II. Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur

[675] Unter einem Hange (propensio) verstehe ich den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen[675] Begierde, concupiscentia), sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist.9 Er unterscheidet sich darin von einer Anlage, daß er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden kann. – Es ist aber hier nur vom Hange zum eigentlich, d.i. zum moralisch Bösen die Rede; welches, da es nur als Bestimmung der freien Willkür möglich ist, diese aber als gut oder böse nur durch ihre Maximen beurteilt werden kann, in dem subjektiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze bestehen muß, und, wenn dieser Hang als allgemein zum Menschen (also, als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf, ein natürlicher Hang des Menschen zum Bösen genannt werden wird. – Man kann noch hinzusetzen, daß die aus dem natürlichen Hange entspringende Fähigkeit oder Unfähigkeit der Willkür, das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen, oder nicht, das gute oder böse Herz genannt werde.

Man kann sich drei verschiedene Stufen desselben denken. Erstlich, ist es die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt, oder die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur; zweitens, der Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit[676] den moralischen (selbst wenn es in guter Absicht, und unter Maximen des Guten geschähe), d.i. die Unlauterkeit; drittens, der Hang zur Annehmung böser Maximen, d.i. die Bösartigkeit der menschlichen Natur, oder des menschlichen Herzens.

Erstlich, die Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur ist selbst in der Klage eines Apostels ausgedrückt: Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt, d.i. ich nehme das Gute (das Gesetz) in die Maxime meiner Willkür auf; aber dieses, welches objektiv in der Idee (in thesi) eine unüberwindliche Triebfeder ist, ist subjektiv (in hypothesi), wenn die Maxime befolgt werden soll, die schwächere (in Vergleichung mit der Neigung).

Zweitens, die Unlauterkeit (impuritas, improbitas) des menschlichen Herzens besteht darin: daß die Maxime dem Objekte nach (der beabsichtigten Befolgung des Gesetzes) zwar gut und vielleicht auch zur Ausübung kräftig genug, aber nicht rein moralisch ist, d.i. nicht, wie es sein sollte, das Gesetz allein, zur hinreichenden Triebfeder, in sich aufgenommen hat: sondern mehrenteils (vielleicht jederzeit) noch anderer Triebfedern außer derselben bedarf, um dadurch die Willkür zu dem, was Pflicht fordert, zu bestimmen. Mit andern Worten, daß pflichtmäßige Handlungen nicht rein aus Pflicht getan werden.

Drittens, die Bösartigkeit (vitiositas, pravitas), oder, wenn man lieber will, die Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens, ist der Hang der Willkür zu Maximen, die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen) nachzusetzen. Sie kann auch die Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt, und, ob zwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt, und der Mensch darum als böse bezeichnet.

Man wird bemerken: daß der Hang zum Bösen hier am Menschen, auch dem besten (den Handlungen nach), aufgestellt[677] wird, welches auch geschehen muß, wenn die Allgemeinheit des Hanges zum Bösen unter Menschen, oder, welches hier dasselbe bedeutet, daß er mit der menschlichen Natur verwebt sei, bewiesen werden soll.

Es ist aber zwischen einem Menschen von guten Sitten (bene moratus) und einem sittlich guten Menschen (moraliter bonus), was die Übereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetz betrifft, kein Unterschied (wenigstens darf keiner sein); nur daß sie bei dem einen eben nicht immer, vielleicht nie, das Gesetz, bei dem andern aber es jederzeit zur alleinigen und obersten Triebfeder haben. Man kann von dem ersteren sagen: er befolge das Gesetz dem Buchstaben nach (d.i. was die Handlung angeht, die das Gesetz gebietet); vom zweiten aber: er beobachte es dem Geiste nach (der Geist des moralischen Gesetzes besteht darin, daß dieses allein zur Triebfeder hinreichend sei). Was nicht aus diesem Glauben geschieht, das ist Sünde (der Denkungsart nach). Denn, wenn andre Triebfedern nötig sind, die Willkür zu gesetzmäßigen Handlungen zu bestimmen, als das Gesetz selbst (z.B. Ehrbegierde, Selbstliebe überhaupt, ja gar gutherziger Instinkt, dergleichen das Mitleiden ist): so ist es bloß zufällig, daß diese mit dem Gesetz übereinstimmen: denn sie könnten eben sowohl zur Übertretung antreiben. Die Maxime, nach deren Güte aller moralische Wert der Person geschätzt werden muß, ist also doch gesetzwidrig, und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse.

