Neunundzwanzigstes Kapitel.
Ueber klare und dunkle, deutliche und verworrene Vorstellungen

[384] § 1. (Manche Vorstellungen sind klar und deutlich, andere dunkel und verworren.) Ich habe bisher den Ursprung unserer Vorstellung dargelegt und ihre verschiedenen Arten behandelt, auch den Unterschied der einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen und ihre Eintheilung in Eigenschaften, Substanzen und Beziehungen betrachtet. Es war dies nothwendig, wenn man sich gründlich über das Verfahren der Seele bei der Wahrnehmung und Erkenntniss der Dinge unterrichten will. Vielleicht habe ich lange genug bei dieser Prüfung der Vorstellungen verweilt; allein ich muss doch bitten, mir noch einige Bemerkungen darüber zu gestatten. Das Nächste ist, dass von den Vorgtellungen manche klar und andere dunkel, manche deutlich und andere verworren sind.

§ 2. (Die klaren und dunklen werden durch das Sehen erklärt.) Die Wahrnehmungen der Seele; lassen sich am besten durch die auf das Sehen bezüglichen Worte erläutern, und deshalb wird man verstehen, was unter klaren und dunklen Vorstellungen gemeint ist, wenn man das erwägt, was bei dem Sehen klar und dunkel heisst. Da das Licht uns die sichtbaren Gegenstände offenbart, so nennt man dunkel, was nicht so stark beleuchtet ist, dass man seine Gestalt und Farben erkennen kann, obgleich dies bei mehr Licht geschehen könnte. Ebenso sind unsere einfachen Vorstellungen, klar, wenn sie so beschaffen sind, wie ihre Gegenstände,[384] von denen sie entnommen sind, sie in einer gut geordneten Wahrnehmung darstellen würden. Behält das Gedächtniss sie so, und kann es dieselben, wenn man sie braucht, wieder vorführen, so sind sie klar; so weit ihnen aber etwas von ihrer frühem Genauigkeit abgeht oder sie ihre frühere Frische verloren haben und mit der Zeit blass und bleich geworden sind, so weit sind sie dunkel. Zusammengesetzte Vorstellungen, die aus einfachen gebildet worden, sind so weit klar, als diese ihre einfachen Vorstellungen klar sind und als die Menge und die Ordnung dieser, welche den Inhalt der zusammengesetzten bilden, bestimmt und gewiss ist.

§ 3. (Die Ursachen der Dunkelheit.) Die Ursachen der. Dunkelheit scheinen bei den einfachen Vorstellungen in der mangelhaften Empfindlichkeit der Organe oder in den leichten und vorbeigehenden Eindrücken der Gegenstände oder in einer Schwäche des Gedächtnisses zu liegen, welches die Vorstellungen nicht so behalten kann, wie es dieselben empfangen hat. Denn wenn, um wieder die sichtbaren Dinge zum Verständniss zu benutzen, die Sinneswerkzeuge, gleich dem durch die Kälte hart gewordenen Wachs von dem Siegel beim gewöhnlichen Druck nicht erregt werden, oder wenn zu weiches Wachs den guten Eindruck nicht festhalten kann, oder wenn das Wachs zwar gut, aber die genügende Kraft zu einem deutlichen Abdruck des Siegels fehlt, so wird der Abdruck in all diesen Fällen unklar sein, und die Anwendung hiervon ist wohl selbstverständlich.

§ 4. (Was deutliche und verworrene Vorstellungen sind.) Da die klare Vorstellung die ist, von welcher die Seele eine volle und sichere Auffassung hat, wie sie dieselben von einem äussern Gegenstande, der richtig auf ein gut beschaffenes Organ wirkt, empfingt, so ist die deutliche Vorstellung die, welche die Seele von allen andern unterscheiden kann, und die verworrene die, die von andern nicht genügend unterschieden werden kann.

