1. Der ethische Teil (I-VI).

[8] Die verwandten Fürstengeschlechter der und Kuru's und Pâṇḍava's, deren bis zur gegenseitigen[8] Vernichtung geführter Kampf das Grundgewebe der ganzen Mahâbhâratadichtung bildet, stehen im sechsten Buche des Gesamtwerkes, dem die Bhagavadgîtâ eingeflochten ist, zum Kampfe gerüstet mit ihren Heeren einander gegenüber. Die Muscheln auf beiden Seiten werden zum Angriffe geblasen, Pauken und Trommeln werden gerührt, und Arjuna, der Hauptheld unter den Pâṇḍusöhnen, stürmt auf seinem von Kṛishṇa gelenkten Streitwagen zum Angriffe vor. Da sieht er in der gegenüberstehenden Schlachtordnung seine Verwandten, seine ehemaligen Freunde und Waffengenossen; Verzagtheit überkommt ihn, er sinkt auf dem Sitze seines Wagens nieder, lässt Pfeil und Bogen fallen und erklärt, dass er nicht imstande sei, gegen seine Freunde und Verwandten zu kämpfen. Da ergreift sein Wagenlenker Kṛishṇa das Wort, welcher eine der zehn Menschwerdungen (avatâra) des Vishṇu, wie dieser wieder eine populäre Personifikation des Brahman oder Âtman ist, und belehrt ihn im Verlaufe des ganzen Gedichtes darüber, dass es seine Pflicht sei, zu kämpfen. Leben und Tod, so sagt er, sind nur vorübergehende, bedeutungslose Zustände, welche unser wahres und ewiges Selbst, unseren Âtman, nicht berühren. Gleichwie ein Mann die alten Kleider ablegt und andere, neue anzieht, so legt der[9] Âtman, die Seele, die Leiber ab und geht auf dem Wege der Seelenwanderung (samsâra) in andere und immer wieder andere Leiber ein. Jede der vier von Brahman als Weltschöpfer eingesetzten Kasten hat ihre besondere Aufgabe zugewiesen erhalten, und die Pflicht der Kriegerkaste, zu welcher Arjuna gehört, ist es, zu kämpfen. Dies ist, wie es S. 15, 39 heisst, der Standpunkt des Sânkhyam, der berechnenden Überlegung, und ihm stellt der Heilige in der folgenden Erörterung den Yoga, den Standpunkt der Hingebung, gegenüber, wobei die Begriffe Sânkhyam und Yoga hier wie weiterhin in ihrer ursprünglichen Bedeutung und noch nicht im Sinne der späteren, diese Namen tragenden philosophischen Systeme gebraucht werden. Die Hingebung an das Werk, der Yoga, besteht aber darin, wie das folgende entwickelt und immer wieder aufs neue einschärft, dass man seine Pflicht tut nicht aus Hoffnung auf Lohn oder Furcht vor Strafe, sondern ohne Verlangen nach einer Frucht der Werke, ohne Anhänglichkeit (sa ga) an das Leben und seine Genüsse; S. 24, 19: »Darum betreibe allezeit die obliegende Pflicht ohne Anhänglichkeit; denn wer ohne Anhänglichkeit seine Pflicht erfüllt, der Mann erlangt das Höchste.« Dieses Höchste aber besteht in der Abstreifung alles dessen, was als Natur [10] (prakṛiti) uns anhängt und unserem wahren Wesen, unserem Âtman (Selbst) oder Purusha (Geist) fremd ist. Dies ist die Erkenntnis, welche den Weisen von dem Unweisen unterscheidet, und aus welcher die Erfüllung der Pflicht ohne Anhänglichkeit an den Lohn der Werke entspringt. Wer diese Erkenntnis besitzt, der schaut sein eigenes Selbst in allen Wesen und alle Wesen in dem eigenen Selbste (S. 47, 29), der schaut, wie der unmittelbar darauffolgende Vers sagt, den Allgott, welcher als Kṛishṇa diese Belehrung erteilt, in allen Wesen, fühlt sich eins mit diesem Allgott, ist ihm in Liebe und Verehrung zugetan und wird, »durch mannigfache Geburten geläutert, endlich den höchsten Weg gehen«.

Quelle:
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahâbhâratam. Leipzig 1911, S. VIII8-XI11.
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