III. Teil
Der Mensch in seiner kosmischen Stellung

[64] Der Mensch vereint in sich die Geisteskräfte von Himmel und Erde; in ihm gleichen sich die Prinzipien des Lichten und Schattigen aus5; in ihm treffen sich die Geister und Götter; in ihm finden sich die feinsten Kräfte der fünf Wandelzustände6. Der Himmel läßt die Kraft des Lichten wirken, die sich als Sonne und Sterne versichtbart. Die Erde läßt die Kraft des Schattigen wirken, die sich auswirkt in Bergen und Flüssen. Sie verteilt die fünf Wandelzustände auf die vier Jahreszeiten, und durch deren Harmonie entsteht der Mond. Darum wird er nach dreimal fünf Tagen voll und nach dreimal fünf Tagen dunkel7. Die fünf Wandelzustände erschöpfen sich bei ihren Bewegungen und lösen einander ab. Die fünf Wandelzustände, die vier Zeiten, die zwölf Monate[64] bilden einen Kreislauf, indem sie auseinander entstehen8. Die fünf Klänge, die sechs Rohre, die zwölf Pfeifen bilden der Reihe nach den Grundton. Die fünf Geschmacksrichtungen9, die sechserlei Zubereitungsarten, die zwölferlei Speisen bilden der Reihe nach die Grundlagen der Mahlzeiten. Die fünf Farben10, die sechsfache Buntheit, die zwölferlei Gewänder bilden der Reihe nach die Grundlagen der Kleidung. Darum ist der Mensch das Herz von Himmel und Erde und der Keim der fünf Wandelzustände. Er nährt sich von ihrem Geschmack, er unterscheidet ihre Klänge, er kleidet sich in ihre Farben und lebt davon. Der Heilige nimmt deshalb bei seiner Gesetzgebung stets Himmel und Erde zur Grundlage, das Lichte und Schattige zu Mitteln, die vier Jahreszeiten zur Handhabe, Sonne und Sterne zur Zeitberechnung, den Mond zum Maß, die Geister und Götter zu Gehilfen, die fünf Wandelzustände zum Stoff, die Sitten und die Pflicht zum Werkzeug, die Gefühle der Menschen zum Ackerfeld und die vier Herrscher im Tierreich zu Pfleglingen. Wenn man Himmel und Erde zur Grundlage nimmt, so kann man alle Dinge erreichen. Wenn man das Lichte und Schattige zu Mitteln nimmt, so kann man die Gefühle der Menschen ergründen. Wenn man die vier Jahreszeiten zur Handhabe nimmt, so kann man Eifer in die Arbeiten bringen. Wenn man Sonne und Sterne zur Zeitberechnung nimmt, so kann man Reihenfolge in die Arbeiten bringen. Wenn man den Mond zum Maßstab nimmt, so finden sich für die Werke die nötigen Begabungen11. Wenn man Geister und Götter zu Gehilfen nimmt, so steht jede Arbeit unter sicherem Schutz. Wenn man die fünf Wandelzustände12 zum Stoff nimmt, läßt sich jede Arbeit wiederholen. Wenn man Sitte und Pflicht zum Werkzeug nimmt, so kommt jede Arbeit und jede Handlung zu einem guten Ende. Wenn man die Gefühle der Menschen zum Ackerfeld nimmt, so nehmen einen die Menschen als Schutzgeist an. Wenn man die vier Herrscher im Tierreich zu Pfleglingen nimmt, so versiegen die Quellen der Nahrung nicht. Wer sind die vier Herrscher des Tierreichs? Es sind das Kilin (Einhorn), der Phönix, die Schildkröte, der Drache. Hat man den Drachen zum Pflegling, so schwimmen die Fische nicht davon. Hat man den Phönix zum Pflegling, so fliegen die[65] Vögel nicht davon. Hat man das Kilin zum Pflegling, so laufen die vierfüßigen Tiere nicht davon. Hat man die Schildkröte zum Pflegling, so verirren sich die Gefühle der Menschen nicht13.

5

Yin, die schattige, negative Kraft, und Yang, die lichte, positive.

6

Wu Hing: Holz, Feuer, Metall, Wasser, Erde. Wenn irgendwo, so wird hier klar, daß es sich nicht um »Elemente« handelt. Man verbaut sich das Verständnis durch den Ausdruck »Element« vollkommen. Holz ist das organisch von innen sich Gestaltende, Feuer ist das Emporsteigende, Metall das von außen mechanisch Gestaltete, Wasser das nach unten Sinkende, die Erde ist der gemeinsame Mutterboden.