§ 5. (Ein Einwurf.) Wenn dies der Fall ist, so könnte man vielleicht einwenden, dass eine verworrene Vorstellung sich werde schwer finden lassen; denn möge die Vorstellung sein, welche sie wolle, so könne sie doch nur die sein, welche die Seele so aufgefasst habe, und[385] diese Auffassung unterscheide sie hinreichend von allen andern, die nur andere, d.h. verschieden sein können, wenn sie so aufgefasst werden; deshalb könne es keine Vorstellung geben, die nicht von andern unterscheidbar wäre, von denen sie an sich verschieden ist, wenn man sie nicht auch zu einer von sich selbst verschiedenen mache; denn von jeder andern sei sie offenbar verschieden.

§ 6. (Die Verworrenheit der Vorstellungen bezieht sich auf deren Namen.) Um diese Schwierigkeit zu beseitigen und zu erkennen, was die Verworrenheit, mit der manche Vorstellungen belastet sind, veranlasst, bedenke man, dass die unter verschiedenen Namen geordneten Dinge für genügend verschieden gelten, um auch unterschieden werden zu können; deshalb wird jede Art mit ihren besondern Namen bezeichnet und gelegentlich als eine besondere behandelt, und nichts scheint zuverlässiger, als dass die verschiedenen Namen in der Regel auch verschiedene Dinge bezeichnen. Da nun jede Vorstellung, die man hat, sich als das zeigt, was sie ist, und sich von allen andern unterscheidet, so macht sie nur der Umstand verworren, dass sie auch noch mit einem andern Worte als den gebrauchten benannt werden kann. Der Unterschied, welcher die Dinge sondert (am so unter verschiedenen Worten gestellt zu werden) und macht, dass diese zu diesen Namen und jene zu jenen Namen gehören, wird dann übersehen und so der Unterschied verloren, der durch diesen Namen aufrecht erhalten werden sollte.

§ 7. (Die Fehler, welche diese Verwirrung veranlassen.) Die Fehler, welche diese Verwirrung zu veranlassen pflegen, dürften hauptsächlich folgende sein:

(Erstens, wenn zusammengesetzte Vorstellungen aus zu wenig einfachen gebildet werden.) Erstens, wenn zusammengesetzte Vorstellungen (denn diese sind am meisten der Verworrenheit ausgesetzt) aus einer zu geringen Zahl einfacher Vorstellungen und aus solchen gebildet werden, die auch andern Dingen gemein sind, und wenn dabei die Unterschiede, die ihre verschiedene Benennung veranlasst haben, übersehen werden. Wer z.B. eine Vorstellung hat, die blos aus den einfachen Vorstellungen eines gefleckten Thieres gebildet ist, dessen Vorstellung vom Leoparden ist verworren, da sie sich nicht[386] genügend von der des Luchses und mehrerer andern gefleckten Thiere unterscheidet. Wenngleich also solche Vorstellung mit dem besondern Namen Leopard benannt wird, so kann sie doch von denen mit Luchs und Panther bezeichneten nicht unterschieden werden, und sie kann selbst mit Luchs oder Panther bezeichnet werden. Wie sehr die Gewohnheit, Worte durch allgemeine Ausdrücke zu definiren, die damit bezeichneten Vorstellungen verworren und unbestimmt macht, überlasse ich Andern zur Erwägung. So viel ist klar, dass verworrene Vorstellungen den Gebrauch der Worte unsicher machen und den Sätzen bestimmter Bezeichnungen aufheben. Wenn die Vorstellungen mit verschiedenen Namen sich nicht diesen verschiedenen Namen entsprechend unterscheiden und daher von einander nicht unterschieden werden können, so kommt es davon, dass sie in Wahrheit verworren sind.

