Achtzehntes Capitel.

Von der Berechnung des Zufalls (Wahrscheinlichkeitsrechnung).

[66] §. 1. »Wahrscheinlichkeit,« sagt Laplace,129 »bezieht sich theils auf unsere Unwissenheit, theils auf unser Wissen. Wir wissen, dass unter drei oder mehr Ereignissen eines und nur eines stattfinden muss, aber nichts veranlasst uns zu glauben, dass das eine eher als die anderen stattfinden wird. In diesem Zustande von Unentschiedenheit ist es uns unmöglich, über ihr Eintreffen einen sichern Ausspruch zu thun. Es ist indessen wahrscheinlich, dass bei beliebiger Wahl ein jedes von diesen Ereignissen nicht stattfinden wird, da wir mehrere Fälle als gleich möglich wahrnehmen, welche sein Eintreffen ausschliessen, und nur einen, der es begünstigt.«

»Die Wahrscheinlichkeitslehre besteht in der Zurückführung aller Ereignisse von derselben Art auf eine bestimmte Anzahl gleich möglicher Fälle in der Weise, dass wir in Beziehung auf deren Existenz gleich unentschieden sind; und in der Bestimmung der Anzahl derjenigen Fälle, welche dem Ereigniss, dessen Wahrscheinlichkeit gesucht wird, günstig sind. Das Verhältniss dieser Zahl zu der Anzahl aller möglichen Fälle ist das Maass der Wahrscheinlichkeit; sie ist also ein Bruch, dessen Zähler aus der Anzahl der dem Ereigniss günstigen Fälle, und dessen Nenner aus der Anzahl aller möglichen Fälle besteht.«

Für eine Berechnung der Wahrscheinlichkeit sind also nach Laplace zwei Dinge erforderlich; wir müssen wissen, dass von verschiedenen Ereignissen eines und nicht mehr als eines gewiss eintreffen wird, und wir dürfen nicht wissen, oder keinen Grund[66] haben zu erwarten, dass das eine eher eintreffen wird, als das andere. Es ist behauptet worden, dies seien nicht die alleinigen Erfordernisse und Laplace habe in seiner allgemeinen theoretischen Darlegung einen nothwendigen Theil der Grundlage der Wahrscheinlichkeitslehre übersehen. Um zwei Ereignisse gleich wahrscheinlich nennen zu können, ist es nicht genug, dass wir wissen, dass das eine oder das andere eintreffen muss, und dass wir keinen Grund haben zu vermuthen, welches, die Erfahrung muss auch gezeigt haben, dass die zwei Ereignisse gleich häufig eintreffen. Warum glauben wir, wenn wir einen Groschen in die Höhe werfen, es werde mit gleicher Wahrscheinlichkeit Kopf oder Wappen fallen? Weil die Erfahrung gezeigt hat, dass in einer grossen Anzahl von Würfen Kopf und Wappen gleich oft fallen, und dass, je mehr es Würfe sind, desto vollkommener die Gleichheit ist. Wir können dies nach unserm Belieben durch das directe Experiment erkennen, oder durch die tägliche Erfahrung, welche das Leben in Beziehung auf Ereignisse von demselben allgemeinen Charakter darbietet, oder auch deductiv aus der Wirkung mechanischer Gesetze auf symmetrische Körper, auf welche Kräfte wirken, die in Quantität und Richtung unbestimmt variiren. Kurz, wir können es entweder durch specifische Erfahrung, oder durch das Zeugniss unserer allgemeinen Kenntniss von der Natur wissen. Aber auf die eine oder die andere Weise müssen wir es wissen, wenn wir uns darüber rechtfertigen wollen, dass wir die beiden Ereignisse gleich wahrscheinlich nennen; und wenn wir es nicht wüssten, so würden wir gerade so gut dem Zufall nach verfahren, wenn wir gleiche, als wenn wir ungleiche Summen auf das Resultat wetteten.

Diese Ansicht von dem Gegenstand wurde in der ersten Auflage dieses Werks aufgestellt; ich habe mich aber seitdem überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeitslehre, wie sie von Laplace und im allgemeinen von den Mathematikern aufgestellt worden ist, nicht an dem fundamentalen Irrthum leidet, den ich ihr zugeschrieben habe.

