15. Verschiedene Fürstenschicksale

[261] In alter Zeit gelangte Yü durch die Herrschaft über die Hia zum Königtum, und Gië ging durch die Herrschaft über die Hia zugrunde. Tang gelangte durch den Besitz von Yin zum[261] Königtum, und Dschou Sin ging durch den Besitz von Yin zugrunde. Ho Lü gelangte durch den Besitz von Wu zum Sieg über alle seine Feinde, und Fu Tschai wurde dadurch von Yüo zum Kriegsgefangenen gemacht. Der Herzog Wen gelangte durch den Besitz des Staates Dsin zur Vorherrschaft, und der Herzog Li wurde ermordet im Schloß der Familie Dsiang Li. Der König We wurde durch den Besitz von Tsi mächtig auf Erden, und der Herzog Giën wurde ermordet in Tan Tai. Der Herzog Mu wurde durch den Besitz von Tsin berühmt und geehrt, der zweite Kaiser (Erl Schï, Sohn des Tsin Schï Huang Di) wurde erstochen im Schloß Wang I. An fürstlicher und königlicher Macht waren alle diese Männer einander gleich, aber was sie damit erreicht haben, war verschieden, weil sie sich unterschieden in den Männern, auf die sie trauten. So war der König Tschong als Wickelkind imstande, die Fürsten an seinem Hof zu versammeln, weil der Herzog von Dschou für ihn die Regierung führte. Der König Wu Ling wurde mit fünfzig Jahren in Scha Kiu ermordet, weil er sich auf den Li Dui verlassen hatte. Als der Herzog Huan von Tsi den Guan Dschung zum Minister bekommen hatte, da versammelte er neunmal die Landesfürsten und einigte das Weltreich und wurde zweimal zum Ehrenkönig gewählt. Als er den Guan Dschung verloren hatte und sich auf den Schu Diau und Di Ya verließ, da blieb er nach seinem Tode unbeerdigt liegen und wurde zum Gelächter der Welt. So wirkt sich während eines Menschenlebens Ehre und Schande aus, je nachdem die Menschen sind, auf die man sich verläßt.

So hatte der Fürst von We den Prinzen Wu Gi und erlangte die von Tsin geraubten Gebiete wieder. Der Staat Dschau gewann den Ling Siang Ju, und Tsin wagte sich nicht mehr hervor. An Ling betraute den Dschou Dschan, und die Bürger des Staates wurden unabhängig. Tschu hatte den Schen Bau Sü, und der König Dschau (Ho Lü von Wu) mußte sich zurückziehen. In Tsi gab es den Tiën Dan, und der König Siang konnte sich in den Besitz des Staates setzen.

Von hier aus betrachtet, ist es klar, daß noch nie ein Herrscher ohne tüchtige Gehilfen und Helden ein Werk vollbracht und sich einen Namen gemacht, Gefahr beseitigt und[262] den bedrohten Bestand des Staates gesichert hat. Darum kommt es bei einem Reich nicht auf die Größe an, sondern darauf, daß man das Herz der Bürger gewinnt; bei den Gehilfen kommt es nicht auf die Menge an, sondern darauf, daß man tüchtige Beamte bekommt. Denn wer das Herz der Bürger gewinnt, dem folgen die Leute, und wer tüchtige Gehilfen hat, dem fallen die Staatsmänner zu. Der König Wen bat, die Strafe der glühenden Säule abzuschaffen, und die Leute von Yin schlossen sich ihm an. Tang hatte bei den Hofjagden den Brauch abgeschafft, auf drei Seiten Treibnetze aufzustellen, und Himmel und Erde stellten sich bei ihm ein. Der König von Yüo mißhandelte nicht die alten Geschlechter, und die Leute von Wu unterwarfen sich: Sie alle erreichten das, weil sie zuerst den Menschen gegenüber vorsichtig waren.

Daß, wenn der Ruf zur Gemeinschaft verschieden ist, das Echo der Gesinnung dennoch übereinstimmen sollte, hat man noch nie gesehen. Aber diejenigen, die sich zu den Tüchtigen halten und sie an ihrem Hofe einsetzen, zu denen eilen gemeinsam alle Helden auf Erden herbei.

Woher weiß man, daß das so ist? Guan Dschung war der Feind des Herzogs Huan. Bau Schu war der Meinung, daß er noch tüchtiger sei als er selbst. Darum empfahl er ihn dem Herzog Huan. Dieser hatte kaum siebzig Worte von ihm vernommen, da hörte er auf ihn und stellte ihn an. Der Herzog Huan tat ab seine feindliche Gesinnung und beauftragte ihn mit der Regierung des Staates. Da konnte der Herzog Huan in Muße die Hände in den Schoß legen und die Landesfürsten an seinem Hof empfangen. Das war das Verdienst des Bau Schu. Warum Guan Dschung sich nach Norden wandte und sich dem Herzog Huan unterwarf ohne die Befürchtung, daß er sich dadurch in Gefahr begebe, das war, weil er mit Bau Schu in der Gesinnung übereinstimmte.