§ 8. (Zweitens sind die einfachen unordentlich zusammengeworfen.) Ein zweiter Fehler, der die Vorstellungen verwirrt, ist der, dass zwar die Zahl der Einzel-Vorstellungen genügend ist, aber sie so durcheinander gemengt sind, dass man nicht leicht unterscheiden kann, ob die Vorstellung zu diesem oder jenem Worte gehört. Nichts macht diese Verwirrung begreiflicher als jene Art Gemälde, die meist als wunderbare Werke der Kunst gezeigt werden; die Farben bilden darin, so wie sie durch den Pinsel auf die Tafel gebracht worden, sonderbare und ungewohnte Gestalten, und in ihrer Lage zeigt sich keine erkennbare Ordnung. Solch Bild mit seinen verschiedenen Theilen ohne Symmetrie und Ordnung ist an sich nicht verworrener als das Gemälde eines wolkigen Himmels, welches Niemand für ein verworrenes Gemälde hält, wenn man auch in seinen Gestalten und Farben wenig Ordnung bemerkt. Was macht nun Jenes Bild verworren, wenn es der Mangel an Symmetrie nicht thut? Denn dass dieser es nicht thut, erhellt daraus, dass ein anderes Bild, was jenes nur copirte, nicht verworren genannt werden könnte. Also liegt die Ursache der Verwirrung In der Verknüpfung mit einem Namen, dem es nicht mehr angehört wie einem andern. Sagte man also z.B., es sei das Bild eines Menschen oder Cäsars, dann wird es Jeder für verworren halten,[387] weil es in seinem Zustande ebenso gut den Namen Pavian oder Pompejus führen kann, wie den eines Menschen oder von Cäsar, obgleich die Vorstellungen jener sich doch von denen des Menschen und Cäsar's unterscheiden. Hat aber ein hohlgeschliffener Spiegel bei richtiger Stellung diese unregelmässigen Linien auf der Leinwand in die gehörigen Ordnungen und Verhältnisse gebracht, so hört die Verworrenheit auf, und man sieht sofort, dass es ein Mensch oder Cäsar ist, d.h. dass es unter diesen Namen gehört und dass es sich genügend von einem Pavian oder Pompejus unterscheidet, d.h. von den durch diese Worte bezeichneten Vorstellungen. Gerade so verhält es sich mit unsern Vorstellungen, die gleichsam Bilder der Dinge sind. Keines dieser geistigen Bilder kann, wie auch die Theile zusammengestellt sein mögen, verworren genannt werden (denn sie sind als solche völlig unterscheidbar); erst wenn es unter einen Kamen gebracht wird, und man nicht erkennen kann, ob es diesem mehr als einem andern von anderer Bedeutung zugehöre, wird es verworren.

§ 9. (Drittens, wenn die Vorstellungen veränderlich und unbestimmt sind.) Ein dritter, die Verwirrung veranlassender Fehler ist es, wenn der Name unsicher und unbestimmt ist. Es giebt Menschen, welche nicht warten, bis sie die Bedeutung der gewöhnlichen Worte ihrer Sprache gelernt haben und die Vorstellung, die sie mit einem Worte verbinden, beinah so oft wechseln, als sie sich des Wortes bedienen. Wer dies thut, weil er nicht sicher ist, was er z.B. bei seiner Vorstellung von Kirche und Götzendienst weglassen oder zusetzen soll, wenn er an eines von beiden denkt, und wer nicht an eine bestimmte Verbindung einfacher Vorstellungen dabei festhält, hat eine verworrene Vorstellung von Kirche und Götzendienst, und zwar aus demselben Grunde wie oben, nämlich weil eine veränderliche Vorstellung (wenn dies von einer Vorstellung angenommen werden darf) so gut mit dem einen Namen wie mit dem andern belegt werden kann; damit verliert sie den Unterschied, der durch die einzelnen Worte ausgedrückt werden soll.

