II. Die Scholastik und die Herrschaft der aristotelischen Begriffe von Stoff und Form

[167] Während die Araber, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, ihre Kenntnis des Aristoteles ausreichen, wenn auch stark getrübten Quellen schöpften, begann die scholastische Philosophie des Abendlandes mit der Verarbeitung äußerst dürftiger und dabei ebenfalls sehr getrübter Überlieferungen.100

Das Hauptstück bildete dabei die Schrift des Aristoteles über die Kategorien und eine von Porphyrius verfaßte Einleitung zu derselben, in welcher die »fünf Wörter« behandelt werden. Diese fünf Wörter, welche den Eingang in die ganze scholastische Philosophie bilden, sind: »Gattung«, »Art«, »Unterschied«, »Eigentümliches« und »Zukommendes«. Die zehn Kategorien sind: Substanz, Quantum, Quale, Verhältnis zu etwas, Ort, Zeit, Lage, Zustand, Tun und Leiden.

Bekanntlich gibt es eine ganze, noch beständig wachsende Literatur über die Frage, was Aristoteles eigentlich mit seinen Kategorien, d. h. Aussagen, oder Gattungen der Aussage, gewollt habe. Man wäre in der Hauptsache schneller zum Ziele gekommen, wenn man sich beizeiten entschlossen hätte, das Unreife, Unklare in den aristotelischen Begriffen auch als solches aufzufassen, statt hinter jeder unbegreiflichen Wendung ein Geheimnis tiefster Weisheit zu suchen. Es kann gegenwärtig wohl als feststehend betrachtet werden, daß Aristoteles mit der Aufstellung der Kategorien einen Versuch gemacht hat, festzustellen, auf wie viele Hauptarten man von irgend etwas sagen kann, was es sei, und daß er sich durch die Autorität der Sprache verführen ließ, Arten der Aussage und Arten des Seins zu identifizieren.101

Ohne hier auf die Frage einzutreten, inwiefern es gerechtfertigt sein kann (z. B. mit Ueberwegs Logik, oder im Sinne Schleiermachers und Trendelenburgs) Formen des Seins und Formen des Denkens in Parallele zu stellen und eine mehr oder weniger genaue Entsprechung zwischen beiden anzunehmen, müssen wir gleich hier hervorheben, was sich weiter unten noch deutlicher zeigen wird, daß die Verwechslung subjektiver und objektiver Elemente in unserer Auffassung der Dinge einer der wesentlichsten Grundzüge[167] des aristotelischen Denkens ist und daß gerade diese Verwechslung, und zwar am meisten in ihren plumpsten Formen, zur Grundlage der Scholastik geworden ist.

Aristoteles hat diese Verwechslung nicht in die Philosophie eingeführt, sondern im Gegenteil den ersten Anfang einer Unterscheidung dessen gemacht, was das unwissenschaftliche Bewußtsein stets zu identifizieren geneigt ist. Allein Aristoteles ist nicht über höchst unvollkommene Anfänge dieser Scheidung hinausgekommen; gerade dasjenige aber, was infolgedessen in seiner Logik und Metaphysik ganz besonders verkehrt und unreif ist, wurde den rohen Nationen des Abendlandes zum Eckstein ihrer Weisheit, weil es ihrem unentwickelten Verstande am besten zusagte. Ein interessantes Beispiel hierfür finden wir bei Fredegius, einem Schüler Alcuins, der Karl den Großen mit einer theologischen Epistel »de nihilo et tenebris« beehrte, in welcher das Nichts, aus welchem Gott die Welt geschaffen, für ein existierendes Ding erklärt wird, und zwar aus dem höchst einfachen Grunde, weil jedes Wort sich auf eine Sache bezieht.102

Viel höher stand schon Scotus Erigena, welcher »Finsternis«, »Schweigen« und ähnliche Ausdrücke für Begriffe des denkenden Subjektes erklärt; aber freilich meint Scotus dann weiter, die »Absentia« einer Sache und die Sache selbst seien von gleicher Art; so also Licht und Finsternis, Ton und Schweigen. Ich habe also einmal einen Begriff von der Sache, das andre Mal einen Begriff von der Abwesenheit der Sache in durchaus gleicher Weise. Die »Abwesenheit« ist also auch im Objekt gegeben; sie ist etwas Reales.

Dies ist ein Fehler, der sich auch bei Aristoteles schon vorfindet. Die Verneinung in einer Aussage (apophasis) hat Aristoteles richtig als einen Akt des denkenden Subjektes erkannt, die »Beraubung« (sterêsis), z. B. das Blindsein eines von Natur sehenden Geschöpfes ist ihm aber eine Eigenschaft des Objektes. Und doch finden wir in Wirklichkeit nur an Stelle der Augen eines solchen Geschöpfes vielleicht irgendein degeneriertes Gebilde, das aber durchaus nur positive Eigenschaften an sich hat; wir finden vielleicht, daß das Geschöpf sich tastend und schwerfällig bewegt, aber in diesen Bewegungen ist alles in seiner Weise bestimmt und positiv. Erst unsere Vergleichung dieses Geschöpfes mit anderen, die wir auf Grund unserer Erfahrung als normal bezeichnen, ergibt den Begriff der Blindheit. Das Sehen fehlt nur in unserer Vorstellung. Das Ding für sich genommen ist, wie es ist, ohne alle Beziehung[168] auf »Sehen« oder »Nichtsehen«.

Es ist leicht zu sehen, daß Fehler dieser gröberen Art sich auch in der aristotelischen Reihe der Kategorien finden; am deutlichsten bei der Kategorie des »Verhältnisses zu etwas« (pros ti), wie z. B. »doppelt«, »halb«, »größer«, wo wohl niemand ernstlich behaupten wird, daß dergleichen den Dingen zukomme, außer, insofern sie von einem denkenden Subjekte verglichen werden.

Weit wichtiger ist aber die Unklarheit über das Verhältnis von Wort und Sache geworden hinsichtlich des Substanzbegriffes und der Gattungen.

Wir haben gesehen, wie an der Schwelle aller Philosophie die »fünf Wörter« des Porphyrius erscheinen: ein Exzerpt aus den logischen Schriften des Aristoteles, welches dem Schüler das Allernotwendigste zuerst an die Hand geben sollte. Unter diesen Worterklärungen stehen diejenigen von Art und Gattung obenan; gleich in der Einleitung dieser Einleitung aber stehen die verhängnisvollen Worte, von welchen der große Streit des Mittelalters über die »Universalien« wahrscheinlich angefacht wurde. Porphyrius erwähnt die große Frage, ob die Genera und Spezies etwas für sich sind, oder ob sie bloß im Geiste bestehen, ob sie körperliche oder unkörperliche Substanzen sind, ob getrennt von den sinnlichen Dingen oder nur in ihnen und durch sie bestehend. Die Entscheidung dieser so feierlich angekündigten Frage wird verschoben, weil das einer der höchsten Gegenstände sei. Wir sehen aber genug um zu bemerken, daß die Stellung der »fünf Wörter« am Eingang der Philosophie mit der spekulativen Wichtigkeit der Art- und Gattungsbegriffe zusammenhängt, und der Ausdruck verrät uns auch deutlich genug die platonischen Sympathien des Verfassers, wiewohl er sein Urteil suspendiert.

Die platonische Auffassung der Gattungs- und Artbegriffe (vgl. oben S. 59 ff.) wurde dann auch im früheren Mittelalter, trotz aller Anlehnung an Aristoteles, die herrschende. Die peripatetische Schule hatte gleichsam ein platonisches Portal erhalten, und der Jünger wurde gleich beim Eintritt in die Hallen der Philosophie mit einer platonischen Weihe begrüßt; vielleicht auch mit einem absichtlich verordneten Gegengewicht gegen einen bedenklichen Zug der aristotelischen Kategorien. Aristoteles erklärt nämlich bei Erörterung der Substanz (ousia), im ersten und eigentlichen Sinne seien die konkreten Einzeldinge wie dieser bestimmte Mann, dieses Pferd da, Substanzen. Das paßt nun freilich schlecht zu der platonischen[169] Verachtung des Konkreten und wir dürfen uns nicht wundern, daß Scotus Erigena diese Lehre nicht will gelten lassen. Aristoteles nennt die Spezies erst in zweiter Linie Substanzen und erst durch Vermittlung der Spezies erhält auch die Gattung Substanzialität. Hier war eine reiche Quelle des Schulstreites gleich im Eingang der philosophischen Studien eröffnet, allein im ganzen blieb die platonisierende Auffassung (der »Realismus«, weil die universalia als »res« gefaßt werden) bis gegen Ende des Mittelalters die herrschende und gleichsam die orthodoxe Ansicht. Es ist also der schroffste Gegensatz gegen den Materialismus, welchen das Altertum hervorgebracht hat, was die philosophische Entwicklung des Mittelalters von Anfang an beherrscht und selbst in den Anfängen des »Nominalismus« tritt manches Jahrhundert hindurch kaum eine Neigung zum Ausgehen vom Konkreten hervor, welche einigermaßen an Materialismus grenzen könnte. Das ganze Zeitalter war beherrscht vom Wort, vom Gedankending und von völliger Unklarheit über die Bedeutung der sinnlich gegebenen Erscheinungen, die fast wie Traumbilder an dem wundergewohnten Sinne der spekulierenden Kleriker vorübergingen.