Wir müssen uns erinnern, dass die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nicht eine Eigenschaft des Ereignisses selbst, sondern ein blosser Name für die Stärke des Grundes ist, wonach wir oder andere das selbe erwarten. Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ist für[67] den einen etwas ganz anderes als für den andern, oder auch für ein und denselben, nachdem er mehr Aufklärung darüber erlangt hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum, von dem ich nichts weiss als den Namen, dieses Jahr sterben wird, wird für mich eine ganz andere, wenn man mir in der nächsten Minute sagt, dass es in dem letzten Stadium der Schwindsucht steht. Aber dies ändert weder das Ereigniss noch eine der Ursachen, von denen es abhängig ist. Ein jedes Ereigniss ist an und für sich gewiss, nicht wahrscheinlich; wenn wir alles wüssten, so würden wir entweder positiv wissen, dass es eintreffen wird, oder dass es nicht eintreffen wird; aber seine Wahrscheinlichkeit bedeutet für uns den Grad von Erwartung seines Eintreffens, den wir unserem gegenwärtigen Wissen nach hegen dürfen.

Wenn wir uns hieran erinnern, so glaube ich, müssen wir zugestehen, dass auch dann, wenn wir, um unsere Erwartungen darnach zu richten, keine Kenntniss haben, als die Kenntniss, dass das, was stattfindet, eine von einer gewissen Anzahl von Möglichkeiten sein muss, wir immer noch vernünftigerweise urtheilen dürfen, dass eine Annahme für uns wahrscheinlicher ist, als die andere, und dass, wenn es sich um unser Interesse handelt, wir es am besten wahren werden, wenn wir in Uebereinstimmnng mit diesem Urtheil handeln.

§. 2. Nehmen wir an, wir sollten eine Kugel aus einer Urne ziehen, von der wir wissen, dass sie nur schwarze und weisse Kugeln enthält. Wir wissen, die gewählte Kugel wird entweder eine schwarze oder eine weisse sein; aber wir haben keinen Grund, eine schwarze eher als eine weisse zu erwarten, oder umgekehrt. Wenn wir in diesem Fall auf unsere Wahl eine Wette machen müssen, so wird es, als eine Frage der Klugheit betrachtet, vollkommen gleichgültig sein, auf welche Annahme wir wetten, und wir werden gerade so handeln, als ob wir vorher gewusst hätten, dass die Urne eine gleiche Anzahl von schwarzen und weissen Kugeln enthält. Aber obgleich unsere Handlungsweise dieselbe sein würde, so wäre sie doch nicht auf eine Vermuthung gegründet, dass die Kugeln in solcher Weise gleich vertheilt sind, denn wir könnten im Gegentheil aus authentischer Quelle wissen, dass die Urne neunundneunzig Kugeln von der einen und nur eine einzige[68] Kugel von der anderen Farbe enthält; immer aber wird das Ziehen einer schwarzen oder einer weissen Kugel für uns gleich wahrscheinlich sein, wenn man uns nicht sagt, von welcher Farbe die eine Kugel und von welcher Farbe die neunundneunzig Kugeln sind, wir werden keinen Grund haben, auf das eine Ereigniss eher zu wetten als auf das andere; die Wahl zwischen beiden ist gleichgültig, ist, mit anderen Worten, eine gleiche Wahrscheinlichkeit.

