Kapitel I

Über Zeichen und Linien, Schaffen und Wirken

§ 1

[301] Indem die acht Zeichen der Vollendung nach geordnet sind, sind die Bilder darin enthalten. Indem sie daraufhin verdoppelt werden, sind die Linien darin enthalten.


Vgl. Abt. I, Kap. II, § 1. Die Reihenfolge nach der Vollendung ist 1. Kiën, 2. Dui, 3. Li, 4. Dschen, 5. Sun, 6. Kan, 7. Gen, 8. Kun.

Die Einzelzeichen enthalten nur die Bilder (Ideen) dessen, das sie vorstellen. Die Einzelstriche kommen erst bei den Doppelzeichen in Betracht, weil erst in den Doppelzeichen der ganze Organismus von oben und unten, innen und außen usw. hervortritt.


§ 2

Indem die Festen und Weichen einander verdrängen, ist die Veränderung darin enthalten. Indem die Urteile beigefügt werden mit ihren Anweisungen, ist die Bewegung darin enthalten.


Vgl. Abt. I, Kap. II, § 2. Durch den Wechsel der festen und weichen Striche erscheint die Veränderung (und Umgestaltung). Die Urteile geben ihre Anweisungen durch die beigefügten Orakel: Heil und Unheil usw.


§ 3

Heil und Unheil, Reue und Beschämung entstehen durch die Bewegung.


Vgl. Abt. I, Kap. II, § 3. Heil und Unheil, Reue und Beschämung treten in die Erscheinung erst dadurch, daß man entsprechend handelt.


§ 4

Die Festen und Weichen stehen fest, wenn sie an ihrem ursprünglichen Platz sind. Ihre Veränderungen und Zusammenhänge sollen der Zeit entsprechen.


Es gibt einen Gleichgewichtszustand, wenn die festen Striche auf festem Platz, die weichen auf weichem Platz stehen. Allein dieser abstrakte Gleichgewichtszustand muß der Veränderung und Neuorganisierung weichen, wenn es die Zeit erfordert. Die Zeit, d.h. die durch ein Zeichen dargestellte Gesamtsituation spielt eine wichtige Rolle für die Stellung der einzelnen Striche.


§ 5

[301] Heil und Unheil gelangen durch Beharrlichkeit zur Wirkung. Der SINN von Himmel und Erde wird durch Beharrlichkeit sichtbar. Der SINN von Sonne und Mond wird durch Beharrlichkeit hell. Alle Bewegungen unter dem Himmel werden durch Beharrlichkeit einheitlich.


Das Geheimnis der Wirkung liegt in der Dauer. Heil und Unheil bereiten sich langsam vor. Nur indem dauernd eine Richtung befolgt wird, häufen sich allmählich die Einzelwirkungen so an, daß sie nach außen hin als Heil oder Unheil in die Erscheinung treten. Ebenso sind Himmel und Erde Wirkungen von dauernden Zuständen. Indem alle lichten, klaren Kräfte dauernd nach oben steigen, alle festen und trüben Bestandteile dauernd nach unten sinken, sondert sich aus dem Chaos der Kosmos, der Himmel oben und die Erde unten, ab. Ebenso ist es mit dem Lauf von Sonne und Mond; ihre Verhältnisse des Leuchtens sind Wirkungen von dauernden Bewegungen und Gleichgewichtszuständen; und so fahren sich für alle Bewegungen und Handlungen, die dauernd fortgesetzt werden, bestimmte Geleise ein, die dann zu Gesetzen werden. Naturgesetze sind demnach nicht etwas, das ein für allemal abstrakt feststünde, sondern sie sind Dauerwirkungen, die das Gesetzmäßige je länger, desto deutlicher hervortreten lassen.


§ 6

Das Schöpferische ist entschieden und zeigt den Menschen daher das Leichte. Das Empfangende ist nachgiebig und zeigt den Menschen daher das Einfache.


Die beiden Grundprinzipien bewegen sich je nach den Erfordernissen der Zeit, so daß sie sich in dauerndem Wandel befinden. Aber die Art ihrer Bewegungen ist in sich einheitlich und konsequent. Das Schöpferische ist immer stark, entschieden, wirklich, und darum hat es keine Schwierigkeiten. Es bleibt sich selber immer treu, und darauf beruht seine Leichtigkeit. Schwierigkeiten sind immer Unklarheiten und Schwankungen. Ebenso ist das Empfangende in seiner Art immer sich gleichbleibend nachgiebig, der Linie des geringsten Widerstands folgend und darum einfach. Kompliziertheiten entstehen nur aus innerlich einander widerstrebenden Motiven.


§ 7

Die Striche ahmen das nach. Die Bilder bilden das nach.


[302] Es wird hier eine Wortdefinition von Strichen und Bildern gegeben. Strich heißt chinesisch Hiau, nachahmen heißt ebenfalls Hiau (nur anders geschrieben). Bild und nachbilden heißt Siang (ebenfalls verschieden geschrieben). Die Striche ahmen in ihren Änderungen es nach, wie Heil und Unheil in der Bewegung durch die Dauer entsteht. Die Bilder bilden ab, wie alle Veränderungen und Zusammenhänge des Festen und Weichen im Leichten und Einfachen münden.


§ 8

Die Striche und Bilder bewegen sich im Innern, und Heil und Unheil offenbaren sich im Äußern. Werk und Wirkungsfeld offenbaren sich in den Veränderungen, die Gefühle der heiligen Weisen offenbaren sich in den Urteilen.


Die Bewegungen der Striche und Bilder und der durch sie symbolisierten kleinsten Geschehenskeime sind unsichtbar, aber ihre Wirkungen zeigen sich in Heil und Unheil in der sichtbaren Welt. Ebenso sind die Veränderungen, die sich auf Werk und Wirkungsfeld beziehen, unsichtbar, werden aber geoffenbart durch die Worte der Urteile.


§ 9

Die große Art von Himmel und Erde ist es, Leben zu spenden. Der große Schatz des heiligen Weisen ist es, am rechten Platz zu stehen.

Wodurch bewahrt man diesen Platz? Durch die Menschen. Wodurch sammelt man die Menschen um sich? Durch Güter. Die Ordnung der Güter und Richtigstellung der Urteile, die die Menschen abhalten, Böses zu tun, ist die Gerechtigkeit.


Es wird hier der Zusammenhang der drei Mächte gezeigt: Himmel und Erde spenden Leben. Der heilige Weise hat dieselbe Gesinnung. Um sie aber durchführen zu können, bedarf er der Stellung als Herrscher. Diese Stellung wird bewahrt durch die Menschen, die sich unter einem sammeln. Die Menschen werden angezogen durch die Güter. Die Güter werden verwaltet und geschützt gegen Unrecht durch Gerechtigkeit.

Es ist hier eine Staatstheorie auf kosmischer Grundlage gegeben, die den Anschauungen der konfuzianischen Schule entspricht. Manche Kommentare wollen diesen Paragraphen als Einleitung zum nächsten Kapitel stellen, was insofern eine gewisse Berechtigung hat, als das nächste Kapitel an der Hand des Buchs der[303] Wandlungen einen Überblick über die Entwicklung der Kulturgeschichte gibt.

(Die Lesart »Gütigkeit« für »Menschen« in dem Satz: »Wodurch bewahrt man diesen Platz? Durch Menschen« wird durch den Zusammenhang widerlegt.)

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 301-304.
Lizenz:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon