§ 4. Inwiefern kann die Wissenschaftslehre sicher seyn, das menschliche Wissen überhaupt erschöpft zu haben?

[57] Das bisherige wahre oder eingebildete menschliche Wissen ist nicht das menschliche Wissen überhaupt. Gesetzt ein Philosoph hätte das erstere wirklich umfasst, und könnte durch eine vollständige Induction den Beweis führen, dass es in seinem Systeme enthalten sey, so hätte er dadurch der Aufgabe der Philosophie überhaupt noch bei weitem keine Genüge gethan: denn wie wollte er durch seine Induction aus der bisherigen Erfahrung erweisen, dass auch in der Zukunft keine Entdeckung gemacht werden könne, die nicht unter sein System passe? – Nicht gründlicher würde die Ausflucht seyn, dass er etwa nur das in der gegenwärtigen Sphäre der menschlichen Existenz mögliche Wissen habe erschöpfen wollen; denn wenn seine Philosophie nur für diese Sphäre gilt, so kennt er keine mögliche andere, er kennt demnach auch die Grenzen derjenigen nicht, die durch seine Philosophie erschöpft werden soll; er hat willkürlich eine Grenze gezogen, deren Gültigkeit er kaum durch etwas Anderes, als durch die bisherige Erfahrung erweisen kann; welcher durch eine künftige Erfahrung, selbst innerhalb seiner vorgegebenen Sphäre, immer widersprochen werden konnte. Das menschliche Wissen überhaupt soll erschöpft werden, heisst, es soll unbedingt und schlechthin bestimmt werden, was der Mensch nicht bloss auf der jetzigen[57] Stufe seiner Existenz, sondern auf allen möglichen und denkbaren Stufen derselben wissen könne12.

Dies ist nur unter folgenden Bedingungen möglich: zuvörderst, dass sich zeigen lasse, der aufgestellte Grundsatz sey erschöpft; und dann, es sey kein anderer Grundsatz möglich, als der aufgestellte.

Ein Grundsatz ist erschöpft, wenn ein vollständiges System auf demselben aufgebaut ist, d. i. wenn der Grundsatz nothwendig auf alle aufgestellten Sätze führt, und alle aufgestellten Sätze nothwendig wieder auf ihn zurückführen. Wenn kein Satz im ganzen System vorkommt, welcher wahr seyn kann, wenn der Grundsatz falsch ist – oder falsch, wenn der Grundsatz wahr ist, so ist dies der negative Beweis, dass kein Satz zuviel in das System aufgenommen worden; denn derjenige, der nicht in das System gehörte, würde wahr seyn können, wenn der Grundsatz falsch, – oder falsch, wenn auch der Grundsatz wahr wäre. Ist der Grundsatz gegeben, so müssen alle Sätze gegeben seyn; in ihm und durch ihn ist jeder einzelne (besondere, Marg. d. V.) gegeben. Es ist aus dem, was[58] wir oben über die Verkettung, der einzelnen Sätze in der Wissenschaftslehre gesagt haben, klar, dass diese Wissenschaft den angezeigten negativen Beweis unmittelbar in sich selbst und durch sich selbst führe. Durch ihn wird erwiesen, dass die Wissenschaft überhaupt systematisch sei, dass alle ihre Theile in einem einzigen Grundsatze zusammenhängen. – Die Wissenschaft ist ein System, oder sie ist vollendet, wenn weiter kein Satz gefolgert werden kann: und dies giebt den positiven Beweis, dass kein Satz zu wenig13 in das System aufgenommen worden. Die Frage ist nur die: wann und unter welchen Bedingungen kann ein Satz weiter gefolgert werden; denn es ist klar, dass das bloss relative und negative Merkmal: ich sehe nicht was weiter folgen könne, nichts beweist. Es könnte wohl nach mir ein anderer kommen, welcher da, wo ich nichts sah, etwas sähe. Wir bedürfen eines positiven Merkmals zum Beweise, dass schlechthin und unbedingt nichts weiter gefolgert werden könne; und das könnte kein anderes seyn, als das, dass der Grundsatz selbst, von welchem wir ausgegangen wären, zugleich auch das letzte Resultat sey. Dann wäre klar, dass wir nicht weiter gehen könnten, ohne den Weg, den wir schon einmal gemacht, noch einmal zu machen. – Es wird sich bei einstiger Aufstellung der Wissenschaft zeigen, dass sie diesen Kreislauf wirklich vollendet, und den Forscher gerade bei dem Puncte verlässt, von welchem sie mit ihm ausging; dass sie also gleichfalls den zweiten positiven Beweis in sich selbst und durch sich selbst führt14.