Folgende Erläuterung ist noch nötig, um den Begriff von diesem Hange zu bestimmen. Aller Hang ist entweder physisch, d.i. er gehört zur Willkür des Menschen als Naturwesens; oder er ist moralisch, d.i. zur Willkür desselben als moralischen Wesens gehörig. – Im ersteren Sinne gibt es keinen Hang zum moralisch Bösen; denn dieses muß aus der Freiheit entspringen; und ein physischer Hang (der auf sinnliche Antriebe gegründet ist) zu irgend einem Gebrauche der Freiheit, es sei zum Guten oder Bösen, ist ein Widerspruch. Also kann ein Hang zum Bösen nur dem moralischen[678] Vermögen der Willkür ankleben. Nun ist aber nichts sittlich- (d.i. zurechnungsfähig-) böse, als was unsere eigene Tat ist. Dagegen versteht man unter dem Begriffe eines Hanges einen subjektiven Bestimmungsgrund der Willkür, der vor jeder Tat vorhergeht, mithin selbst noch nicht Tat ist; da denn in dem Begriffe eines bloßen Hanges zum Bösen ein Widerspruch sein würde, wenn dieser Ausdruck nicht etwa in zweierlei verschiedener Bedeutung, die sich beide doch mit dem Begriffe der Freiheit vereinigen lassen, genommen werden könnte. Es kann aber der Ausdruck von einer Tat überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d.i. die Objekte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden. Der Hang zum Bösen ist nun Tat in der ersten Bedeutung (peccatum originarium), und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen Tat im zweiten Sinne genommen, welche der Materie nach demselben widerstreitet, und Laster (peccatum derivativum) genannt wird; und die erste Verschuldung bleibt, wenn gleich die zweite (aus Triebfedern, die nicht im Gesetz selber bestehen) vielfältig vermieden würde. Jene ist intelligibele Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar; diese sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon). Die erste heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang, und angeboren, weil er nicht ausgerottet werden kann (als wozu die oberste Maxime die des Guten sein müßte, welche aber in jenem Hange selbst als böse angenommen wird); vornehmlich aber, weil wir davon: warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses unsere eigene Tat ist, eben so wenig weiter eine Ursache angeben können, als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört. – Man wird in dem jetzt Gesagten den Grund antreffen, warum wir in diesem Abschnitte gleich zu Anfange die drei Quellen des moralisch Bösen lediglich in demjenigen suchten, was nach Freiheitsgesetzen den obersten Grund der Nehmung[679] oder Befolgung unserer Maximen; nicht was die Sinnlichkeit (als Rezeptivität) affiziert.

9

Hang ist eigentlich nur die Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subjekt die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt. So haben alle rohe Menschen einen Hang zu berauschenden Dingen; denn, obgleich viele von ihnen den Rausch gar nicht kennen, und also auch gar keine Begierde zu Dingen haben, die ihn bewirken, so darf man sie solche doch nur einmal versuchen lassen, um eine kaum vertilgbare Begierde dazu bei ihnen hervorzubringen. – Zwischen dem Hange und der Neigung, welche Bekanntschaft mit dem Objekt des Begehrens voraussetzt, ist noch der Instinkt, welcher ein gefühltes Bedürfnis ist, etwas zu tun oder zu genießen, wovon man noch keinen Begriff hat (wie der Kunsttrieb bei Tieren, oder der Trieb zum Geschlecht). Von der Neigung an ist endlich noch eine Stufe des Begehrungsvermögens die Leidenschaft (nicht der Affekt, denn dieser gehört zum Gefühl der Lust und Unlust), welche eine Neigung ist, die die Herrschaft über sich selbst ausschließt.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 675-680.
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