Dies änderte sich mehr und mehr, seit um die Mitte des zwölften Jahrhunderts der Einfluß arabischer und jüdischer Philosophen merklich wurde und allmählich eine vollständigere Kenntnis des Aristoteles durch Übersetzungen, zunächst aus dem Arabischen, sodann aber auch aus den in Byzanz erhaltenen griechischen Originalen sich verbreitete. Zugleich aber wurzelten damit die Grundbegriffe der aristotelischen Metaphysik nur immer vollständiger und tiefer ein.

Diese Grundbegriffe sind aber nun für uns von Wichtigkeit, nicht nur wegen der negativen Rolle, die sie in der Geschichte des Materialismus spielen, sondern auch als unentbehrliche Stücke zur Kritik des Materialismus, nicht als ob wir noch heute den Materialismus an ihnen messen und prüfen dürften, sondern weil wir nun mit Hilfe ihrer Erörterung die Mißverständnisse, welche bei der Diskussion dieses Gegenstandes beständig drohen, gründlich beseitigen können. Ein Teil der hierher gehörigen Fragen ist schon erledigt, Recht und Unrecht des Materialismus schon ins Licht gestellt, sobald die Begriffe, mit denen wir hier beständig operieren müssen, klar sind, und dazu gehört, daß man sie zunächst an der Quelle schöpfe und ihren allmählichen Wandlungen Aufmerksamkeit schenke.[170]

Aristoteles ist der Schöpfer der »Metaphysik«, die bekanntlich ihren sinnlosen Namen bloß der Stellung dieser Bücher in der Reihenfolge der aristotelischen Schriften verdankt. Zweck dieser Wissenschaft ist die Untersuchung der allem Existierenden gemeinsamen Prinzipien, Aristoteles bezeichnet sie daher als die »erste Philosophie«, d. h. als die allgemeine, sich noch nicht auf einen besonderen Zweig beziehende. Der Gedanke, daß eine solche nötig sei, war richtig; allein die Lösung des Problems konnte auch nicht annähernd gelingen, bevor man erkannt hatte, daß das Allgemeine vor allen Dingen das ist, was in der Natur unseres Geistes liegt, mit dem wir alle Erkenntnis aufnehmen. Der Mangel an Sonderung des Subjektiven und Objektiven, der Erscheinung und des Dinges an sich macht sich daher hier besonders fühlbar, und die aristotelische Metaphysik wird durch diesen Mangel zu einer unerschöpflichen Quelle der Selbsttäuschung. Das Mittelalter aber war besonders geneigt, gerade die ärgsten Täuschungen dieser Art begierig aufzusaugen. Diese sind zugleich für unseren Gegenstand von vorzüglicher Wichtigkeit. Sie liegen in den Begriffen der Materie und der Möglichkeit, in ihrem Verhältnis zur Form und zur Wirklichkeit.

Aristoteles nennt vier allgemeine Prinzipien alles Existierenden: die Form (oder das Wesen), den Stoff hylê (bei den lateinischen Übersetzern materia), die bewegende Ursache und den Zweck.103 Wir haben hier vorzüglich die beiden ersten zu betrachten.

Der Begriff der Materie ist vor allen Dingen ein total verschiedener von dem, was man heutzutage unter »Materie« versteht. Während unser Denken noch in so manchen Gebieten das Gepräge der aristotelischen Begriffsbildung trägt, ist hier durch den Einfluß der Naturwissenschaften ein materialistisches Element schon in die gewöhnliche Vorstellungsweise eingedrungen. Mit oder ohne Atomismus denkt man sich die Materie als ein körperliches Ding allgemein verbreitet, wo nicht leerer Raum ist, von gleichartigem Grundwesen, wiewohl gewissen Modifikationen unterworfen.

Bei Aristoteles ist der Begriff der Materie ein relativer; sie ist Materie in Beziehung auf das, was durch Hinzukommen der Form aus ihr werden soll. Ohne die Form kann das Ding nicht sein, was es ist, durch die Form wird das Ding erst das, was es ist, in Wirklichkeit, während früher nur die Möglichkeit dieses Dinges durch den Stoff gegeben war. Der Stoff hat aber für sich schon auch eine Form, jedoch eine niedrige, und eine solche, die in Beziehung auf das Ding, welches werden soll, ganz gleichgültig ist.[171]

Das Erz einer Statue ist z. B. der Stoff, die Idee der Bildsäule die Form, und nun wird aus beiden die wirkliche Bildsäule. Allein das Erz war nicht der Stoff als dieses bestimmte Erz (denn als solches hatte es ja wieder eine Form, die mit der Bildsäule nichts zu tun hatte) sondern als Erz im allgemeinen, d. h. als etwas, das an sich nicht wirklich ist, sondern nur etwas werden »kann«. Daher ist auch die Materie nur der Möglichkeit nach seiend (dynamei on); die Form der Wirklichkeit nach, oder in der Verwirklichung seiend (energeia on oder entelecheia on). Der Übergang des Möglichen in die Wirklichkeit ist das Werden, dies ist also die Gestaltung des Stoffes durch die Form.

Wie man sieht, ist hier von einem an sich existierenden körperlichen Substrat aller Dinge gar keine Rede. Das konkrete, erscheinende Ding selbst, wie es da ist, z. B. ein daliegender Baumstamm, ist das eine Mal »Substanz«, d. h. verwirklichtes, aus Form und Stoff bestehendes Ding, das andre Mal bloß Materie. Der Baumstamm ist »Substanz«, fertiges Einzelding, als Baumstamm, der die Form eines solchen von der Natur erhalten hat; er ist aber »Materie« mit Rücksicht auf den Balken oder das Schnitzbild, welches aus ihm entstehen soll. Man dürfte nur hinzusetzen: »insofern wir ihn als Stoff betrachten«. Dann wäre alles klar, aber die Auffassung wäre nicht mehr streng aristotelisch; den Aristoteles verlegt in der Tat diese Beziehungen zu unserm Denken in die Dinge.

Außer der Materie und der Form betrachtet Aristoteles nun auch noch die bewegenden Ursachen und den Zweck als Gründe alles Seins, von denen letzterer der Natur der Sache mit der Form zusammenfällt. Wie die Form der Zweck der Bildsäule ist, so betrachtet Aristoteles auch in der Natur die in der Materie sich verwirklichende Form als den Zweck oder die Endursache, in der das Werden seinen natürlichen Abschluß findet.

Während nun diese ganze Betrachtungsweise in ihrer Art konsequent genug ist, so wurde doch dabei völlig übersehen, daß die hier verwandten Begriffe von vornherein solcher Natur sind, daß sie ohne Fehler zu ergeben nicht für wirklich erkannte Eigenschaften der objektiven Welt genommen werden dürfen, während sie ein wohlgegliedertes System subjektiver Betrachtung gewähren können. Es ist um so wichtiger, dies sich klar zu machen, da im Grunde nur wenige der scharfsinnigsten Denker, ein Leibniz, Kant und Herbart diese Klippe völlig vermieden haben, so einfach auch die Sache an sich ist.[172]

Der Grundirrtum steckt darin, daß der Begriff des Möglichen, des dynamei on, das doch seiner Natur nach eine bloße subjektive Annahme ist, in die Dinge hineingetragen wird.

Daß Materie und Form zwei Seiten sind, nach denen wir das Wesen der Dinge betrachten können, ist unleugbar; auch war Aristoteles vorsichtig genug, nicht zu sagen, daß aus diesen beiden das Wesen zusammengesetzt sei, wie aus zwei trennbaren Teilen; allein wenn nun aus der Durchdringung von Materie und Form, von Möglichkeit und Verwirklichung das Werden, das wirkliche Geschehen abgeleitet wird, so wird der eben vermiedene Fehler auf diesem Punkte mit doppeltem Gewichte begangen.

Es muß vielmehr unerläßlich geschlossen werden: wenn es keine ungeformte Materie gibt, wenn dieselbe nur angenommen, nicht einmal vorgestellt werden kann, so gibt es auch in den Dingen keine Möglichkeit. Das dynamei on, das Seiende der Möglichkeit nach, ist, sobald man den Boden der Fiktion verläßt, ein reines Unding, gar nicht mehr vorhanden. In der äußeren Natur gibt es nur Wirklichkeit, keine Möglichkeit.