§ 10. (Eine verworrene Vorstellung ohne Rücksicht auf ihre Namen ist schwer aufzufinden.) Hieraus kann man abnehmen, wie die Worte[388] als angenommene feste Zeichen der Dinge, und wie deren Unterschiede, um die Unterschiede der Dinge auszudrücken, der Anlass werden, Vorstellungen deutlich oder verworren zu nennen, indem die Seele im Stillen und Unbemerkt ihre Vorstellungen auf solche Worte bezieht. Man wird dies noch mehr verstehen, wenn man das gelesen und erwogen haben wird, was ich in dem dritten Bache aber die Worte sage. Ohne Beachtung dieser Beziehung der Vorstellungen auf bestimmte Worte, als den Zeichen bestimmter Dinge, dürfte es schwer sein, zu sagen, was eine verworrene Vorstellung ist. Wird deshalb durch ein. Wort eine Art von Dingen oder ein einzelnes Ding zum Unterschied von andern bezeichnet, so ist die zusammengesetzte Vorstellung, die man an dieses Wort knüpft, um so bestimmter, je mehr besondert die Vorstellungen sind, und je grosser und bestimmter die Zahl und Ordnung derselben ist, aus denen jene gebildet worden ist Je mehr die zusammengesetzte Vorstellung aus solchen gebildet ist, desto mehr hat sie erkennbare Unterschiede, durch die sie von allen zu andern Worten gehörenden Vorstellungen getrennt gehalten werden kann, und selbst von denen, welchen sie am nächsten steht. Dadurch ist jede Verwirrung mit denselben vermieden.

§ 11. (Die Verworrenheit betrifft immer zwei Vorstellungen.) Die Verworrenheit, welche die Unterscheidung zweier Dinge erschwert, betrifft immer zwei Vorstellungen, und am meisten die, welche einander am nächsten stehen. Hat man daher Verdacht, dass eine Vorstellung verworren sei, so muss man untersuchen, welche andere mit ihr verwechselt werden kann, oder von welcher sie nicht leicht zu unterscheiden ist, und man wird dann immer finden, dass letztere einem andern Worte zugehört und deshalb ein besonderes Ding betrifft, von dem sie noch nicht gehörig gesondert ist, indem sie entweder mit jener ein und dasselbe ist oder einen Theil jener ausmacht oder wenigstens ebenso gut mit dem Worte benannt werden kann, unter das jene gestellt ist und deshalb nicht den Unterschied von der andern Vorstellung innehält, welchen die verschiedenen Worte anzeigen.

§ 12. (Die Ursachen der Verworrenheit.) Dies ist die den Vorstellungen eigene Verworrenheit, welche[389] immer eine geheime Beziehung auf Worte mit sich führt. Wenigstens bringt diese Verworrenheit die Gedanken und Reden der Menschen am meisten in Unordnung, weil die mit Worten bezeichneten Vorstellungen diejenigen sind, womit man am meisten im Denken sich beschäftigt, und immer die, mittelst welcher man Andern sich mittheilt. Sobald daher zwei als verschieden angenommene Vorstellungen mit zwei verschiedenen Worten bezeichnet werden, diese Vorstellungen aber nicht so leicht, wie die Laute, unterscheidbar sind, so ist immer eine Verworrenheit vorhanden; wo aber die Vorstellungen, die durch diese zwei verschiedenen Laute bezeichnet werden, wirklich verschieden sind, da kann zwischen ihnen keine Verwirrung entstehen. Das Mittel, diese zu verhindern, ist, so bestimmt als möglich in eine zusammengesetzte Vorstellung alle ihre Bestandtheile zu sammeln und zu verbinden, wodurch sie ihren unterschied von andern erhält, und diesen so in bestimmter Zahl und Ordnung verbundenen Vorstellungen immer denselben Namen zu geben. Da dies indess weder der Bequemlichkeit noch der Eitelkeit der Menschen, sondern nur der nackten Wahrheit dient, die man nicht immer erstrebt, so bleibt solche Sorgfalt mehr zu wünschen als zu hoffen. Die lockere Verbindung der Worte mit unbestimmten, veränderlichen oder beinah gar keinen Vorstellungen hilft sowohl der eigenen Unwissenheit, als sie Andere verlegen und verwirrt macht. Da dies für Gelehrsamkeit und Ueberlegenheit im Wissen gilt, so ist es kein Wunder, dass alle Welt diese Mittel für sich selbst benutzt und es bei Andern beklagt. Obgleich durch Sorgfalt und Unbefangenheit ein grosser Theil der verworrenen Begriffe vermieden werden kann, so dürfte doch schwerlich immer der Wille dazu vorhanden sein. Manche Vorstellungen sind so zusammengesetzt und bestehen aus so vielen Theilen, dass dieselbe genaue Verbindung ihrer einfachen Vorstellungen unter einem Namen nicht immer im Gedächtniss festgehalten wird, und noch weniger kann man errathen, für welche bestimmte zusammengesetzte Vorstellung dies Wort von einem Andern gebraucht zu werden pflegt. Der erste Grund führt zur Verwirrung in dem eigenen Denken und Meinen, der andere zu häufigen Verwirrungen im Sprechen und Streiten mit Andern. Da ich über die Worte, ihre[390] Mängel und ihren Missbrauch in dem folgenden Buche ausführlicher handle, so breche ich hier ab.