7

Um dieser Stelle Sinn abzugewinnen, muß man sich gegenwärtig halten, daß Yüo im Chinesischen gleichzeitig Mond und Monat bedeutet. Es liegt das uralte Problem des Ausgleichs des Sonnen- und Mondumlaufs zugrunde. Der Mond dient einerseits zur Einteilung des Jahres, aber andererseits muß erst das Jahr festliegen, um die Monate darin zu verteilen, von denen nach chinesischer Rechnung drei auf den Frühling, drei auf den Sommer, drei auf den Herbst und drei auf den Winter fallen. Die Jahreszeiten sind nach unsrer Stelle im letzten Grund tellurischen Ursprungs, Wirkungen der vier Grundkräfte: Holz = organisches Wachstum = Frühling; Feuer = Hitze, Emporsteigen = Sommer; Metall = Absterben der Natur, Ernte = Herbst; Wasser = Sammeln, Niedergang = Winter. (Die Erde ist in allen vier Jahreszeiten mit gegenwärtig.) Das sozusagen Geistige (Ki) dieser vier irdischen Kräfte wirkt aber vom Himmel her als Witterung. Nach den so entstandenen Jahreszeiten richten sich die Monate, die durch die Phasen des Mondes in Erscheinung treten. (Daß es sich dabei immer um Mondmonate handelt, ist selbstverständlich.) Erst nachdem die Sonnenbahn und ihr Verhältnis zu den Jahreszeiten feststeht, läßt sich bestimmen, welches der erste Monat, welches der zweite usw. ist. Der Mond als abgeleitete, nicht ursprüngliche Erscheinung richtet sich daher in seinem Ab- und Zunehmen nach seiner Entfernung von der bzw. Annäherung an die Sonne. Darum auch wird er nicht wie die Sonne als kosmische (d.h. himmlische) Erscheinung, sondern als zur Erde gehörig aufgefaßt. Drei und Fünf sind Yangzahlen, die auf diese Weise das Yinprinzip beherrschen.

8

Die fünf Klänge sind: Gung (Grundton, Tonika), Schang (Sekunde), Güo (Terz), Dschï (Quinte), Yü (Sexte). Die chinesische Tonleiter kennt die Quart und die Septime nicht. Dagegen sind die zwölf Halbtöne der Oktave in den zwölf Pfeifen (sechs Lü-Yang-Töne, d.h. ganze Töne, und sechs Lü-Yin-Töne, d.h. halbe Töne). Jedem Monat ist eine der zwölf Pfeifen als Tonika zugeordnet.

9

1. sauer im Frühling, 2. bitter im Sommer, 3. scharf im Herbst, 4. salzig im Winter, 5. süß, 6. gargekocht (Zubereitung). Nr. 5 und 6 sind durchgehend. Jeder Monat hat seine bestimmte Speise.

10

Die fünf Farben sind: 1. Grün = Frühling, 2. Rot = Sommer, 3. Weiß = Herbst, 4. Schwarz = Winter, 5. Gelb. Jede Farbe soll in der entsprechenden Jahreszeit die vorherrschende sein. Was das sechste ist, das zu den fünf Farben hinzukommt, darüber sind die Kommentare uneins. Nach den einen sind es die zweimal sechs Embleme der kaiserlichen Gewänder: 1. Sonne, 2. Mond, 3. Sterne, 4. Berge, 5. Drachen, 6. Fasanen auf dem Obergewand; 7. Opfergefäße, 8. Algen, 9. Flammen, 10. Reiskörner, 11. Beilmäander, 12. einfache Mäander auf dem Untergewand. Nach anderen ist die sechsfache Buntheit, die zu den fünf Farben hinzukommt, die dunkle Himmelsfarbe (= Blau) oder das Wasser, das die Farben löst; vermutlich ist es das Glänzende.

11

Jeder Monat bringt Menschen von besonderer Anlage hervor. (Vgl. Astrologie.)

12

Weil diese Wandelzustände Metall, Feuer, Wasser, Erde, Holz einen Kreislauf bilden, durch den jeder wieder mit der Zeit in einen anderen Zustand übergeht und aus ihm sich wieder zurückverwandelt.

13

Die Schildkröte wurde zum Orakel benützt.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 64-66.
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