Aristoteles sieht z. B. den Feldherrn, der eine Schlacht gewonnen hat, als wirklichen Sieger an. Dieser wirkliche Sieger war aber schon vor der Schlacht Sieger, jedoch nur dynamei, potentia, d. h. der Möglichkeit nach. – So viel ist unbedenklich zuzugeben, daß schon vor der Schlacht in seiner Person, in der Stärke, Aufstellung des Heeres usw. Bedingungen lagen, welche einen Sieg herbeiführten, sein Sieg war »möglich«; aber diese ganze Verwendung des Begriffs »möglich« beruht nur darauf, daß wir Menschen stets nur einen Teil der wirkenden Ursachen übersehen können; übersähen wir sie alle, so würden wir finden, daß der Sieg nicht möglich, sondern notwendig ist; denn auch die zufälligen und von außen mitwirkenden Umstände stehen ja in ihrem festen Kausalzusammenhang, der schon jetzt so geordnet ist, daß ein bestimmter Erfolg eintreten wird und kein andrer.

Man könnte nun einwenden, das stimme erst recht mit den Annahmen des Aristoteles, denn der Feldherr, der notwendig Sieger wird, ist gewissermaßen schon der Sieger, aber er ist es doch noch nicht wirklich, eben nur »potentia«.

Hier wäre nun ein recht deutliches Beispiel der Verwechslung von Begriffen und Gegenständen. Ob ich den Feldherrn Sieger nenne oder nicht, so ist er doch was er ist: ein wirkliches Wesen, stehend in einem gewissen Zeitpunkt des Verlaufes innerer und äußerer Eigenschaften[173] und Vorgänge. Die noch nicht eingetretenen Umstände sind für ihn auch noch gar nicht da; er hat nur einen gewissen Plan in seinen Vorstellungen; eine gewisse Kraft seines Armes, seiner Stimme; gewisse sittliche Beziehungen zu seiner Armee; gewisse Gefühle von Hoffnung oder Befürchtung; kurz, er ist nach allen Seiten bestimmt. Daß aus diesen Bestimmtheiten im Verhältnis zu anderen Bestimmtheiten seines Gegners, des Bodens, der Heere, der Witterung, sein Sieg folgen wird, ist eine Beziehung, die, wenn sie von unserem Denken aufgefaßt wird, den Begriff der Möglichkeit oder auch den der Notwendigkeit eines Erfolges erzeugt, ohne damit von ihm etwas ab- oder zuzutun.

Es kommt auch zu dieser gedachten Möglichkeit nichts hinzu, um Wirklichkeit daraus zu machen, außer in unserem Denken.

»Hundert wirkliche Taler«, sagt Kant, »enthalten nicht das mindeste mehr als hundert mögliche.«104

Dieser Satz könnte einem Geldspekulanten zweifelhaft, wo nicht unsinnig erscheinen. Wenige Jahre nach Kants Tode (Juli 1808) gab man in Königsberg für einen Tresorschein von 100 Talern kaum 25.105 100 wirkliche Taler galten also in der Vaterstadt des großen Philosophen mehr als 400 bloß mögliche Taler, und es könnte scheinen, als sei Aristoteles mit allen Scholastikern bis auf Wolff und Baumgarten glänzend gerechtfertigt. Der Tresorschein, der für 25 wirkliche Taler zu haben ist, stellt 100 mögliche Taler dar. Sehen wir aber genauer zu, so wird freilich die sehr gefährdete Aussicht auf einstige bare Auszahlung der 100 Taler für 25 hingegeben; dies ist daher der wirkliche Wert der betreffenden Aussicht, und daher auch der wirkliche Wert des Scheines, welcher die Aussicht verleiht. Der Gegenstand dieser Aussicht bleiben aber nach wie vor die vollen 100 Taler des Nominalwertes. Dieser Nominalwert stellt den Betrag dessen dar, was als möglich, mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/4, erwartet wird. Der wirkliche Wert hat mit dem Betrage des möglichen nichts zu tun. Sonach hätte Kant vollständig recht.

Kant wollte aber mit diesem Beispiel noch etwas mehr sagen, und auch darin hat er recht. Als nämlich unserem Spekulanten nach dem 13. Januar 1816 seine hundert Taler bar ausbezahlt wurden, da kam zu der Möglichkeit nicht noch etwas hinzu, so daß sie nun Wirklichkeit wurde. Die Möglichkeit, als das bloß Gedachte, kann nun und nimmer in Wirklichkeit übergehen, sondern die Wirklichkeit ergibt sich aus vorhergehenden wirklichen Umständen mit[174] voller Bestimmtheit. Neben der Herstellung des Staatskredits und anderen Verhältnissen gehört dazu auch die Präsentation eines wirklichen Tresorscheines – nicht der »möglichen« hundert Taler; denn diese sind nur im Gehirn desjenigen, der sich einen Teil der Umstände, welche auf die Auswechslung des Papierstücks für Silber Einfluß haben, vorstellt, und diese Vorstellung zum Ausgangspunkt seiner Hoffnungen, Befürchtungen und Reflexionen macht. Vielleicht wird man uns die Breite dieser Erörterungen verzeihen, wenn wir um so kürzer noch einmal darauf hinweisen, daß der Begriff der Möglichkeit die Quelle der meisten und schlimmsten metaphysischen Irrtümer ist. Aristoteles ist freilich nicht schuld daran, da der Grundirrtum tief in unserer Organisation begründet ist; dieser mußte jedoch in einem System, welches mehr als irgendein früheres die Metaphysik auf dialektische Erörterungen stützte, doppelt verderblich werden, und die hohe Geltung, welche Aristoteles gerade durch sein in anderer Beziehung so fruchtbares Verfahren gewann, schien diesen Schaden fast verewigen zu wollen. Da Aristoteles nun auf so unglückliche Art aus der bloß möglichen Materie und der sich verwirklichenden Form das Werden und überhaupt die Bewegung ableitete, so mußte auch ganz konsequent die Form oder der Zweck der Dinge die wahre Quelle der Bewegung sein, und wie die Seele den Körper bewegt, so ist Gott, als Form und Zweck der Welt, die erste Ursache aller Bewegung. Man konnte nicht erwarten, daß Aristoteles die Materie als an sich bewegt ansehe, da er ihr ja überhaupt nur die negative Bestimmung der Möglichkeit alles zu werden zuschreibt.

Dieselbe falsche Vorstellung vom Möglichen, welche jenen störenden Einfluß auf den Begriff der Materie ausübt, finden wir nun wieder im Verhältnisse des bleibenden Dinges zu seinen wechselnden Zuständen, oder um in der Sprache des Systems zu bleiben, in dem Verhältnisse von Substanz und Akzidens. Die Substanz ist das für sich bestehende Wesen des Dinges, das Akzidens eine zufällige Eigenschaft, welche in der Substanz nur »der Möglichkeit nach« vorhanden ist. Nun gibt es aber in den Dingen keinen Zufall, obwohl ich einige derselben aus Unkenntnis der Gründe als zufällig bezeichnen muß.

Ebensowenig kann in einem Dinge die Möglichkeit irgendeiner Eigenschaft oder eines Zustandes stecken. Diese ist nur ein Gegenstand unserer kombinierenden Vorstellung. Auch kann keine Eigenschaft in den Dingen »der Möglichkeit nach« sein, da dies gar[175] keine Existenzform ist, sondern eine Denkform. Das Saatkorn ist kein möglicher Halm, sondern ein Saatkorn. Wenn ein Tuch naß ist, so ist in dem Augenblick, in dem es das ist, diese Nässe ebenso notwendig nach allgemeinen Gesetzen da, als jede andere Eigenschaft des Tuches, und wenn sie vorher als möglich gedacht wird, so hat doch das Tuch, welches ich später ins Wasser tauchen will, in sich durchaus keine anderen Eigenschaften, als ein anderes Tuch, dem kein solches Experiment bevorsteht.

Die begriffliche Trennung von Substanz und Akzidens ist allerdings ein bequemes, vielleicht unentbehrliches Hilfsmittel der Orientierung, allein sobald man beginnt, sich etwas tiefer auf das Wesen der Dinge einzulassen, so muß man auch erkennen, daß alsdann der Unterschied zwischen Substanz und Akzidens ebenfalls schwindet. Zwar hat ein Ding gewisse Eigenschaften, die in einem dauerhafteren Zusammenhang stehen als andere; allein absolut dauerhaft ist ja keine, und im Grunde sind alle in beständigem Wechsel. Faßt man nun einmal die Substanz als Einzelwesen, nicht als Gattung oder als ein allgemeines stoffliches Substrat, so muß man, um dessen Form ganz zu bestimmen, auch seine Betrachtung auf einen gewissen Zeitabschnitt beschränken, und innerhalb dessen alle Eigenschaften in ihrer Durchdringung als die substantielle Form und diese als das einzige Wesen des Dinges betrachten.