§ 13. (Zusammengesetzte Vorstellungen können zum Theil klar, zum Theil verworren sein.) Da die zusammengesetzten Vorstellungen aus einer Anzahl verschiedener einfacher bestehen, so können sie zum Theil sehr klar und deutlich und zum Theil verworren und dunkel sein. Wenn Jemand von einem Chiliedron oder Tausendeck spricht, so kann seine Vorstellung von dessen Figur sehr verworren sein, obgleich die der Zahl sehr klar ist, und weil er über diesen Theil seiner zusammengesetzten Vorstellung, welcher von der Zahl 1000 abhängt, sprechen und streiten kann, meint er vielleicht eine klare Vorstellung von dem Tausendeck zu besitzen, obgleich er keine bestimmte Vorstellung von dessen Gestalt hat und es deshalb nicht von einer Figur unterscheiden kann, die nur 999 Ecken hat; die Nichtbeachtung dessen veranlasst viele Irrthümer im Denken und viel Verwirrung im Gespräch.

§ 14. (Wird dies nicht beachtet, so entsteht Verwirrung in den Beweisen.) Wer meint, er habe eine deutliche Vorstellung von der Gestalt eines Tausendecks mag zur Probe ein anderes Stück desselben Stoffes und gleicher Grösse, z.B. von Wachs oder Gold nehmen und daraus eine Gestalt von 999 Ecken machen; er wird unzweifelhaft diese beiden Vorstellungen von einander durch die Zahl der Ecken unterscheiden können und hierüber deutlich sprechen und Sätze aufstellen können, wenn er sich dabei blos auf den Theil dieser Vorstellungen beschränkt, der sich auf die Zahl bezieht; er wird z.B. darlegen können, dass die Ecken der einen Gestalt in zwei gleiche Hälften getheilt werden können, die der andern aber nicht; will er sie aber nach ihrer Gestalt unterscheiden, so wird er sofort stecken bleiben und in seiner Seele schwerlich zwei so bestimmt unterschiedene Gestalten bilden können, wie wenn das eine Goldstück zu einem Würfel und das andere zu einem Fünfeck geformt worden wäre. Mit solchen mangelhaften Vorstellungen kann man leicht sich selbst täuschen oder mit Andern darüber in Streit gerathen; namentlich wenn sie besondere und bekannte Namen haben. Denn man begnügt sich dabei mit dem klaren Theile, während der bekannte Name auf die[391] ganze Vorstellung angewendet wird, die auch den unvollständigen und dunkeln Theil befasst, und neigt so dazu, den Namen auch für diesen verworrenen Theil zu gebrauchen und Ausführungen darauf eben so sicher zu stutzen, wie es für den deutlichen Theil geschieht.