Nehmen wir nun aber an, anstatt zwei wären es drei Farben – weiss, schwarz und roth; und nehmen wir ferner an, wir wären in Betreff des Verhältnisses, in dem sie gemengt sind, ganz unwissend. Wir würden alsdann keinen Grund haben, die eine eher zu erwarten, als die andere, und wenn wir wetten müssten, so würden wir uns gleichgültig verhalten und keiner von den drei Farben einen Vorzug geben. Aber würden wir auch ebenso gleichgültig für oder gegen die eine Farbe, z.B. weiss, wetten? Gewiss nicht; denn gerade der Thatsache wegen, dass schwarz und roth einzeln für uns gleich wahrscheinlich sind wie weiss, müssen sie zusammen doppelt so wahrscheinlich sein. Wir würden in diesem Falle nicht – weiss eher erwarten als weiss, und zwar soviel eher, dass wir zwei gegen eins dafür wetten dürfen. Es ist wahr, es könnte auch sein, dass mehr weisse Kugeln als schwarze und rothe zusammengenommen vorhanden wären, und in diesem Falle würde sich unsere Wette als unvortheilhaft herausstellen; aber es könnten auch mehr rothe Kugeln als schwarze und weisse, oder mehr schwarze als rothe und weisse vorhanden sein, und in diesem Falle würde sich unsere Wette bei weiterer Einsicht in die Sache als vortheilhafter herausstellen als wir dachten. Bei dem vorhandenen Zustand unseres Wissens ist eine rationelle Wahrscheinlichkeit von zwei zu eins gegen weiss, eine Wahrscheinlichkeit, die unserer Handlungsweise zu Grunde gelegt werden kann. Kein Vernünftiger würde zu Gunsten von weiss gegen schwarz und roth eine gleiche Wette eingehen, obgleich er dies gegen schwarz allein oder roth allein thun dürfte.

Es erscheint daher die gewöhnliche Wahrscheinlichkeitsrechnung als haltbar. Sogar wenn wir nichts wissen als die Zahl der möglichen und sich gegenseitig ausschliessenden Ereignisse, und in Beziehung auf ihre relative Häufigkeit ganz unwissend sind, können wir Gründe haben, und zwar numerisch schätzbare Gründe,[69] um auf die eine Annahme hin eher zu handeln als auf die andere, und dies ist die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit.

§. 3. Das Princip, wonach der Schluss verfährt, ist indessen hinreichend klar. Es ist das einleuchtende Princip, dass bei einer Vertheilung der existirenden Fälle unter verschiedene Arten eine jede dieser Arten unmöglich eine Mehrheit des Ganzen ausmachen kann, es muss im Gegentheil eine Mehrheit gegen jede Art mit Ausnahme höchstens einer vorhanden sein, und wenn irgend eine Art im Verhältniss zur Gesammtzahl mehr als ihren Antheil hat, so müssen die anderen zusammengenommen weniger haben. Wenn wir dieses Axiom zugeben und annehmen, dass wir keinen Grund haben, es von irgend einer Art für wahrscheinlicher zu halten, als von den übrigen, dass sie das Durchschnittsverhältniss übersteigt, so folgt, dass wir dies rationell von keiner vermuthen können; was wir thun würden, wenn wir zu Gunsten derselben wetten würden, indem ihr weniger Wahrscheinlichkeit zukommt, als im Verhältniss zur Anzahl der anderen Arten. Sogar in diesem extremen, gar nicht auf specieller Erfahrung beruhenden Fall von der Berechnung der Wahrscheinlichkeiten liegt der logische Grund des Verfahrens in unserer derzeitigen Kenntniss der Gesetze, welche die Häufigkeit des Eintretens der verschiedenen Fälle beherrschen; aber in diesem Fall ist die Kenntniss auf diejenige beschränkt, die; da sie universal und axiomatisch ist, nicht auf specifische Erfahrung oder auf irgend aus der speciellen Natur des erörterten Problems fliessenden Betrachtungen Bezug zu nehmen braucht.

Mit Ausnahme von Fällen wie Hasardspiele, wo der beabsichtigte Zweck Unwissenheit anstatt Wissen verlangt, kann ich mir indessen keinen Fall denken, in welchem wir mit einer Berechnung von Wahrscheinlichkeit wie diese zufrieden sein dürften mit einer Berechnung, die auf das absolute Minimum von Wissen bezüglich des Gegenstandes gegründet ist. Im Fall der farbigen Kugeln ist es klar, dass ein sehr leichter Grund zur Vermuthung, es wären wirklich mehr weisse Kugeln vorhanden, als von den zwei anderen Farben, hinreichen würde, um das Ganze der in unserem früheren Zustand von Gleichgültigkeit gemachten Berechnungen fehlerhaft zu machen. Es würde uns dies in jene Lage von vorgerücktem Wissen bringen, in der die Wahrscheinlichkeiten[70] für uns anders sein würden, als sie vorher waren, und bei der Berechnung dieser neuen Wahrscheinlichkeiten würden wir von einer ganz anderen Reihe von Daten auszugeben haben, denn dieselben würden jetzt nicht mehr durch blosses Zählen möglicher Voraussetzungen, sondern durch specifische Kenntniss von Thatsachen geliefert. Solche Data sollten wir uns immer bemühen zu erhalten, und bei allen Untersuchungen, wenn sie nicht Gegenstände betreffen, die sowohl ausserhalb des Bereichs unserer Mittel der Erkenntniss als auch unserer praktischen Zwecke liegen, können sie erhalten werden, und wenn sie auch nicht gut erhalten werden, so doch wenigstens besser als gar keine.130