Spricht man dagegen mit Aristoteles von dem Begrifflichen (to ti ên einai) in den Dingen als ihrer wahren Substanz, so befindet man sich bereits auf dem Boden der Abstraktion; denn es ist im Grunde logisch in gleicher Weise zu abstrahieren, ob man nun aus der Kenntnis von einem Dutzend Katzen den Artbegriff entnimmt, oder ob man seine eigene Hauskatze durch alle ihre Lebensstufen, Wandlungen und Stellungen hindurch als ein und dasselbe Wesen betrachtet. Nur auf dem Gebiete der Abstraktion hat der Gegensatz von Substanz und Akzidens seine Bedeutung. Zu unserer Orientierung und für die praktische Behandlung der Dinge wird man die von Aristoteles mit meisterhafter Schärfe ausgeprägten Gegensätze des Möglichen und Wirklichen, der Form und des Stoffes, der Substanz und des Akzidens wohl niemals völlig entbehren können. Ebenso sicher ist aber, daß man in der positiven Forschung von diesen Begriffen immer irregeführt wird, sobald man ihre subjektive Natur und relative Geltung nicht beachtet, und daß sie daher auch nicht dienen können, unseren Blick in das objektive Wesen der Dinge zu erweitern.[176]

Der Standpunkt des gewöhnlichen empirischen Denkens, bei welchem der heutige Materialismus in der Regel stehen bleibt, ist von diesen Fehlern des aristotelischen Systems keineswegs frei, da er den falschen Gegensatz in umgekehrter Richtung womöglich noch fester und eingewurzelter festhält. Man schreibt dem Stoff, der Materie, die doch jedenfalls auch nur einen durch Abstraktion gewonnenen Begriff vorstellt, das wahre Wesen zu; man ist geneigt, den Stoff der Dinge für ihre Substanz und die Form für ein bloßes Akzidens zu halten. Der Block, auf dem eine Statue werden soll, gilt jedem als wirklich; die Form, welche er erhalten soll, als bloß möglich. Und doch ist hier leicht zu sehen, daß dies nur wahr ist, insofern der Block eine Form hat, die ich nicht weiter beachte, nämlich die Form, in welcher er aus dem Steinbruch kam. Der Block als Stoff der Statue dagegen ist nur ein gedachter, während die Idee der Statue, insofern sie von einem Künstler vorgestellt wird, wenigstens als Vorstellung eine Art von Wirklichkeit hat. Soweit hätte also Aristoteles gegenüber dem gewöhnlichen Empirismus recht. Sein Fehler besteht nur darin, daß er die wirkliche Vorstellung eines denkenden Wesens in einen fremden, der Behandlung dieses Wesens unterliegenden Gegenstand versetzt, als eine »der Möglichkeit nach« vorhandene Eigenschaft desselben.

Die aristotelischen Definitionen der Substanz, der Form, der Materie usw. galten, soweit man sie verstand, so lange, als nur die Scholastik herrschte, d. h. in unserm deutschen Vaterlande noch bis über Cartesius hinaus.

Wenn jedoch schon Aristoteles die Materie etwas geringschätzig behandelt und ihr namentlich alle eigene Bewegung abspricht, so mußte nach dem im vorhergehenden Kapitel geschilderten Einflusse des Christentums diese Geringschätzung gegen die Materie zunehmen. Daß alles das, wodurch die Materie etwas Bestimmtes, also z. B. böse, sündlich sein kann, im aristotelischen Sinne Formen sein müssen, bedachte man nicht; man veränderte zwar das System nicht so weit, daß man etwa die Materie geradezu als das Böse, das Übel bezeichnet hätte, allein man gefiel sich doch in der Ausmalung ihrer absoluten Passivität; man stellte dieselbe als eine Unvollkommenheit dar, ohne zu bedenken, daß die Vollkommenheit eines jeden Wesens darin besteht, daß es seinem Zweck entspricht, daß es also, wenn man einmal kindisch genug ist, den letzten Gründen alles Seins Zensurenerteilen zu wollen, vielmehr der Materie zum Lobe gereichen müßte, daß sie sich so hübsch ruhig[177] verhält. Als nun gar später Wolff der Materie die vis inertiae zuschrieb und die Physiker empirisch die Eigenschaften der Schwere und der Undurchdringlichkeit auf die Materie übertrugen, während diese an sich Formen sein mußten, war bald das Schauergemälde fertig:

»Die Materie ist eine dunkle, träge, starre und absolut passive Substanz.«

»Und diese Substanz soll denken?« sagt die eine Partei, während die anderen sich darüber aufhalten, daß es immaterielle Substanzen geben solle, weil unterdessen der Begriff der Substanz im alltäglichen Sprachgebrauch sich mit dem der Materie identifiziert hat.

Auf diese Wandlungen der Begriffe ist nun freilich auch der moderne Materialismus nicht ohne Einfluß gewesen, allein die Nachwirkung der aristotelischen Begriffe und die Autorität der Religion waren stark genug, um die Wirkungen dieses Einflusses in eine ganz andere Bahn zu lenken. Die beiden Männer, welche auf die Umbildung des Begriffes der Materie den größten Einfluß geübt haben, sind wohl Descartes und Newton. Beide stehen in der Hauptsache auf dem Boden der durch Gassendi erneuerten Atomistik (wiewohl Descartes dies durch seine Leugnung des leeren Raumes möglichst zu verdecken sucht); allein darin unterscheiden sich beide von Demokrit und Epikur, daß sie die Bewegung vom Stoffe trennen und sie durch den Willen Gottes entstehen lassen, der zuerst die Materie schafft und dann erst, in einem wenigstens begrifflich zu trennenden Akte, die Bewegung hineinbringt.

Übrigens blieb die aristotelische Anschauung gerade auf demjenigen speziellen Gebiete, für welches die Fragen des Materialismus besonders entscheidende Bedeutung haben, auf dem Gebiete der Psychologie, am längsten und vergleichsweise am lautersten erhalten. Das Fundament dieser Seelenlehre beruht auf dem Irrwahn von Möglichkeit und Wirklichkeit. Aristoteles definiert nämlich die Seele als Verwirklichung eines organischen Körpers, welcher »der Möglichkeit nach« Leben hat.106 Der Ausdruck ist an sich weder so rätselhaft, noch so vieldeutig, wie manche ihn gefunden haben. »Verwirklichung« oder »Erfüllung« ist durch »entelecheia« gegeben, und es ist schwer zu sagen, was man alles in diesen Ausdruck hineingetragen hat. Bei Aristoteles bedeutet er den bekannten Gegensatz gegen dynamis; was er etwa weiter bedeutet, ist erschlichen.107 Der organische Körper hat das Leben nur der Möglichkeit[178] nach. Nun kommt die Verwirklichung dieser Möglichkeit von außen herein. Das ist alles. Die innere Unwahrheit der ganzen Anschauung liegt noch deutlicher zutage, wie bei dem Verhältnis der Form zum Stoff, wiewohl der Gegensatz beider Begriffspaare durchaus zusammenfällt. Daß der organische Körper als bloße Möglichkeit eines Menschen gar nicht denkbar ist ohne menschliche Form, die doch wieder ihrerseits die Tätigkeit der »Verwirklichung« eines Menschen im bildsamen Stoff, also die Seele, voraussetzt, ist eine Klippe der orthodoxen aristotelischen Ansicht, welche ohne Zweifel wesentlich zur Ausbildung des Stratonismus beigetragen hat. Aristoteles zieht sich, um dieser Klippe zu entgehen, auf den Akt der Zeugung zurück, als ob hier wenigstens ein formloser Stoff durch die seelische Energie des Zeugenden seine Verwirklichung als menschliches Gebilde erhielte; allein damit wird nur die vom System geforderte Trennung von Form und Stoff, Verwirklichung und Möglichkeit in das Halbdunkel eines minder bekannten Prozesses verlegt und also im trüben gefischt.108 Das Mittelalter konnte aber diese Anschauung sehr gut verwenden und wußte sie in trefflichen Einklang mit der Dogmatik zu bringen. Weit mehr Wert hat die tiefsinnige Lehre des Philosophen von Stagira, daß der Mensch, als höchstes Gebilde der Schöpfung, die Natur aller niederen Stufen mit in sich trage. Die Aufgabe der Pflanze ist, sich zu nähren und zu gedeihen; das Wesen der Pflanzenseele ist daher auch das des Vegetierens Im Tiere regen sich außerdem Empfindung, Bewegung und Begehrungsvermögen; das vegetative Leben tritt hier in den Dienst des höheren, des sensitiven. Im Menschen tritt nun das höchste Prinzip, das des Geistes (nous), hinzu und beherrscht die übrigen. Durch eine gewisse Mechanisierung, zu der die Scholastik neigte, wurden aus diesen Elementen des menschlichen Wesens drei fast völlig voneinander getrennte Seelen gemacht, die anima vegetativa, die anima sensitiva und die anima rationalis, von denen der Mensch die erste mit Tier und Pflanze, die zweite wenigstens mit dem Tier gemein hat, während die letzte allein unsterblich und göttlichen Ursprungs ist und alle höheren, den Tieren versagten Geisteskräfte umfaßt.109 Aus dieser Unterscheidung ging die bei christlichen Dogmatikern so beliebte Scheidung zwischen Seele und Geist, den beiden höheren Kräften, hervor, während die niederste, die anima vegetativa, Grundlage der späteren Lehre von der Lebenskraft wurde.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Aristoteles diese Kräfte beim[179] Menschen nur begrifflich trennte. Wie der Menschenleib seine tierische Natur nicht neben der spezifisch menschlichen Natur hat, sondern in ihr, wie er ganz Tierkörper edelster Art, und doch in der besonderen Gestaltung desselben durch und durch eigentümlich menschlich ist: so ist nach ihm auch das Verhältnis der Seelenstufen zu denken. Die menschliche Form schließt das geistige Wesen in sich in völliger Durchdringung mit dem Empfindungs- und Begehrungsvermögen, wie dieses wieder, schon beim Tiere, mit dem bloßen Lebensprinzip eins und dasselbe ist. Nur bei der Lehre von der »abtrennbaren« Vernunft, jener Lehre, auf welche sich der Monopsychismus der Averroisten einerseits und die scholastische Unsterblichkeitslehre anderseits beruft, wird die Einheit aufgehoben, aber nicht ohne eine offenbare Verletzung der Grundzüge des Systems. Diese Einheit, nach welcher die Form des Menschen, alle niedere Formen in sich vereinigend, seine Seele ist, rissen die Scholastiker auseinander. Sie konnten sich dabei, auch abgesehen von der »abtrennbaren Vernunft«, auf manche Äußerung des großen Philosophen stützen, der allenthalben in seinem System mit schärfster Konsequenz in gewissen Grundzügen ein starkes Schwanken in der Ausführung verbindet. So namentlich auch bei der Unsterblichkeitslehre, welche, gleich der Gotteslehre, dem System nur lose angefügt ist und ihm in manchen Punkten widerspricht.110

