1. Aufzeigung der Probleme

[37] Das erste Problem ist dasjenige, das wir schon in unserer Einleitung berührt haben, nämlich die Frage, ob die Untersuchung der letzten Gründe die Aufgabe einer oder mehrerer Wissenschaften ist, und ob die Wissenschaft nur die obersten Prinzipien der reinen Wesenheit zu betrachten hat, oder auch die Prinzipien, die überhaupt jedem Beweisverfahren zugrunde liegen, Prinzipien also wie dieses, ob es möglich ist, eines und dasselbe zugleich zu bejahen und zu verneinen, oder nicht, und was dergleichen mehr ist.

Wenn ferner die Wissenschaft von der reinen Wesenheit handelt, so fragt es sich, ob eine Wissenschaft alle Wesenheiten betrachtet oder ob es dafür eine Mehrheit von Wissenschaften gibt, und wenn das letztere der Fall ist, ob diese Wissenschaften alle untereinander verwandt sind, oder ob man die einen als philosophische Disziplinen, die anderen anders bezeichnen muß.

Weiter gehört zu dem, was notwendig untersucht werden muß, auch dies, ob die sinnlich wahrnehmbaren Dinge als die einzigen zu gelten haben, die existieren, oder ob man außer ihnen noch andere anzunehmen hat, sowie ob man nur eine Gattung solcher selbständiger Wesen oder eine Mehrheit von Gattungen setzen soll, wie es diejenigen tun, welche die Ideen und dann noch als ein Mittleres zwischen den Ideen und den sinnlichen Dingen die mathematischen Objekte setzen. Das also, meinen wir, ist der erste Gegenstand der Untersuchung.

Eine weitere Frage ist dann die, ob die Erörterung sich nur auf die reinen Wesenheiten zu erstrecken hat, oder auch auf die Bestimmungen, die ihnen als solchen zukommen. Weiter aber fragt es sich in bezug auf Identität und Unterschied, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Einheit und Gegensatz, Ursprüngliches und Abgeleitetes und alle derartigen Bestimmungen, an denen die Dialektiker, indem sie sich bloß im Kreise der herrschenden Vorstellungen tummeln, ihre Kräfte erproben, – es fragt sich also, welche Wissenschaft von allem diesem zu handeln hat, eine Frage, die es ebenso in bezug auf die Bestimmungen, die den bezeichneten Gegenständen an und für sich zukommen, zu beantworten gilt. Die Frage ist eben nicht nur die nach dem Wesen jedes dieser Begriffe, sondern auch die, ob zu jedem einzelnen derselben nur einer den Gegensatz bildet, ob die Prinzipien und Elemente in den Gattungen zu finden sind, oder in den Bestandteilen, in die sich jeder Gegenstand zerlegen läßt. Und wenn es die Gattungen sind, so fragt sich, ob es diejenigen Gattungen sind, die den Individuen zunächst stehend als[37] die letzten gelten, oder ob es die obersten sind, wie z.B. ob der Begriff lebendes Wesen oder der Begriff Mensch das Prinzip ist und den Einzeldingen gegenüber einen höheren Grad von Realität hat.

Den hauptsächlichsten Gegenstand der Untersuchung und alles wissenschaftlichen Verfahrens aber bildet die Frage, ob es neben der Materie noch etwas gibt, was erzeugender Grund an und für sich ist, oder nicht, sodann ob dieses abgetrennt für sich besteht oder nicht, und ob es der Zahl nach eines oder eine Mehrheit ist. Es fragt sich weiter, ob es neben dem Zusammengesetzten – und ich rede vom Zusammengesetzten da, wo die Materie eine Bestimmtheit angenommen hat –, ob es also neben diesem noch etwas anderes gibt oder nicht, ob dies wohl auf dem einen Gebiete der Fall ist und nicht auf dem anderen, und welche Beschaffenheit dem letzteren Gebiete des Seienden zukommen möchte. Es fragt sich weiter, ob die Prinzipien, die begrifflichen sowohl wie die materiellen, der Zahl oder der Art nach bestimmt sind, ob sie für die vergänglichen und für die unvergänglichen Dinge dieselben oder ob sie verschieden sind, ob die Prinzipien sämtlich unvergänglich oder ob die Prinzipien der vergänglichen Dinge auch selber vergänglich sind.

Dazu kommt dann, was unter allem die größte Schwierigkeit und das schwerste Bedenken mit sich bringt, die Frage, ob das Eine und das Seiende, wie es die Pythagoreer und wie es Plato auffaßt, nicht etwas anderes als die Dinge, sondern ihr eigentliches Wesen ist, oder ob es nicht vielmehr ein Substrat hat, das davon verschieden ist. Als solches Substrat bezeichnet Empedokles die Freundschaft, ein anderer das Feuer, ein dritter das Wasser, ein vierter die Luft. Es schließt sich die weitere Frage an, ob die Prinzipien den Charakter der Allgemeinheit tragen oder ob sie ein Sein gleich den Einzeldingen haben, ob sie der Potentialität oder der Aktualität nach existieren und ob sie noch in anderer Weise sind als in der Weise der Bewegung. Auch diese Fragen sind wohl imstande ernsthafte Schwierigkeiten zu verursachen.

Eine weitere Frage ist endlich die, ob Zahlen, Linien, Figuren, Punkte selbständige Wesenheiten sind oder nicht, und falls sie solche Wesenheiten sind, ob sie abgetrennt von den sinnlichen Dingen oder in den letzteren immanent bestehen.

Über alle die aufgezählten Probleme ist es nicht nur schwierig sich der Wahrheit zu versichern, sondern schon das ist nicht leicht, den Punkt, wo die Schwierigkeit liegt, sich gründlich klar zu machen.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 37-38.
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