Es ist einleuchtend, dass auch dann noch, wenn die Wahrscheinlichkeiten von der Betrachtung und dem Experiment herrühren, eine sehr unbedeutende Veränderung in den Daten, sei es durch bessere Beobachtungen, sei es dadurch, dass man die speciellen Umstände des Falles besser in Betracht zieht, natürlicher ist, als die durchdachteste Anwendung des Calcüls auf Wahrscheinlichkeiten, die auf frühere unvollkommenere Data gegründet sind. Dass man dies zu erwägen vernachlässigte, hat zu einer Missanwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung geführt, welche sie zu dem wahren Opprobrium der Mathematik gemacht haben. Es genügt, ihre[71] Anwendung auf die Glaubwürdigkeit von Zeugen und auf die Richtigkeit der Aussprache von Geschwornengerichten anzuführen. In Beziehung auf die erste Anwendung sagt uns der gemeine Menschenverstand, dass es unmöglich ist, einen allgemeinen Durchschnitt der Wahrhaftigkeit (und anderer Befähigungen für wahres Zeugniss) der Menschen oder einer Classe von Menschen zu nehmen; und wenn es auch möglich wäre, so könnten wir uns doch nicht nach einem solchen Durchschnitt richten, da die Glaubwürdigkeit fast eines jeden Zeugen entweder über oder unter dem Durchschnitt steht. Sogar bei einem individuellen Zeugen würden Menschen von gesundem Verstand ihre Schlüsse auf den Grad von Uebereinstimmung in den Aussagen, auf sein Verhalten in dem Kreuzverhör, auf die Beziehung des Falls zu seinen Interessen, seine Parteilichkeit und seine geistigen Fähigkeiten stützen, anstatt einen so rohen Maassstab (auch wenn er der Bestätigung fähig wäre) anzuwenden, wie das Verhältniss zwischen der Anzahl von wahren und der Anzahl von irrigen Aussagen, die er der Voraussetzung nach während seiner Lebensdauer vielleicht machen dürfte.

In ähnlicher Weise sind manche Mathematiker in Beziehung auf Geschwornengerichte oder andere Gerichte von dem Satz ausgegangen, das Urtheil eines Richters oder Geschwornen sei, in einem geringen Grad wenigstens, wahrscheinlicher richtig als unrichtig, und sie haben geschlossen, dass sich die Wahrscheinlichkeit des Irrthums bei einem von einer Anzahl von Personen ausgehenden Verdict um so mehr verringert, je grösser die Zahl der Personen wird, so dass, wenn nur genug Richter vorhanden sind, die Richtigkeit des Urtheils beinahe auf Gewissheit zurückgeführt werden kann. Ich sage nichts von dem geringen Werth, den man der Wirkung beilegt, welche durch die Vermehrung der Richter auf deren moralische Stellung, durch die virtuelle Vernichtung ihrer persönlichen Verantwortlichkeit und die geschwächte Anwendung ihres Verstandes auf den Gegenstand hervorgebracht wird. Ich beachte nur den Fehlschluss aus einem grossen Durchschnitt auf Fälle, die sich nothwendig von einem jeden Durchschnitt bedeutend unterscheiden. Es mag wahr sein, dass wenn man alle Ursachen zusammennimmt, die Ansicht eines jeden Richters öfter richtig ist als unrichtig, aber das Argument vergisst, dass in allen Fällen mit Ausnahme der einfacheren, in allen Fällen, in denen es[72] wirklich von Wichtigkeit ist, was das Tribunal sei, der Satz wahrscheinlich umgekehrt werden könnte; ausserdem würde die aus der Verwickelung des Falls oder aus einem gewöhnlichen Vorurtheil oder aus Geistesschwäche hervorgehende Ursache des Irrthums, wenn sie auf einen Richter wirkt, äusserst wahrscheinlich auf alle anderen Richter oder wenigstens auf die Mehrheit derselben in derselben Weise wirken, und so eine falsche anstatt einer richtigen Entscheidung um so wahrscheinlicher machen, je mehr die Zahl der Richter erhöht würde.