Aus der aristotelischen Philosophie erklären sich noch manche Annahmen der älteren Metaphysik, welche die Materialisten gern als einfach sinnlos verwerfen. Hierher gehört namentlich die Behauptung, daß die Seele nicht nur im ganzen Körper verbreitet, sondern auch in jedem Teile desselben ganz gegenwärtig sei. Thomas von Aquino lehrte ausdrücklich, daß sie nicht nur der Möglichkeit, sondern der Wirklichkeit nach in jedem Teile des Körpers mit ihrem einheitlichen und unteilbaren Wesen gegenwärtig sei. Dies schien manchen Materialisten der Gipfel des Unsinns, aber innerhalb des aristotelischen Systems hat es mindestens ebenso guten Sinn, als wenn man sagt, das Prinzip des Kreises, ausgedrückt durch den einen und unteilbaren Satz x2 + 2=r2, sei in jedem beliebigen Abschnitte eines gegebenen Kreises vom Radius r, dessen Mittelpunkt in den Anfangspunkt der Koordinaten fallt, vollständig verwirklicht.

Man vergleiche das Formprinzip des Menschenleibes mit der Gleichung des Kreises, und man wird den Grundgedanken des Stagiriten vielleicht reiner und schärfer erfaßt haben, als er selbst ihn darzustellen[180] vermochte. Die Frage nach dem Sitz der bewußten Funktionen, des Empfindens und Begehrens, ist davon völlig verschieden. Diese verlegt Aristoteles in das Herz; die Scholastiker, durch Galen belehrt, in das Gehirn. Aristoteles läßt aber diesen Funktionen konsequenterweise ihre physische Natur und stimmt daher in einem sehr wichtigen Punkte, genau genommen, mit dem Materialisten überein. (Vgl. Anm. 31) Hierin vermochten ihm freilich die Scholastiker nicht zu folgen, und es ist nicht zu leugnen, daß die spätere Metaphysik vielfach eine mystische Verwirrung in jene an sich einfachen und verständlichen Formeln brachte, die dem vollendeten Unsinn näher liegt als dem klaren Denken.

Soll aber der Gegensatz des Materialismus gegen die Metaphysik auch hier an der Wurzel gefaßt werden, so ist lediglich wieder zurückzugehen auf jene Verwechslung von Sein und Denken, welche sich bei dem Begriff der »Möglichkeit« so folgenschwer gezeigt hat. Wir halten streng daran fest, daß diese Verwechslung ursprünglich nur den Charakter des gewöhnlichen Irrtums hat. Erst neueren Philosophen blieb es vorbehalten, aus der Unfähigkeit sich von jahrtausendealten Fesseln zu befreien, eine Tugend zu machen und gerade die unbewiesene Identität von Sein und Denken zum Prinzip zu erheben.

Wenn ich behufs einer mathematischen Konstruktion einen Kreis mit Kreide beschreibe, so ist allerdings die Form der räumlichen Anordnung der Kreideteilchen zuerst als Zweck im Geiste vorhanden. Der Zweck wird zur bewegenden Ursache, die Form zur Verwirklichung des Prinzips in den stofflichen Teilen. Wo ist nun aber das Prinzip? In der Kreide? Offenbar nicht in den einzelnen Teilchen. Auch nicht in ihrer Summe. Wohl aber in ihrer »Anordnung«, d. h. in einer Abstraktion. Das Prinzip ist und bleibt im menschlichen Gedanken. Wer gibt uns nun vollends das Recht, ein solches voraus existierendes Prinzip in diejenigen Dinge zu versetzen, welche nicht durch Menschenwitz zustande kommen, wie z. B. die Form des Menschenleibes? Ist diese Form etwas? In unserer Auffassung gewiß. Es ist die Erscheinungsweise des Stoffes, d. h. die Art, wie er uns erscheint; allein kann diese Erscheinungsweise des Dinges vor dem Dinge selbst sein? Kann sie getrennt von ihm sein?

Wie man sieht, führt der Gegensatz von Form und Stoff, sobald man der Sache auf den Grund geht, zurück auf die Frage der Existenz der Universalien, denn nur als ein Allgemeines konnte die[181] Form überhaupt als außerhalb des menschlichen Denkvermögens für sich bestehend betrachtet werden. So führt die aristotelische Weltanschauung überall, wenn man der Sache auf den Grund geht, auf Platonismus zurück, und so oft uns ein Gegensatz zwischen aristotelischem »Empirismus« und platonischem Idealismus entgegentritt, haben wir auch einen Punkt vor uns, in welchem Aristoteles sich selbst widerspricht. So beginnt Aristoteles in der Lehre von der Substanz sehr empiristisch mit der Substantialität der einzelnen konkreten Dinge. Alsbald verflüchtigt sich dieser Begriff wieder zu der Annahme, daß das Begriffliche in den Dingen oder die Form Substanz sei. Das Begriffliche ist aber das Allgemeine und doch soll es in seiner Verbindung mit dem an sich ganz unbestimmten Stoff auch das Bestimmende sein. Dies hat im Platonismus, der die Einzeldinge als nichtige Scheinwesen betrachtet, seinen Sinn; bei Aristoteles bleibt es ein vollkommener Widerspruch und daher freilich gleich geheimnisvoll für Weise wie für Toren.

Wendet man diese Betrachtungen auf den Streit der Nominalisten und Realisten an (vgl. oben S. 68 ff.), so begreift man, daß die Entstehung des Individuums den Realisten verzügliche Schwierigkeiten machen mußte. Die Form als Allgemeines kann aus der Materie kein Individuum machen, woher nehmen wir also ein »principium individuationis«, um scholastisch zu reden? Aristoteles bleibt uns die Antwort hierauf schuldig. Avicenna ergriff den Ausweg, das Prinzip der Individuation, also dasjenige, wodurch aus dem Begriff des Hundes dieser bestimmte Hund wird, auf die Materie zu schieben; ein Ausweg, bei welchem entweder der ganze aristotelische (und erst recht der platonische) Begriff der Materie fallen muß, oder das Individuum platonisch verflüchtigt wird. Hier ging sogar der heilige Thomas in die Falle, der sonst so behutsam die Benutzung der arabischen Kommentatoren mit der Vermeidung ihrer Irrlehren zu verbinden wußte. Er verlegte das Prinzip der Individuation in die Materie und – wurde zum Ketzer; denn wie der Bischof Stephan Tempier nachwies, verstößt diese Ansicht gegen die Lehre von den immateriellen Individuen, wie die Engel und die abgeschiedenen Seelen.111 Duns Scotus half sich durch die Erfindung der berüchtigten haecceitas, die oft genug ohne viel Rücksicht auf den Zusammenhang der Begriffe als der Gipfel scholastischen Unsinns zitiert wird. Es scheint in der Tat eine absurde Idee, die Individualität wieder zur Wirkung eines Allgemeinen ad[182] hoc zu machen, und doch steht diese Lösung der Schwierigkeit unter allen Auswegen, die man hier eingeschlagen hat, noch im besten Einklang, oder sagen wir lieber im geringsten Widerspruch mit der gesamten aristotelischen Lehre.