Aber, wenn auch der aufgestellte Grundsatz erschöpft, und auf ihn ein vollständiges System aufgebaut ist, so folgt[59] daraus noch gar nicht, dass durch seine Erschöpfung das menschliche Wissen überhaupt erschöpft sey; wenn man nicht schon voraussetzt, was erwiesen werden sollte, dass jener Grundsatz der Grundsatz des menschlichen Wissens überhaupt sey. Zu jenem vollendeten Systeme kann freilich nichts mehr weder dazu noch davon gethan werden; aber, was verhindert es denn, dass nicht etwa in der Zukunft, wenn auch bis jetzt sich keine Spur davon zeigen sollte, durch die vermehrte Erfahrung, Sätze zu dem menschlichen Bewusstseyn gelangen könnten, die sich nicht auf jenen Grundsatz gründen, die also einen oder mehrere andere Grundsätze voraussetzen kurz, warum sollten neben jenem vollendeten Systeme nicht noch ein oder mehrere andere Systeme im menschlichen Geiste bestehen können? Sie würden freilich weder mit jenem ersten, noch unter sich selbst den geringsten Zusammenhang, den kleinsten gemeinschaftlichen Punct haben; aber das sollen sie auch nicht, wenn sie nicht ein einziges, sondern mehrere Systeme bilden. Es müsste also, wenn die Unmöglichkeit solcher neuen Entdeckungen befriedigend dargethan werden sollte, erwiesen werden, dass nur ein einziges System im menschlichen Wissen seyn könne. – Da dieser Satz, dass alles menschliche Wissen nur ein einziges, in sich selbst zusammenhängendes Wissen ausmache, selbst ein Bestandtheil des menschlichen Wissens seyn müsste, so könnte er sich auf nichts Anderes gründen, als auf den als Grundsatz alles menschlichen Wissens aufgestellten Satz, und nirgendsher bewiesen werden, als aus demselben. Hierdurch wäre nun, vor der Hand wenigstens, soviel gewonnen, dass ein anderer etwa einmal zum menschlichen Bewusstseyn gelangender Grundsatz nicht bloss ein anderer, und von dem aufgestellten Grundsatze verschiedener, sondern auch ein demselben der Form nach widersprechender seyn müsste. Denn unter der obigen Voraussetzung müsste im aufgestellten Grundsatze der Satz enthalten seyn: im menschlichen Wissen ist ein einiges System. Jeder Satz nun, der nicht zu diesem einigen Systeme gehören sollte, wäre von diesem Systeme nicht bloss verschieden, sondern widerspräche ihm sogar, inwiefern jenes System das einige[60] mögliche seyn sollte, schon durch sein blosses Daseyn geradezu. Er widerspräche jenem abgeleiteten Satze der Einigkeit des Systems; und – da alle Sätze jenes Systems unter sich unzertrennlich zusammenhängen, wenn irgend einer wahr ist, nothwendig alle wahr, wenn irgend einer falsch ist, nothwendig alle falsch seyn sollen, – einem jeden Satze desselben, und insbesondere auch dem Grundsatze. Vorausgesetzt, dass auch dieser fremde Satz auf die oben beschriebene Weise systematisch im Bewusstseyn begründet wäre, so müsste das System, zu welchem er gehörte, um des bloss formellen Widerspruchs seines Daseyns willen, dem ganzen ersten Systeme auch materialiter widersprechen, und auf einem dem ersten Grundsatze geradezu entgegengesetzten Grundsatze beruhen; so dass, wenn der erstere z.B. der wäre: Ich bin Ich, – der zweite seyn müsste: Ich bin nicht Ich.