Dies sind nur Beispiele von Irrthümern, die häufig von Männern begangen werden, welche, nachdem sie sich mit den schwierigen Formeln bekannt gemacht haben, welche die Algebra für die Berechnung der Wahrscheinlichkeit unter Voraussetzungen von einer verwickelten Natur darbietet, lieber nach diesen Formeln berechnen, was die Wahrscheinlichkeiten in Betreff eines Falls für den Halbunterrichteten sind, anstatt nach Mitteln zu suchen, um sich besser zu unterrichten. Vor der Anwendung der Wahrscheinlichkeitslehre auf einen wissenschaftlichen Zweck muss das Fundament für eine Berechnung der Wahrscheinlichkeit dadurch gelegt werden, dass wir uns in Besitz der möglichst erreichbaren Menge von positivem Wissen setzen. Das erforderliche Wissen besteht in der Kenntniss der relativen Häufigkeit, womit die verschiedenen Ereignisse in der That vorkommen. Es ist daher für die Zwecke des vorliegenden Werkes zulässig anzunehmen, es beruhten Schlüsse bezüglich der Wahrscheinlichkeit einer Thatsache von einer besonderen Art auf unserer Kenntniss des Verhältnisses zwischen den Fällen, in denen Thatsachen dieser Art vorkommen, und den Fällen, in denen sie nicht vorkommen: indem diese Kenntniss entweder aus dem specifischen Experiment abgeleitet ist, oder aus unserer Kenntniss der thätigen Ursachen, welche die fragliche Thatsache hervorzubringen streben, im Vergleich mit den Ursachen, welche sie zu verhindern streben.

Eine solche Wahrscheinlichkeitsrechnung ist auf Induction gegründet, und wenn die Rechnung gültig sein soll, so muss die Induction gültig sein. Sie ist nicht weniger eine Induction, wenn sie auch nicht beweist, dass das Ereigniss in allen Fällen einer gegebenen Art, sondern dass es nur in ungefähr so und so vielen von einer gegebenen Anzahl solcher Fälle eintritt. Der Bruch,[73] durch welchen die Mathematiker die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bezeichnen, ist das Verhältniss dieser zwei Zahlen; er ist das festgestellte Verhältniss zwischen der Anzahl von Fällen, in denen das Ereigniss eintritt, und der Summe aller Fälle, in denen es eintritt und nicht eintritt. Beim Kopf- oder Wappenspiel sind die betreffenden Fälle Würfe, und die Wahrscheinlichkeit von Kopf ist ein halb, weil bei einer hinreichenden Anzahl von Würfen unter je zwei Würfen Kopf einmal fällt. Beim Würfeln ist die Wahrscheinlichkeit von Eins ein Sechstel; nicht bloss weil es sechs mögliche Würfe giebt, unter denen Eins einer ist, und weil wir keinen Grund kennen, warum der eine Wurf eher fallen sollte als der andere, obgleich ich die Gültigkeit dieses Grundes in Ermangelung eines bessern zugegeben habe: sondern weil wir wirklich entweder durch Schliessen oder durch Erfahrung wissen, dass in einem Hundert oder in Millionen von Würfen Eins ungefähr ein sechstelmal von dieser Zahl oder einmal in sechs Malen fällt.

§. 4. Ich sage »entweder durch Schliessen oder durch Erfahrung;« ich meine hiermit durch specifische Erfahrung. Aber beim Berechnen von Wahrscheinlichkeiten ist es nicht gleichgültig, aus welcher von diesen zwei Quellen wir unsere Ueberzeugung schöpfen. Die aus seiner blossen Häufigkeit in vergangener Erfahrung berechnete Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bietet eine weniger sichere Grundlage für die Praxis, als seine, aus einer gleich genauen Kenntniss der Häufigkeit des Eintretens seiner Ursachen abgeleitete Wahrscheinlichkeit.