Für den Nominalisten bestand hier keine große Schwierigkeit. Occam erklärt ganz ruhig, das Prinzip der Individuation liege in den Individuen selbst, und dies harmoniert vortrefflich mit jenem Aristoteles, welcher die Individuen zu Substanzen macht, allein um so schlechter mit dem platonisierenden Aristoteles, welcher die »zweite Substanzen« (Gattungs- und Artbegriffe) und die substantiellen Formen erfunden hat. Den ersten Aristoteles beim Wort nehmen, heißt den zweiten Aristoteles beiseite schieben. Der zweite aber ist der herrschende Aristoteles, und zwar nicht nur in der Scholastik, bei den Arabern und den alten Kommentatoren, sondern auch im echten und unverfälschten aristotelischen System. Daher kann auch in der Tat der Nominalismus, und insbesondere der Nominalismus der zweiten scholastischen Periode, als der Anfang vom Ende der Scholastik betrachtet werden. Für die Geschichte des Materialismus aber ist der Nominalismus von Wichtigkeit nicht nur durch seinen allgemeinen Gegensatz gegen den Platonismus und durch seine Anerkennung des Konkreten, sondern auch durch ganz bestimmte historische Spuren, welche darauf hinweisen, daß der Nominalismus tatsächlich dem Materialismus vorgearbeitet hat und daß er am meisten und kräftigsten da gepflegt wurde (vor allem in England), wo später auch der Materialismus seine kräftigste Entfaltung fand.

Wenn schon der ältere Nominalismus an den Wortlaut der aristotelischen Kategorien gegenüber den neuplatonischen Kommentatoren anknüpft,112 so ist unverkennbar, daß auf die Entstehung und Ausbreitung des späteren Nominalismus das Bekanntwerden der sämtlichen aristotelischen Schriften von großem Einfluß war. Einmal vom Gängelbande der neuplatonischen Überlieferung befreit und auf die hohe See des aristotelischen Systems hinausgebtrieben, mußten die Scholastiker in der Lehre vom Allgemeinen, oder vollständiger bezeichnet in der Lehre von Wort, Begriff und Ding bald so viele Schwierigkeiten entdecken, daß zahllose Lösungsversuche des großen Problems auftauchten. In der Tat treten, wie Prantl in seiner Geschichte der Logik im Abendlande gezeigt hat, für die Spezialgeschichte an die Stelle der drei Hauptauffassungen (universalia ante rem, post rem oder in re) höchst mannigfaltige Kombinationen[183] und Vermittlungsversuche und die Meinung, daß die universalia eigentlich erst im menschlichen Geiste entstehen, findet sich vereinzelt sogar bei Schriftstellern, welche im ganzen entschieden dem Realismus huldigen.113

Neben dem Bekanntwerden der aristotelischen Schriften mag auch der Averroismus von einigem Einfluß gewesen sein, wiewohl derselbe als Vorläufer des Materialismus zunächst nur von seiten der Freigeisterei in Betracht kommt. Die arabische Philosophie ist nämlich ungeachtet ihrer Neigung zum Naturalismus doch wesentlich realistisch im Sinne der mittelalterlichen Parteien, d. h. platonisierend, und selbst ihr Naturalismus nimmt gern eine mystische Färbung an. Aber insofern die arabischen Kommentatoren die hierher gehörigen Fragen energisch anregten und überhaupt zu vermehrtem eignem Nachdenken nötigten, mögen sie indirekt den Nominalismus gefördert haben. Der Haupteinfluß kommt jedoch von einer Seite, von welcher man es auf den ersten Blick am wenigsten erwartet: von der wegen ihrer abstrakten Spitzfindigkeit so verschrienen byzantinischen Logik.114

Es muß in der Tat überraschen, daß gerade das Extrem der Scholastik, gerade jene ultraformale Logik der Schulen und der sophistischen Disputierkünste mit dem wiedererwachenden Empirismus, welcher schließlich die ganze Scholastik beiseite fegte, zusammenhängen soll; und doch haben wir Spuren dieses Zusammenhangs, welche bis in die Gegenwart hineinreichen. Der entschiedenste Empiriker unter den namhaften Logikern der Gegenwart, John Stuart Mill, eröffnet sein System der Logik mit zwei Aussprüchen von Condorcet und von W. Hamilton, welche den Scholastikern hohes Lob spenden wegen der Feinheit und Präzision, welche sie dem sprachlichen Ausdruck der Gedanken verliehen haben. Mill selbst nimmt mehrere Unterscheidungen verschiedener Arten der Wortbedeutung in seine Logik auf, welche der Scholastik jener letzten Jahrhunderte des Mittelalters angehören, die man gewöhnlich als eine ununterbrochene Kette von Absurditäten zu betrachten pflegt.

Das Rätsel löst sich aber bald, wenn man von der Erwägung ausgeht, daß es ein Hauptverdienst der englischen Philosophie seit Hobbes und Locke war, uns von der falschen Herrschaft leerer Worte in der Spekulation zu befreien und den Gedanken mehr an die Dinge zu knüpfen statt an überlieferte Ausdrücke. Um aber dazu zu gelangen, mußte die Lehre von den Wortbedeutungen an[184] der Wurzel gefaßt und mit einer scharfen Kritik des Verhältnisses von Wort und Sinn begonnen werden. Hierzu aber bietet die byzantinische Logik in der Ausbildung, welche sie im Abendlande und vorzüglich in der Schule Occams erhielt, Vorarbeiten, die noch heutzutage von positivem Interesse sind.

Daß Empirismus und logischer Formalismus Hand in Hand gehen, ist ohnehin keine seltene Erscheinung. Je mehr unser Bestreben darauf gerichtet ist, die Dinge möglichst rein auf uns wirken zu lassen und die Erfahrung und Naturforschung zur Grundlage unserer Ansichten zu machen, desto mehr werden wir auch das Bedürfnis empfinden, unsere Schlüsse an streng präzisierte Zeichen für dasjenige, was wir sagen wollten, anzuknüpfen, statt uns von den natürlichen Sprachformen die Vorurteile vergangener Jahrhunderte und kindlicher Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes in unsere Behauptung einmischen zu lassen.

Freilich hat sich das ganze Wesen der byzantinischen Logik ursprünglich durchaus nicht als bewußte Emanzipation von der Sprachform entwickelt, sondern vielmehr als ein Versuch, die vermeintliche Identität von Sprechen und Denken in ihre Konsequenzen zu verfolgen. Das Resultat aber mußte notwendig auf Emanzipation des präzisen Gedankenausdrucks von der Sprachform hinauslaufen. Wer heutzutage noch mit Trendelenburg, K. F. Becker und Ueberweg Grammatik und Logik zu identifizieren geneigt ist, könnte jedenfalls mit großem Vorteil bei den Logikern jener Jahrhunderte in die Schule gehen; denn diese machten Ernst mit dem Versuche die ganze Grammatik logisch zu analysieren, wobei sie denn allerdings dazu gelangten, eine neue Sprache zu schaffen, über deren Barbarei die Humanisten sich nicht genug entsetzen konnten.

Bei Aristoteles ist die Identifizierung von Grammatik und Logik noch naiv, weil beide Wissenschaften hier erst, wie Trendelenburg sehr richtig bemerkt hat, aus einer gemeinsamen Wurzel hervorgewachsen; ja, Aristoteles hat schon weitgehende Lichtblicke über den Unterschied von Wort und Begriff, die jedoch nicht genügen, das allgemeine Dunkel zu zerstreuen. In seiner Logik erscheinen nun stets nur Subjekt und Prädikat; den Wortarten nach Hauptwort und Zeitwort oder statt des letzteren Adjektiv und Kopula; außerdem die Negation, die Wörter, welche den Umfang bezeichnen, in welchem das Prädikat dem Subjekte zukommt, wie »alle«, »einige« und gewisse Hilfszeitwörter, welche die Modalität der[185] Urteile ausdrücken. Die byzantinische Logik dagegen, wie sie beschaffen war, als sie im 13. Jahrhundert sich über das Abendland verbreitete, hat nicht nur die Adverbia ins Spiel gezogen, den Kreis der in der Logik verwandten Hilfszeitwörter erweitert, die Bedeutung der Kasus des Hauptwortes in Betracht gezogen, sondern sie hat vor allen Dingen auch jene Zweideutigkeiten ins Auge gefaßt und zu beseitigen versucht, welche das Verhältnis des Nomens zu dem von ihm bezeichneten Begriffskreise mit sich bringt. Diese Zweideutigkeiten sind im Lateinischen, wo der Artikel fehlt, noch viel zahlreicher als im Deutschen, wie z. B. in dem berüchtigten Falle, wo ein angetrunkener Student schwört, er habe nicht »vinum« getrunken, weil er sich die reservatio mentalis erlaubt hat, unter vinum den Wein seinem ganzen Umfange nach, also sämtlichen Wein, den es überhaupt gibt, zu verstehen, und den Wein in Indien oder auch den im Glase seines Nachbars hat er freilich nicht getrunken. Solche Sophismen gehörten nun allerdings zum Schulbetriebe der spätscholastischen Logik, und das Übermaß hierin, wie auch in der spitzfindigen Ausbeutung der schulmäßigen Unterscheidungsformen hat gerechten Tadel gefunden und den Humanisten in ihrem Kampfe gegen die Scholastiker oft genug zum Siege verholfen. Die Grundabsicht bei diesem Treiben war aber eine sehr ernste, und das ganze Problem wird vielleicht früher oder später – freilich in anderm Zusammenhang und mit andrer Endabsicht – wieder aufgenommen werden müssen.