Zur Zeit des Herzogs Ling von We war Gü Bo Yü zwar tüchtig, aber nicht im Dienst. Mi Dsï Hia war untüchtig, hatte aber die Macht in Händen. Der Großschreiber Tsiu litt darunter. Verschiedene Male erwähnte er, daß Gü Bo Yü tüchtig sei, aber er wurde nicht gehört. Da wurde er auf den Tod krank. Er sprach zu seinem Sohn: »Ich werde jetzt sterben. Du sollst die Beerdigungsfeier in der Nordhalle herrichten.[263] Ich habe es während meines Lebens nicht fertiggebracht, den Gü Bo Yü zu Einfluß zu bringen und den Mi Dsï Hia zu beseitigen. Das heißt: Ich habe nicht vermocht, meinem Fürsten zum Rechten zu verhelfen. Darum gebührt es mir nicht, nach meinem Tode die vollen Ehren zu empfangen, und es ist genug, wenn du meinen Leichnam in die nördliche Halle stellst.« Als der Herzog Ling nun kam, um sein Beileid zu bezeugen, da fragte er, warum der Leichnam im Nebenraum aufgebahrt sei. Darauf berichtete der Sohn die Worte seines Vaters. Da erblaßte der Herzog Ling vor Beschämung und sprach: »Das ist mein Fehler.« Sofort berief er den Gü Bo Yü und erhob ihn und (berief) den Mi Dsï Hia und entließ ihn. Darauf ordnete er an, daß die Totenfeier in allen Ehren in der Haupthalle abgehalten werden solle. Dann erst ging er weg. So kam der Staat We in Ordnung. Das war das Verdienst des Großschreibers Tsiu. Sein Leben lang einen tüchtigen Mann zu empfehlen und vor einem untüchtigen zu warnen und damit selbst im Tode nicht aufzuhören, sondern noch als Leiche den Warner zu spielen, das mag man unerschütterliche Treue nennen.

Der Tyrann Dschou Sin tötete den Prinzen Bi Gan. Da ließ der Prinz Gi Dsï sein Haar wirr hängen und stellte sich wahnsinnig. Der Herzog Ling von Tschen ließ den I Ye töten. Da verließ Dong Yüan den Staat Tschen mit seinem ganzen Stamm. Von da ab fiel das Reich von Yin an Dschou, und der Staat Tschen ging durch Tschu zugrunde, weil sie durch die Ermordung des Bi Gan und des I Ye Leute wie den Prinzen Gi Dsï und den Dong Yüan verloren hatten.

Der König Dschau von Yen erlangte den Guo Gui. Da kamen die Gelehrten Dsou Yen und Yüo I mit ihrem ganzen Anhang aus Tsi herbei. Darauf rüstete er ein Heer, griff Tsi an und fing den König Min in Gü. Das Gebiet des Staates Yen war lange nicht so groß wie das von Tsi, aber weil der König es so gut vermocht hatte, seine Gesinnung kundzutun, darum hat er die besten Staatsmänner bekommen.

Darum: Es gibt kein Reich, das ewig in Frieden wäre; es gibt kein Volk, das von selbst in Ordnung bliebe. Sondern wenn man tüchtige Männer bekommt, so vermag man sein Reich im Frieden zu erhalten; wenn man die tüchtigen Männer[264] verliert, so kommt man in Gefahr und Untergang. Von Anfang an bis auf den heutigen Tag ist das nicht anders gewesen.

Ein klarer Spiegel dient dazu, die eigene Gestalt zu erkennen; die Vergangenheit dient dazu, die Gegenwart zu erkennen. Wer es versteht, Gefahr und Untergang der Vergangenheit zu verabscheuen, aber sich nicht bestrebt, den Spuren des Friedens und des Bestandes nachzugehen, der ist nicht anders als ein Mann, der das Gehen verschmäht und doch einen Menschen vor ihm einholen möchte. Der Große Herzog hat das erkannt. Darum hat er die Nachkommen des Prinzen We Dsï geehrt und das Grab des Prinzen Bi Gan geheiligt. Denn daß das, was den Heiligen zu ihrer Zeit zur Dauer verholfen hat, auch in späterer Zeit seine Wirkung nicht verliert, kann man erkennen.[265]

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 261-267.
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