A. Die natürliche Religion

[503] Der den Geist wissende Geist ist Bewußtsein seiner selbst und ist sich in der Form des Gegenständlichen; er ist – und ist zugleich das Fürsichsein. Er ist für sich, er ist die Seite des Selbstbewußtseins, und zwar gegen die Seite seines Bewußtseins oder des sich auf sich als Gegenstand Beziehens. In seinem Bewußtsein ist die Entgegensetzung und hierdurch die Bestimmtheit der Gestalt, in welcher er sich erscheint und weiß. Um diese ist es in dieser Betrachtung der Religion allein zu tun, denn sein ungestaltetes Wesen oder sein reiner Begriff hat sich schon ergeben. Der Unterschied des Bewußtseins und Selbstbewußtseins fällt aber zugleich innerhalb des letzteren; die Gestalt der Religion enthält nicht das Dasein des Geistes, wie er vom Gedanken freie Natur noch wie er vom Dasein freier Gedanke ist; sondern sie ist das im Denken erhaltene Dasein, so wie ein Gedachtes, das sich da ist. – Nach der Bestimmtheit dieser Gestalt, in welcher der Geist sich weiß, unterscheidet sich eine Religion von einer anderen; allein es ist zugleich zu bemerken, daß die Darstellung dieses seines Wissens von sich nach dieser einzelnen Bestimmtheit in der Tat nicht das Ganze einer wirklichen Religion erschöpft. Die Reihe der verschiedenen Religionen, die sich ergeben werden, stellt ebensosehr wieder nur die verschiedenen Seiten einer einzigen, und zwar jeder einzelnen dar, und die Vorstellungen, welche eine wirkliche Religion vor einer anderen auszuzeichnen scheinen, kommen in[503] jeder vor. Allein zugleich muß die Verschiedenheit auch als eine Verschiedenheit der Religion betrachtet werden. Denn indem der Geist sich im Unterschiede seines Bewußtseins und seines Selbstbewußtseins befindet, so hat die Bewegung das Ziel, diesen Hauptunterschied aufzuheben und der Gestalt, die Gegenstand des Bewußtseins ist, die Form des Selbstbewußtseins zu geben. Dieser Unterschied ist aber nicht dadurch schon aufgehoben, daß die Gestalten, die jenes enthält, auch das Moment des Selbsts an ihnen haben und der Gott als Selbstbewußtsein vorgestellt wird. Das vorgestellte Selbst ist nicht das wirkliche, daß es, wie jede andere nähere Bestimmung der Gestalt, dieser in Wahrheit angehöre, muß es teils durch das Tun des Selbstbewußtseins in sie gesetzt werden, teils muß die niedrige Bestimmung von der höheren aufgehoben und begriffen zu sein sich zeigen. Denn das Vorgestellte hört nur dadurch auf, Vorgestelltes und seinem Wissen fremd zu sein, daß das Selbst es hervorgebracht hat und also die Bestimmung des Gegenstandes als die seinige, somit sich in ihm anschaut, – Durch diese Tätigkeit ist die niedrigere Bestimmung zugleich verschwunden; denn das Tun ist das negative, das sich auf Kosten eines anderen ausführt; insofern sie auch noch vorkommt, so ist sie in die Unwesentlichkeit zurückgetreten; so wie dagegen, wo die niedrigere noch herrschend ist, die höhere aber auch vorkommt, die eine selbstlos neben der anderen Platz hat. Wenn daher die verschiedenen Vorstellungen innerhalb einer einzelnen Religion zwar die ganze Bewegung ihrer Formen darstellen, so ist der Charakter einer jeden durch die besondere Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins bestimmt, d. i. dadurch, daß das letztere die Bestimmung des Gegenstandes des ersteren in sich gefaßt, sie durch sein Tun sich vollkommen angeeignet [hat] und sie als die wesentliche gegen die anderen weiß, – Die Wahrheit des Glaubens an eine Bestimmung des religiösen Geistes zeigt sich darin, daß der wirkliche Geist so beschaffen ist wie die Gestalt, in der er sich in der Religion anschaut, – wie z.B.[504] die Menschwerdung Gottes, die in der morgenländischen Religion vorkommt, keine Wahrheit hat, weil ihr wirklicher Geist ohne diese Versöhnung ist. – Hierher gehört es nicht, von der Totalität der Bestimmungen zu der einzelnen zurückzukehren und zu zeigen, in welcher Gestalt innerhalb ihrer und ihrer besonderen Religion die Vollständigkeit der übrigen enthalten ist. Die höhere Form unter eine niedrigere zurückgestellt entbehrt ihrer Bedeutung für den selbstbewußten Geist, gehört ihm nur oberflächlich und seiner Vorstellung an. Sie ist in ihrer eigentümlichen Bedeutung und da zu betrachten, wo sie Prinzip dieser besonderen Religion und durch ihren wirklichen Geist bewährt ist.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 3, Frankfurt a. M. 1979, S. 503-505.
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