Das Resultat des großen Versuches war insofern ein negatives, als sich keine vollkommene Logik auf diesem Wege erzielen ließ und ein natürlicher Rückschlag gegen das Übermaß der Künstlichkeit bald dazu führte, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Errungen wurde jedoch nicht nur eine, wie Condorcet sagt, »den Alten unbekannte« Gewöhnung an präzisen Gedankenausdruck, sondern auch eine mit dem Empirismus vortrefflich harmonierende Ansicht vom Wesen der Sprache.

Sokrates hatte geglaubt, alle Wörter müßten ursprünglich das wahre Wesen der bezeichneten Dinge möglichst vollkommen ausgedrückt haben; Aristoteles hatte in einer Regung seines Empirismus die Sprache für konventionell erklärt; die Schule Occams führte dazu, wenn dies auch noch nicht mit vollem Bewußtsein erfaßt wurde, die Sprache der Wissenschaft konventionell zu machen, d. h. sie durch willkürliche Fixierung der Begriffe von dem historisch gewordenen Typus der Ausdrücke zu befreien und damit[186] zahllose Zweideutigkeiten und störende Nebenbegriffe zu beseitigen. Dieser ganze Prozeß aber war notwendig, wenn eine Wissenschaft entstehen sollte, welche, statt alles aus dem Subjekt zu schöpfen, die Dinge reden ließ, deren Sprache oft eine ganz andre ist als die unsrer Grammatiken und Wörterbücher. Schon hierdurch allein war Occam ein vollwichtiger Vorläufer eines Baco, Hobbes und Locke. Er war es aber auch schon durch die größere Tätigkeit des Selbstdenkens statt des bloßen Nachsprechens, welche seine Richtung mit sich brachte: vor allem aber durch die natürliche Harmonie seines Betriebes der Logik mit den Grundgedanken des alten Nominalismus, der in allen »Universalien« nur zusammenfassende Ausdrücke erblickt für die allein substantiellen, allein außerhalb des menschlichen Denkens existierenden konkreten, einzelnen, sinnlichen Dinge. Der Nominalismus war übrigens mehr als eine Schulmeinung, wie jede andre. Er war im Grund das skeptische Prinzip gegenüber der ganzen Autoritätssucht des Mittelalters; von den oppositionell gestimmten Franziskanern gepflegt, wandte er die Schärfe seiner analytischen Denkweise auch gegen das Gebäude der Hierarchie in der Kirchenverfassung, wie er die Hierarchie der Begriffswelt stürzte. So dürfen wir uns nicht wundern, daß Occam Denkfreiheit verlangte; daß er in der Religion sich an die praktische Seite hielt und daß er die ganze Theologie, wie später sein Landsmann Hobbes, über Bord warf, indem er die Lehrsätze des Glaubens für schlechthin unbeweisbar erklärte.115 Sein Lehrsatz, daß die Wissenschaft in letzter Linie keinen andern Gegenstand hat, als die sinnlichen Einzeldinge, ist noch heute das Fundament der Logik Stuart Mills, wie er denn überhaupt die Opposition des gesunden Menschenverstandes gegen den Platonismus mit einer Schärfe ausdrückt, welche ihm bleibende Bedeutung gibt.116[187]

100

Prantl, Gesch. d. Logik im Abendlande, II, S. 4 will in der ganzen Scholastik nur Theologie und Logik finden, aber durchaus keine »Philosophie«. Sehr richtig ist übrigens, daß sich die verschiedenen Perioden der Scholastik fast nur nach dem Einfluß des allmählich reicher fließenden Schulmaterials unterscheiden lassen. (So dürfte z.B. auch Ueberwegs Einteil. in die 3 Perioden der unvollständigen, der vollständigen und der wieder sich auflösenden Akkomodation der aristotel. Philosophie an die Kirchenlehre sich unhaltbar erweisen.) – Ebendas. s. eine vollständige Aufzählung des Schulmaterials, über welches das Mittelalter anfangs verfügte.

101

Letzteres ist sehr gut nachgewiesen von Dr. Schuppe in seiner Schrift »die aristotelischen Kategorien«, Berlin 1871. Weniger zwingend scheint mir die Beweisführung gegenüber Bonitz in Beziehung auf die Auffassung des Ausdrucks katêgoriai tou ontos. Der im Text gewählte Ausdruck sucht diese Streitfrage, deren Erörterung hier zu weit führen würde, zu umgehen. Nach Prantl, Gesch. d. Log. I, S. 192 erhält das faktisch bestehende Seiende mittels der in den Kategorien ausgesagten Momente seine volle konkrete Bestimmtheit.

102

Prantl, Gesch. d. Logik, II, S. 17 u. f., insbes. Anm. 75.

103

Ueberweg, Grundriß, I, 4. Aufl. S. 172 u. S. 175. – Die dort gegebenen Nachweisungen genügen für unsern Zweck vollständig, da es sich hier nicht um eine neue Auffassung der aristotelischen Metaphysik handelt, sondern nur um eine kritische Erörterung anerkannt aristotelischer Begriffe und Lehrsätze.

104

Kants Kritik d. r. Vernunft, Elementarl. II. Tl. 2. Abt., 2. Buch, 3. Hauptst., 4. Abschn. – Bd. III, S. 409 der Hartensteinschen Ausg. – Kant handelt dort von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes und zeigt, daß »Sein« überhaupt kein reales Prädikat ist, d.h. kein »Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könnte.« So enthält also das Wirkliche nichts mehr (in seinem Begriff) als das bloß Mögliche, und Wirklichkeit ist das Sein desselben Dinges als Gegenstand, von welchem ich bei der (rein logischen) Möglichkeit nur den Begriff habe. Zur Erläuterung dieses Verhältnisses braucht Kant folgendes Beispiel: »Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr, als hundert mögliche. Denn da diese den Begriff, jene aber den Gegenstand und dessen Position an sich selbst bedeuten, so würde, im Fall dieser mehr enthielte als jener, mein Begriff nicht den ganzen Gegenstand ausdrücken, und also auch nicht der angemessene Begriff von ihm sein. Aber in meinem Vermögenszustande ist mehr bei hundert wirklichen Talern, als bei dem bloßen Begriff derselben (d.h. ihrer Möglichkeit). Denn der Gegenstand ist bei der Wirklichkeit nicht bloß in meinem Begriffe analytisch enthalten, sondern kommt zu meinem Begriffe (der eine Bestimmung meines Zustandes ist) synthetisch hinzu, ohne daß, durch dieses Sein außerhalb meinem Begriffe, diese gedachten hundert Taler selbst im mindesten vermehrt werden.« Das im Text beigefügte Beispiel eines Tresorscheines sucht den Sachverhalt genauer zu veranschaulichen, indem neben der bloß logischen Möglichkeit (den gedachten hundert Talern) auch noch ein Wahrscheinlichkeitsgrund ins Spiel gezogen wird, der auf einer partiellen Einsicht in die Bedingungen beruht, welche auf die wirkliche Auszahlung von hundert Talern Einfluß haben. Diese Bedingungen (partiell anerkannt) sind das, was Ueberweg (im Anschluß an Trendelenburg; vgl. Ueberw. Logik, 3. Aufl., S. 167, § 69) »reale Möglichkeit« nennt. Der Schein eines problematischen Verhältnisses entsteht hier nur dadurch, daß wir die von uns gedachte Beziehung zwischen dem rein wirklichen Vorhandensein der Bedingungen und dem in einem späteren Zeitmomente ebenfalls wirklichen Sein des Bedingten in das Objekt versetzen.

105

Krug, Gesch. der preuß. Staatsschulden. Breslau 1861, S. 82.