Aus diesem Widerspruche soll und kann nun nicht geradezu die Unmöglichkeit eines solchen zweiten Grundsatzes gefolgert werden. Wenn im ersten Grundsatze der Satz liegt: das System des menschlichen Wissens sey ein einiges, so liegt freilich auch der darin, dass diesem einigen Systeme nichts widersprechen müsse; aber beide Sätze sind ja erst Folgerungen aus ihm selbst, und so wie die absolute Gültigkeit alles dessen, was aus ihm folgt, angenommen wird, wird ja schon angenommen, dass er absolut – erster und einziger Grundsatz sey, und im menschlichen Wissen schlechthin gebiete. Also ist hier ein Cirkel, aus dem der menschliche Geist nie herausgehen kann; und man thut recht wohl darauf, diesen Cirkel bestimmt zuzugestehen, damit man nicht etwa einmal über die unerwartete Entdeckung desselben in Verlegenheit gerathe. Er ist folgender: Wenn der Satz X erster, höchster und absoluter Grundsatz des menschlichen Wissens ist, so ist im menschlichen Wissen ein einiges System; denn das letztere folgt aus dem Satze X: Da nun im menschlichen Wissen ein einiges System sein soll, so ist der Satz X, der wirklich (laut der aufgestellten Wissenschaft) ein System begründet, Grundsatz des menschlichen Wissens überhaupt, und[61] das auf ihn gegründete System ist jenes einige System des menschlichen Wissens.

Ueber diesen Cirkel hat man nun nicht Ursache betreten zu seyn. Verlangen, dass er gehoben werde, heisst verlangen, dass das menschliche Wissen völlig grundlos sey, dass es gar nichts schlechthin Gewisses geben, sondern dass alles menschliche Wissen nur bedingt seyn, und dass kein Satz an sich, sondern jeder nur unter der Bedingung gelten solle, dass derjenige, aus dem er folgt, gelte, mit einem Worte, es heisst behaupten, dass es überhaupt keine unmittelbare, sondern nur vermittelte Wahrheit gebe – und ohne etwas, wodurch sie vermittelt wird. Wer Lust dazu hat, mag immer untersuchen, was er wissen würde, wenn sein Ich nicht Ich wäre, d. i. wenn er nicht existirte, und kein Nicht-Ich von seinem Ich unterscheiden könnte.

12

Aus einen möglichen Einwurf, den aber nur ein Popular-Philosoph machen könnte! [Zusatz zur 1. Ausgabe.] – Die eigentlichen Aufgaben des menschlichen Geistes und freilich, sowohl ihrer Anzahl als ihrer Annäherung nach, unendlich; ihre Auflösung wäre nur durch eine vollenden Annäherung zum Unendlichen möglich, welche an sich unmöglich ist; aber die sind es nur darum, weil sie gleich ab unendlich gegeben werden. Es sind unendlich viele Radien eines unendlichen Cirkels, dessen Mittelpunct gegeben ist; und so wie der Mittelpunct gegeben ist, ist ja wohl der ganze unendliche Cirkel, und die unendlich vielen Radien desselben gegeben. Der eine Endpunct derselben liegt freilich in der Unendlichkeit; aber der andere liegt im Mittelpunct, und derselbe ist allen gemein. Der Mittelpunct ist gegeben; die Richtung der Linien ist auch gegeben, denn es sollen gerade Linien seyn: also sind alle Radien gegeben. (Einzelne Radien aus der unendlichen Anzahl derselben werden durch allmählige Entwicklung unserer ursprünglichen Begrenztheit bestimmt, als wirklich zu ziehende; aber nicht gegeben; gegeben waren sie zugleich mit dem Mittelpuncte). Das menschliche Wissen ist den Graden nach unendlich, aber der Art nach ist es durch seine Gesetze vollständig bestimmt, und lässt sich gänzlich erschöpfen. Die Aufgaben liegen da und sind zu erschöpfen; aber sie sind nicht gelöst und können nicht gelöst werden.

13

Zu viel. [1. Ausgabe.]

14

Die Wissenschaftslehre hat also absolute Totalität. In ihr führt Eins zu Allem, und Alles zu Einem. Sie ist aber die einzige Wissenschaft, welche vollendet werden kann; Vollendung ist demnach ihr auszeichnender Charakter. Alle andere Wissenschaften sind unendlich, und können nie vollendet werden; denn sie laufen nicht wieder in ihren Grundsatz zurück. Die Wissenschaftslehre hat dies für alle zu beweisen und den Grund davon anzugeben.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 57-62.
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