5. Die historische Entstehung der Sitte

[58] Yen Yen fragte und sprach: »Darf ich, Meister, das Letzte hören, was Ihr über die Sitte zu sagen habt?« Meister Kung sprach: »Ich wollte den Weg des Hauses Hia schauen, darum ging ich nach Ki. Aber sie konnten mir keine Bestätigung bieten. Doch fand ich wenigstens die Zeitrechnung der Hia vor. Ich wollte den Weg des Hauses Yin schauen, darum ging ich nach Sung. Aber dort konnte ich keine Aufklärung finden. Doch erhielt ich wenigstens das Buch der Wandlungen, in dem das Empfangende an erster und das Schöpferische4 an zweiter Stelle stand. Der Sinn dieser Reihenfolge des Empfangenden und des Schöpferischen, die Ordnung der Zeiteinteilung von Hia, die waren es, woran ich den Weg dieser beiden Dynastien erkannte.

Der Anfang der Sitte liegt beim Essen und Trinken. In der allerältesten Zeit röstete man die Körner auf erhitzten Steinen und zerlegte das Fleisch mit den Fingern. Man höhlte Erdlöcher aus als Töpfe und schöpfte mit den hohlen Händen. Man hatte Trommelschlegel aus Grasstengeln und Trommeln aus Ton. Und doch konnte man auch damit seine Ehrfurcht vor Geistern und Göttern bezeugen.

Trat ein Todesfall ein, so stieg man auf das Dach und rief:[58] ›Oh, N.N., komm zurück!‹ und darauf gab man dem Toten Reis in den Mund und legte ein Bündel von Fleisch an seine Seite. So blickte man zum Himmel empor und bettete ihn in die Erde; denn Körper und Körperseele sinken nach abwärts, das Bewußtsein aber und die Atemseele steigen noch oben. Darum richtete man des Toten Haupt nach Norden, während der Lebende nach Süden blickt. In beidem blieb es, wie es zu Anfang war. In der alten Zeit hatten die Könige noch keine Paläste und Häuser. Im Winter wohnte man in ausgegrabenen oder aus Erde gehäuften Höhlen, im Sommer wohnte man in Baumnestern. Sie hatten noch nicht die verwandelnde Kraft des Feuers, sondern aßen die Samen von Gräsern und Bäumen und das rohe Fleisch von Vögeln und Tieren. Sie tranken ihr Blut und verschlangen sie mit Haut und Haaren. Sie kannten noch nicht den Hanf und die Seide, sondern kleideten sich in Federn und Felle.

Als nun später berufene Heilige auftraten, da erst zähmte man des Feuers Kraft. Man schmolz Metalle und formte Töpferwaren. Man schuf Terrassen, baute baumbestandene Aussichtspunkte, Paläste und Häuser mit Fenstern und Türen. Man röstete, man erhitzte mit Steinen, man briet im Kessel, man briet am Spieß. Man bereitete Met und Sauermilch. Man verwandte Seide und Hanf, um Linnen und Seidenstoffe zu machen zur Pflege der Lebenden, zur Mitgabe an die Toten und zum Dienst der Geister und Götter und des höchsten Herrn. Alle diese Dinge befolgt man noch immer, wie jene sie begonnen.

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offenbar Reste alter matriachalischer Anschauungen deren Wirkungen sich bei Lau Dsï (Laotse) und dem Taoismus noch finden.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 58-59.
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