§ 15. (Ein Beispiel von der Ewigkeit.) So gebraucht man oft das Wort: Ewigkeit, und meint eine bejahende umfassende Vorstellung davon zu haben, d.h. dass jeder Theil einer solchen Dauer klar in dieser Vorstellung enthalten sei. Vielleicht hat man nun dabei wohl die klare Vorstellung der Dauer, und vielleicht auch die von einer grossen Länge der Dauer und von der Vergleichung dieser mit einer noch grösseren; allein man vermag nicht in seiner Vorstellung der Dauer, sei sie auch noch so gross, die ganze Ausdehnung einer endlosen Dauer einzuschliessen, und deshalb ist dieser Theil seiner Vorstellung, welcher über die Grenzen der langen Dauer noch hinaus geht, dunkel und unbestimmt. Daher geräth man bei Streitigkeiten oder Ausführungen über die Ewigkeit oder ein anderes Unendliche leicht in Irrthümer und offenbaren Widersinn.

§ 16. (Die Theilbarkeit des Stoffes.) Bei dem Stoff hat man keine klare Vorstellung von der Kleinheit der, Theile, die noch viel kleiner als die kleinsten erkennbaren sind; deshalb kann man bei dem Reden über die unendliche Theilbarkeit des Stoffes klare Vorstellungen von Theilung und Theilbarkeit und auch von den aus dem Ganzen erlangten Theilen haben; allein man hat nur eine dunkele und verworrene Vorstellung von den Körperchen dieser Theilung, wenn sie dadurch so klein werden, dass sie nicht mehr wahrnehmbar sind. So ist nur die Theilung überhaupt oder in ihrer Trennung und die Beziehung zwischen Ganzem und Theil klar und deutlich; aber von der Masse eines aus solcher ins Unendliche fortgesetzten Theilung gewonnenen Körperchens dürfte man keine klare und deutliche Vorstellung haben. Denn man nehme das kleinste Staubtheilchen, was man je gesehen hat und frage sich, ob man eine deutliche Vorstellung von dem 100,000sten und den 1,000,000sten. Theile eines solchen habe (abgesehen von der Zahl an sich, die mit der Ausdehnung nichts zu thun hat), und wenn man meint, dass man die Vorstellung in dieser Weise[392] verfeinern könne, ohne sie aus dem Gesicht zu verlieren, so möge man noch zehn Ziffern zu jeder dieser Zahlen hinzusetzen. Eine solche Kleinheit anzunehmen, ist nicht unvernünftig, denn auch diese Theilung bringt sie dem Ende der unendlichen Theilung nicht näher als die erste in zwei Hälften, ich gestehe, dass ich von der verschiedenen Grösse oder Ausdehnung solcher kleinen Körperchen keine klare Vorstellung, habe, vielmehr ist sie von beiden Körperchen nur dunkel. Wenn man daher von der endlosen Theilung der Körper spricht, so geräth die Vorstellung der Grösse der Körpertheilchen, welche die Unterlage der Theilung bildet, bei fortgehender Theilung bald in Verwirrung und verliert sich beinah in der Dunkelheit, da die Vorstellung, welche nur den Umfang bieten darf, sehr verworren und dunkel sein muss, wenn man sie von der zehnmal grösseren nur durch die Zahl unterscheiden kann; man hat deshalb wohl klare Vorstellungen von der 10 und der 1, aber nicht von zwei solchen Ausdehnungen. Deshalb gelten bei dem Gespräch über die unendliche Theilbarkeit der Körper oder der Ausdehnung die klaren und deutlichen Vorstellungen nur den Zahlen; aber die klaren und deutlichen Vorstellungen der Ausdehnung gehen mit Fortgang der Theilung bald ganz verloren, und man hat von solchen kleinen Theilchen überhaupt keine bestimmte