58. Schmiegsame Bekehrung[62] 1

Ist man beim Herrschen zurückhaltend und zögernd,

so ist das Volk ehrlich und einfach.

Will man beim Herrschen alles untersuchen und aufspüren,

so zeigt das Volk nur Mängel und Fehler.

Das Leid ist es, von dem das Glück abhängt.

Das Glück ist es, auf das das Leiden lauert.

Wer erkennt aber, daß es das Höchste ist,

wenn nicht geordnet wird?

Denn sonst verkehrt die Ordnung sich in Wunderlichkeiten,

und das Gute verkehrt sich in Aberglaube.

Und die Tage der Verblendung des Volkes dauern wahrlich lange.

Also auch der Berufene:

Er ist Vorbild, ohne zu beschneiden,

er ist gewissenhaft, ohne zu verletzen,

er ist echt, ohne Willkürlichkeiten,

er ist licht, ohne zu blenden.


Erklärung

1 Der Sinn der ersten vier Zeilen ist ohne weiteres klar.

Im Folgenden finden sich verschiedene Abweichungen im Text. Unserer Textauffassung nach ist die Meinung etwa: Was zunächst als Unglück erscheint (sc. die zögernde Handhabung der Regierung), stellt sich mit der Zeit als Glück heraus. Was zunächst als Vorzug erscheint (sc. eine energische und zufassende Regierung, die das Volk zu Ruhm und Ehren führt), bringt mit der Zeit Unglück. Darum ist es das Höchste nicht zu regieren; denn sonst wird das Gesetz mit der Zeit lästig: »Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage«. Und das Volk bleibt in beständiger Verblendung (vgl. Faust I).

Eine andere Textversion teilt nach Zeile 7 ab, nimmt also die Zeile noch zum Vorhergehenden und erklärt: »Wer erkennt es aber, daß Glück und Unglück auf ihrem Höhepunkt beständig ineinander übergehen?« Dann heißt es weiter: »Hat er (der Regent) nicht die rechte Art, so verkehrt sich die Ordnung und das Gute fortwährend in ihr Gegenteil, und das Volk kommt aus der Verblendung nicht heraus«.

Es ist wohl anzunehmen, daß im Text irgend etwas nicht in Ordnung ist, so daß man wohl den allgemeinen Sinn, aber nicht den feineren Gedankengang entziffern kann. Der Abschnitt gehört sachlich mit dem vorangehenden eng zusammen.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 62-63.