106

Die vollständige Definition de anima II, lautet: psychê estin entelecheia hê prôtê sômatos physikou zôon echontos dynamei toioutou de ho ê organikon nach von Kirchmanns Übersetzung (phil. Bibl. Bd. 43): »Die Seele ist die erste vollendete Wirklichkeit eines dem Vermögen nach lebendigen Naturkörpers, und zwar eines solchen, der Organe hat.« Ebendas. im ganzen treffende Erläuterungen, wenn aber v. Kirchmann sagt (S. 58), diese Definition sei gar keine Definition der Seele im modernen Sinne, sondern nur eine Definition der organischen Kraft, welche dem Menschen mit Tier und Pflanze gemeinsam ist, so kann das nicht richtig sein, denn Aristoteles schickt die Erklärung voraus, er wolle einen allgemeinen Begriff der Seele geben, also einen solchen, der alle Arten von Seelen umfaßt. Das kann aber nicht heißen, wie Kirchmann es faßt: den Begriff einer Seelenart, welche allen beseelten Wesen gemein ist, neben welcher aber ein Teil derselben auch noch eine andere, in der Definition nicht begriffene Art von Seele haben könnte. Vielmehr muß die Definition die menschliche Gesamtseele samt ihren höheren Vermögen ebensogut umfassen als z.B. die Pflanzenseele, und dies ist auch in der Tat der Fall: denn nach aristotelischer Auffassung ist der menschliche Leib als Organismus für eine vernünftige Seele geschaffen, und diese bildet also auch die Verwirklichung desselben, indem sie die niederen Vermögen mit in sich schließt. Daß diese Auffassung mit einem Teil der modernen Systeme der Psychologie (sofern diese der Seele nur die Funktionen des Bewußtseins zuschreiben) nicht in Einklang zu bringen ist, berechtigt uns nicht, sie als eine bloß physiologische aufzufassen. Läßt doch Aristoteles – hierin besonnener als manche Neueren – auch beim Denken die Vernunft mit dem sinnlichen Phantasiebild zusammenwirken!

107

Fortlage, System der Psychol. 1855, I, S. 24 sagt: »Die negative Größe eines Immateriellen, von welchem die Sphäre des äußeren Sinnes beherrscht sei, wurde von Aristoteles durch den rätselhaften und vieldeutigen, darum tiefsinnig scheinenden Ausdruck der entelecheia fixiert und gleichsam aus nichts zu etwas gemacht.« Hieran ist das letztere unzweifelhaft richtig, daß Aristoteles mit der Annahme der Entelechie aus nichts den Schein eines Etwas gemacht habe. Dies trifft aber nicht nur den Seelenbegriff, sondern die gesamte Anwendung des Wortes entelecheia und weiterhin die gesamte aristotelische Lehre von Möglichkeit und Wirklichkeit. In den Dingen ist ein für allemal nichts als vollkommene Wirklichkeit. Jedes Ding an sich genommen ist Entelechie, und wenn man ein Ding und seine Entelechie nebeneinander stellt, so läuft dies auf eine reine Tautologie hinaus. Dies ist aber bei der Seele durchaus nicht anders als in allen andern Fällen. Des Menschen Seele ist nach Aristoteles der Mensch. Diese Tautologie gewinnt nur dadurch innerhalb des Systems eine weitergehende Bedeutung, daß 1) dem wirklichen und vollendeten Menschen das Scheinbild und Trugbild des Körpers als eines bloß möglichen Menschen gegenübergestellt wird (vgl. übrigens die folgende Anm.) und daß 2) das wirkliche und vollendete Wesen mit derselben Zweideutigkeit, welche uns im Begriff der ousia so auffallend entgegentritt, nachmals wieder mit dem essentiellen oder begrifflichen Teil des Wesens verwechselt wird. Aristoteles hat daher auch »die negative Größe eines Immateriellen« in seinem Seelenbegriff nicht weiter fixiert, als im Begriff der Form überhaupt. Erst die neuplatonische Auffassung des Übersinnlichen brachte die Mystik auch in den Begriff der Entelechie, in welchem sie dann allerdings trefflich wuchern konnte.

108

Vgl. de anima II, 1, S. 61 in der v. Kirchmannschen Übersetzung: »Auch ist nicht das, was seine Seele verloren hat, das dem Vermögen nach Lebendige, sondern das, was sie hat; dagegen ist der Same und die Frucht ein solcher Körper dem Vermögen nach«. Hier sucht Aristoteles dem sehr berechtigten Einwand auszuweichen, daß nach seinem System jeder Mensch aus einem fertigen toten Körper durch Hinzutritt der Entelechie entstehen müßte. Er kann nun allerdings mit Recht behaupten, daß der Leichnam sich dazu nicht mehr eigne, weil er nämlich auch kein vollkommener Organismus mehr ist (es fragt sich übrigens noch, ob Aristoteles so weit gedacht hat; vgl. die Anm. Kirchmanns zu der Stelle); aber dann läßt sich eben auch kein Fall mehr aufweisen, wo der »der Möglichkeit nach« lebende Körper vom wirklich lebenden unterschieden wäre, und deshalb flüchtet Aristoteles zu Samen und Frucht. Hier entsteht der Schein einer Berechtigung seines Gegensatzes, aber auch nur der Schein, denn Samen und Frucht sind auch schon belebt und haben eine zum Wesen des Menschen gehörige Form. Wollte man aber etwa mit Anwendung des im Text erklärten Relativismus von Form und Stoff sagen: der Embryo hat allerdings die Form (und also Entelechie) des Embryo, aber in Beziehung auf den fertigen Menschen ist er nur Möglichkeit und also Stoff, so klingt das bestechend, solange man nur die Extreme ins Auge faßt und den Akt der Verwirklichung mit schnellem Blick überschaut. Will man aber diese Betrachtungsweise festhalten und durch die einzelnen Stufen verfolgen, so zerrinnt das ganze Trugbild wieder in nichts, denn Aristoteles hat schwerlich sagen wollen, der Jüngling sei der Körper des Mannes, weil er die Möglichkeit desselben ist.

109

Allerdings wurde die Trennung der anima rationalis von den niederen Seelenvermögen von der Kirche bekämpft und sogar das Gegenteil auf dem Konzil zu Vienne (1311) zum Dogma erhoben; allein die bequemere und besser zu Aristoteles passende Anschauungsweise kehrte beständig wieder.

110

Den Widerspruch in der Lehre vom nous mit Beziehung auf die Unsterblichkeitslehre anerkennt auch Ueberweg, Grundriß I, 4. Aufl., S. 182. Vgl. übrigens oben Anm. 55 zum ersten Abschnitt.

111

Siehe Prantl, Gesch. d. Logik im Abendlande III, S. 184.

112

Vgl. darüber, außer Prantl, namentlich auch Barach, zur Gesch. des Nominalism. vor Roscelin, Wien 1866, wo ein sehr ausgebildeter Nominalismus in einem Manuskript des 10. Jahrh. nachgewiesen wird.

113

So an einzelnen Stellen Albertus Magnus; vgl. Prantl, III, S. 97 u. f.

114

Der Nachweis des Zusammenhanges zwischen der Verbreitung der byzantinischen Logik im Abendlande und dem Überhandnehmen des Nominalismus ist eines der wertvollsten Ergebnisse von Prantls Geschichte der Logik im Abendlande. Daß Prantl selbst die Richtung Occams gar nicht als »Nominalismus«, sondern als »Terminismus« (vom logischen »terminus«, dem Hauptwerkzeuge dieser Schule) bezeichnet, kann für uns, da wir den Gegenstand nur streifen, nicht maßgebend sein. Wir fassen daher den »Nominalismus« einstweilen noch in dem weiteren Sinne jener Gesamtopposition gegen den Platonismus, welche die Universalia nicht als Dinge gelten läßt. Für Occam sind sie freilich nicht »Namen«, sondern »termini«, welche die unter ihnen begriffenen Dinge repräsentieren. Der »terminus« ist Bestandteil eines im Geiste gebildeten Urteils; er hat nicht die mindeste Existenz außerhalb der Seele, aber er ist auch nicht rein willkürlich, wie das Wort, mit welchem er ausgedrückt werden kann, sondern er entsteht mit natürlicher Notwendigkeit im Verkehr des Geistes mit den Dingen. – Vgl. Prantl, III, S. 344 u. f., insbes. Anm. 782.

115

Prantl, III, S. 328. – Die Forderung der Denkfreiheit bezieht sich allerdings nur auf philosophische Sätze (vgl. die Bemerkungen im folgenden Kapitel über die zwiefache Wahrheit im Mittelalter); da aber die Theologie im Grunde nur ein Gebiet des Glaubens, nicht des Wissens bleibt, so hat die Forderung Geltung für das ganze Gebiet des wissenschaftlichen Denkens.

116

Dabei verkennt Occam den Wert der allgemeinen Sätze keineswegs. Er lehrt sogar, daß die Wissenschaft sich auf die Universalien beziehe, nicht direkt auf einzelne Dinge, aber sie bezieht sich nicht auf Universalien als solche, sondern lediglich auf Universalien als Ausdruck der unter ihnen begriffenen Individuen. – Prantl, III, 332 u. f., insbes. Anm. 750.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 167-188.
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