Vorstellung mehr; sie beschränkt sich, wie alle unsere Vorstellungen des Unendlichen zuletzt nur auf das stete Zusetzen von Zahlen, ohne die bestimmte Vorstellung wirklich er unendlicher Theilchen zu erreichen. Man hat zwar eine klare Vorstellung von der Theilung; aber damit hat man so wenig eine klare Vorstellung von dem unendlich-kleinen Theile als von der unendlichen Zahl, obgleich man jede bestimmte Zahl vergrössern kann; deshalb enthält die endlose Theilbarkeit so wenig eine bestimmte Vorstellung von wirklich unendlich-kleinen Theilen, wie die endlose Vermehrbarkeit (wenn ich mich so ausdrücken darf) eine klare und deutliche Vorstellung von einer wirklichen unendlich-grossen Zahl giebt; bei beiden denkt man nur an die Macht, die Zahl, sei sie auch noch so gross, immer noch vermehren zu können. Deshalb hat man von dem noch Uebrigen, was hinzugehört (und worin die Unendlichkeit besteht) nur eine verworrene und dunkle Vorstellung,[393] und deshalb kann man nicht bestimmt und klar darüber sprechen und Ausführungen machen, wie man dies auch in der Arithmetik nicht für Zahlen kann, deren Vorstellungen nicht so klar und deutlich sind, wie die von 4 oder 100, sondern von denen man sich nur dunkel vorstellt, dass sie grösser sind als jede, mit der man sie vergleicht. Man hat ebensowenig eine klare Vorstellung von ihnen, wenn man sie grösser oder, als mehr wie 400,000,000 vorstellt, als wenn man sagt, sie ist grösser als 40 oder 4; denn 400,000,000 stehen verhältnissmässig dem Ende des Vermehrens oder Zusetzens nicht näher als 4; da Der, welcher nur 4 zu 4 setzt und so fortfährt, ebenso so schnell zu dem Ende des Vermehrens gelangt wie Der, welcher 400 Millionen zu 400 Millionen zusetzt. Dasselbe gilt für die Ewigkeit; wer die Vorstellung von 4 Jahren hat, dessen Vorstellung von der Ewigkeit ist ebenso viel beziehend als Der, welcher die Vorstellung von 400 Millionen Jahren hat; denn das bei ihnen an der Ewigkeit noch Fehlende ist bei dem Einen so klar wie bei dem Andern, d.h. Keiner von Beiden hat überhaupt eine bejahende Vorstellung von der Unendlichkeit. Der, welcher immer fort 4 Jahr zu 4 Jahren setzt, wird die Ewigkeit so schnell erreichen wie Der, welcher 400 Millionen Jahre an einander setzt; denn wenn auch der Zuwachs noch so gross vorgestellt wird, so bleibt doch der Rest immer noch so weit diesseit des Endes solcher Vermehrung, wie er es bei der Länge eines Tages oder einer Stunde ist. Kein Endliches hat ein Verhältniss zu dem unendlichen, und deshalb haben es auch unsere Vorstellungen nicht, die sämmtlich endlich sind. So verhält es sich also mit der Vorstellung der Ausdehnung sowohl bei ihrer Vermehrung durch Hinzusetzen wie bei ihrer Verminderung durch Theilen, wenn man damit die Unendlichkeit erreichen will, Nach wenigen Verdoppelungen solcher Ausdehnung, welche die grösste uns bekannte ergiebt, verlieren wir die klare Vorstellung ihrer Grösse; sie wird verworrengross mit dem Zusatz von immer Mehr. Will man nun darüber streiten und Beweise führen, so geräth man allemal in Verlegenheit; da Ableitungen und Beweise von verworrenen Stücken unserer Vorstellungen immer wieder zur Verwirrung führen müssen.[394]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 384-395.
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