Die einzelnen Linien

[122] Anfangs eine Neun bedeutet:

Die Fußspuren laufen kreuz und quer.

Wenn man ernst dabei ist: kein Makel.


[122] Es ist früher Morgen. Die Arbeit beginnt. Nachdem im Schlaf die Seele von der Außenwelt abgeschlossen war, fangen nun die Beziehungen zur Welt wieder an. Kreuz und quer laufen die Spuren der Eindrücke. Es herrscht eilige Geschäftigkeit. Wichtig ist dabei, die innere Sammlung zu bewahren, sich nicht mitreißen zu lassen von dem Getriebe des Lebens. Wenn man ernst und gesammelt ist, so erlangt man die nötige Klarheit zur Auseinandersetzung mit den zahlreichen Eindrücken, die auf einen einstürmen. Gerade zu Anfang ist solch gesammelter Ernst besonders wichtig; denn der Anfang enthält die Keime zu allem Weiteren.


Û Sechs auf zweitem Platz bedeutet:

Gelber Schein. Erhabenes Heil.


Der Mittag des Tages ist erreicht. Die Sonne strahlt in gelbem Schein. Gelb ist die Farbe der Mitte und des Maßes. Gelber Schein ist daher das Bild vollkommener Kultur und Kunst, deren höchste Harmonie im Maß besteht.


Neun auf drittem Platz bedeutet:

Beim Schein der untergehenden Sonne

schlagen die Menschen entweder auf den Topf und singen,

oder sie seufzen laut über das nahende Greisenalter.

Unheil.


Hier ist das Ende des Tages. Der Schein der niedergehenden Sonne erinnert an die Bedingtheit und Vergänglichkeit des Lebens. In dieser äußeren Unfreiheit werden die Menschen meist auch innerlich unfrei. Entweder ist ihnen die Vergänglichkeit ein Antrieb zu um so ausgelassenerer Lustigkeit, um das Leben zu genießen, solange es noch da ist, oder sie lassen sich von der Trauer hinreißen und verderben sich durch die Klage um das nahende Alter die kostbare Zeit. Beides ist vom Übel. Dem Edlen ist ein früher oder später Tod nicht zweierlei. Er pflegt seine Person und wartet sein Los ab und festigt dadurch sein Schicksal.


Neun auf viertem Platz bedeutet:

Plötzlich ist sein Kommen;

es brennt auf, erstirbt, wird weggeworfen.


Die Klarheit des Verstandes verhält sich zum Leben wie das Feuer zum Holz. Das Feuer haftet am Holz, aber es verzehrt auch das Holz. Die Verstandesklarheit wurzelt im Leben, aber sie kann das Leben auch verzehren. Es handelt sich darum, wie sie sich betätigt. Hier ist das Bild eines Meteors oder Strohfeuers gezeichnet.[123] Ein aufgeregter, unruhiger Charakter kommt zu raschem Aufstieg. Aber es fehlen die nachhaltigen Wirkungen. Unter diesen Umständen ist es vom Übel, zu rasch sich auszugeben und als Meteor sich zu verzehren.


Û Sechs auf fünftem Platz bedeutet:

Weinend in Strömen, seufzend und klagend. Heil!


Hier ist der Höhepunkt des Lebens. Ohne Warnung würde man in dieser Position sich verzehren wie eine Flamme. Wenn man statt dessen Furcht und Hoffnung aufgibt, die Nichtigkeit von allem einsieht und weint und seufzt, besorgt, seine Klarheit zu wahren, so kommt aus dieser Trauer Heil. Es handelt sich hier um wirkliche Umkehr, nicht wie bei Neun auf drittem Platz nur um eine vorübergehende Stimmung.


Oben eine Neun bedeutet:

Der König gebraucht ihn, auszuziehen und zu züchtigen.

Am besten ist es dann, die Häupter zu töten

und die Nachläufer gefangenzunehmen. Kein Makel.


Der Zweck der Züchtigung ist, Zucht zu schaffen, nicht blindlings Strafe walten zu lassen. Es gilt, das Übel an der Wurzel zu heilen. Im Staatsleben gilt es, die Rädelsführer zu beseitigen, aber die Mitläufer zu schonen. Bei der Selbstbildung gilt es, schlechte Gewohnheiten auszurotten, aber harmlose Gewohnheiten zu dulden. Denn allzu strenge Askese führt wie allzu strenge Strafgerichte zu keinem Erfolg.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 122-124.
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