§ 3

[55] Einen Begriff wissenschaftlich erörtern – und es ist klar, dass hier von keiner anderen, als dieser höchsten aller Erörterungen die Rede seyn kann – nenne ich das, wenn man den Ort desselben im System der menschlichen Wissenschaften überhaupt ansieht, d. i. zeigt, welcher Begriff ihm seine Stelle bestimme, und welchem anderen sie durch ihn bestimmt werde. Nun aber kann der Begriff der Wissenschaftslehre überhaupt im System aller Wissenschaften eben so wenig einen Ort haben, als der des Wissens überhaupt: vielmehr ist er selbst der Ort für alle wissenschaftlichen Begriffe, und weiset ihnen ihre Stellen in sich selbst, und durch sich selbst an. Es ist klar, dass hier nur von einer hypothetischen Erörterung geredet werde, d. i. die Frage ist die: vorausgesetzt, dass es schon Wissenschaften gebe, und dass Wahrheit in ihnen sey (welches man vor der allgemeinen Wissenschaftslehre vorher gar nicht wissen kann), wie verhält sich die aufzustellende Wissenschaftslehre zu diesen Wissenschaften?

Auch diese Frage ist durch den blossen Begriff derselben schon beantwortet. Die letzteren verhalten sich zu der ersteren, wie das Begründete zu seinem Grunde; sie weisen derselben ihre Stelle nicht an, aber jene weisen ihnen allen ihre Stellen in sich selbst10 und durch sich selbst an. Demnach ist es hier bloss um eine weitere Entwicklung dieser Antwort zu thun.

1) Die Wissenschaftslehre sollte eine Wissenschaft aller Wissenschaften seyn. Hierbei entsteht zuvörderst die Frage: Wie kann sie verbürgen, dass sie nicht nur alle bis jetzt bekannten und erfundenen, sondern auch alle erfindbaren und[55] möglichen Wissenschaften begründet, und dass sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens vollkommen erschöpft habe? [Dies gegen Aenesidemus. Marg. d. V.]

2) Sie sollte in dieser Rücksicht allen Wissenschaften ihre Grundsätze geben. Alle Sätze demnach, die in irgend einer besonderen Wissenschaft Grundsätze sind, sind zugleich auch einheimische Sätze der Wissenschaftslehre; ein und ebenderselbe Satz ist aus zwei Gesichtspuncten zu betrachten: als ein in der Wissenschaftlehre enthaltener Satz, und als ein an der Spitze einer besonderen Wissenschaft stehender Grundsatz. Die Wissenschaftslehre folgert aus dem Satze, als einem in ihr enthaltenen, weiter; und die besondere Wissenschaft folgert aus dem gleichen Satze, als ihrem Grundsatze, auch weiter. Also folgt entweder in beiden Wissenschaften das gleiche; alle besondere Wissenschaften sind nicht nur ihrem Grundsatze, sondern auch ihren abgeleiteten Sätzen nach in der Wissenschaftslehre enthalten; und es giebt gar keine besondere Wissenschaft, sondern nur Theile einer und ebenderselben Wissenschaftslehre: oder es wird in beiden Wissenschaften auf verschiedene Art gefolgert, welches auch nicht möglich ist, da die Wissenschaftslehre allen Wissenschaften ihre Form geben soll: oder es muss zu einem Satze der blossen Wissenschaftslehre noch Etwas, das freilich nirgend anders her, als aus der Wissenschaftslehre entlehnt seyn kann, hinzukommen, wenn er Grundsatz einer besonderen Wissenschaft werden soll. Es entsteht die Frage: welches ist das hinzukommende, oder – da dieses hinzukommende die Unterscheidung ausmacht – welches ist die bestimmte Grenze zwischen der Wissenschaftslehre überhaupt, und jeder besonderen Wissenschaft?

3) Die Wissenschaftslehre sollte ferner in der gleichen Rücksicht allen Wissenschaften ihre Form bestimmen. Wie das geschehen könne, ist schon oben angezeigt. Aber es tritt eine andere Wissenschaft, unter dem Namen der Logik, mit den gleichen Ansprüchen uns in den Weg. Zwischen beiden muss entschieden, es muss untersucht werden, wie die Wissenschaftslehre sich zur Logik verhalte.

4) Die Wissenschaftslehre ist selbst eine Wissenschaft,[56] und was sie in dieser Rücksicht zu leisten habe, ist oben bestimmt. Aber insofern sie blosse Wissenschaft, ein Wissen, in formeller Bedeutung ist, ist sie Wissenschaft von irgend Etwas; sie hat einen Gegenstand, und es ist aus dem obigen klar, dass dieser Gegenstand kein anderer sey, als das System des menschlichen Wissens überhaupt11. Es entsteht die Frage: wie verhält sich die Wissenschaft, als Wissenschaft, zu ihrem Gegenstande, als solchem?

10

– nicht eigentlich, in der Wissenschaftslehre, aber doch im Systeme des Wissen, dessen Abbildung sie seyn soll –.

11

Denn sie fragt: 1) Wie ist Wissenschaft überhaupt möglich? 2) Sie macht Ansprüche darauf, das auf einen einzigen Grundsatz gebaute menschliche Wissen zu erschöpfen.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 55-57.
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