Weil Vielheit hier nur inwendig,

Ist sie es auch im Wachen nur;

Hier wie dort ist nur Vorstellung,

In uns beschlossen, hier wie dort.


5.

Des Träumens Zustand und Wachens

Als derselbe den Weisen gilt,

Denn gleich ist beiden die Vielheit, –

Aus diesem wohlerwiesnen Grund.


6.

Was nicht vorher und nicht nachher,

Ist auch nicht in der Zwischenzeit;

Obwohl es unwahr ist, wird es

Für nicht unwahr doch angesehn.
[199]

7.

Des Wachens Tun ist zweckmässig,

Aber nicht, wenn wir träumen, mehr;

Drum, weil es anfängt und aufhört,

Kann es auch nur auf Trug beruhn.


9.

Was er träumend im Geist bildet

Innerlich, das ist unreal,

Wiewohl sein Geist es griff draussen,

Als gesehn unwahr beides ist.


10.

Was er wachend im Geist bildet

Innerlich, das ist unreal,

Wiewohl sein Geist es griff draussen,

Folgerecht unwahr beides ist.


12.

Durch Selbsttäuschung der Gott Âtman

Stellt sein Selbst durch sich selber vor,

Erkennend beide Vielheiten, –

Feststeht dieser Vedântasatz.


14.

Geist ist des Innern Zeitmesser,

Die Vielheit der des Äusseren,

Ihr Unterschied liegt nur hierin,

Als Vorstellung sind beide gleich.


15.

Undeutlich ist die Welt drinnen,

Deutlich die Welt, die draussen liegt;

Dem Sinnorgan nach verschieden,

Sind als Vorstellung beide gleich.


17.

Wie ein Strick, nicht erkannt deutlich

Im Dunkeln, falsch wird vorgestellt

Als Schlange, als ein Strich Wassers,

So wird falsch vorgestellt das Selbst (âtman).


18.

Wie, wenn der Strick erkannt deutlich,

Und die falsche Vorstellung weicht,[200]

Er nur Strick bleibt unzweiheitlich,

So, wenn deutlich erkannt, das Selbst.


19.

Wenn er als Prâṇa's, als alle

Die vielen Dinge uns erscheint,

So ist das alles nur Blendwerk (mâyâ),

Mit dem der Gott sich selbst betrügt.


31.

Wie Traum und Blendwerk man ansieht,

Wie eine Wüstenspiegelung,

So sieht an dieses Weltganze,

Wer des Vedânta kundig ist.


32.

Kein Vergang ist und kein Werden,

Kein Gebundner, kein Wirkender,

Kein Erlösungsbedürftiger,

Kein Erlöster, der Wahrheit nach.


33.

Als unreale Seinsformen

Und als Einer wird er gedacht,

Doch wer sie denkt, ist stets Einer,

Drum die Einheit den Sieg behält.


34.

Nicht auf den Âtman stützt Vielheit

Und auch nie auf sich selber sich,

Nicht neben ihm und nicht durch ihn

Kann bestehn sie, das ist gewiss.


36.

Wer so erkannt der Welt Wesen,

Der halte an der Einheit treu;

Der Zweiheitlosigkeit sicher,

Geht er kalt an der Welt vorbei.


38.

Das Wesen in sich selbst sehend,

Das Wesen in der Aussenwelt,

Zu ihm werdend, in ihm ruhend,

Hält er treu an dem Wesen fest.

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. 198-201.
Lizenz:

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