Die Generalisation, dass ein Ereigniss in zehn von je hundert Fällen einer gegebenen Art eintritt, ist eben so gut eine wirkliche Induction, als wenn die Generalisation wäre, dass es in allen Fällen eintritt. Aber wenn wir dadurch zu dem Schluss gelangen, dass wir in der wirklichen Erfahrung bloss die Fälle zählen, und die Anzahl von Fällen, in denen A gegenwärtig war, mit der Anzahl von Fällen vergleichen, in denen es nicht gegenwärtig war, so ist der Beweis bloss der der Methode der Uebereinstimmung, und der Schluss läuft bloss auf ein empirisches Gesetz hinaus. Wir können einen Schritt weiter gelangen, wenn wir die Ursachen erreichen können, von denen das Eintreten oder das Nichteintreten von A abhängig[74] ist, und eine Berechnung der relativen Häufigkeit der dem Eintreten günstigen und ungünstigen Ursachen vornehmen können. Dies sind Data von einer höhern Ordnung, durch welche das aus einer bloss numerischen Vergleichung der bejahenden und verneinenden Fälle abgeleitete empirische Gesetz entweder berichtigt oder bestätigt wird, und durch welche wir in beiden Fällen ein richtigeres Maass der Wahrscheinlichkeit erhalten werden, als durch jene numerische Vergleichung. Man hat ganz wohl bemerkt, dass bei der Art von Beispielen, durch welche die Wahrscheinlichkeitslehre gewöhnlich erläutert wird, bei den Kugeln in der Urne, die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten durch Gründe der Verursachung, die stärker sind als specifische Erfahrung, gestützt wird. »Warum erwarten wir, aus einer Urne, in der neun schwarze Kugeln und nur eine weisse sind, eine schwarze Kugel neunmal so viel (mit anderen Worten, neunmal so oft, da die Häufigkeit das Maass der Intensität der Erwartung ist) zu ziehen als eine weisse? Offenbar weil die örtlichen Bedingungen neunmal so günstig sind, weil die Hand auf neun Stellen greifen und eine schwarze Kugel fassen kann, während sie nur auf eine Stelle greifen und dabei eine weisse Kugel finden kann; ganz aus demselben Grunde als wir nicht erwarten, in einem Gedränge einen Freund finden zu können, indem die Bedingungen unserer Begegnung mannigfaltig und schwierig sind. Dies würde natürlich soweit nicht gültig sein, wenn die weissen Kugeln kleiner wären als die schwarzen, noch würde die Wahrscheinlichkeit dieselbe bleiben; die grössere Kugel würde der Hand viel wahrscheinlicher begegnen.«131

Es ist in der That einleuchtend, dass wenn Verursachung einmal als ein allgemeines Gesetz zugelassen wird, unsere Erwartung von Ereignissen rationell nur auf dieses Gesetz gegründet werden kann. Für jemand der anerkennt, dass ein jedes Ereigniss von Ursachen abhängig ist, ist das einmalige Vorkommen eines Dinges ein Grund, dessen wiederholtes Vorkommen zu erwarten, nur weil es beweist, dass eine Ursache existirt oder existiren kann, die dasselbe hervorzubringen adäquat ist.132 Die Häufigkeit des[75] besondern Ereignisses kann abgesehen von aller Vermuthung bezüglich seiner Ursache nur zu einer Induction per enumerationem simplicem Anlass geben, und die hieraus gezogenen precären Folgerungen werden übertroffen und verschwinden aus dem Feld, sobald das Causalitätsprincip daselbst erscheint.

Ungeachtet des abstracten Vorzugs einer auf Ursachen gegründeten Berechnung der Wahrscheinlichkeit ist es eine Thatsache, dass fast in allen Fällen, in denen die Wahrscheinlichkeit eine hinreichend genaue Berechnung zulässt, um ihre numerische Schätzung praktisch verwerthbar zu machen, die numerischen Data nicht aus der Kenntniss der Ursachen, sondern aus dem Erfahren der Ereignisse selbst gezogen sind. Die Wahrscheinlichkeit der Lebensdauer in den verschiedenen Altern oder in verschiedenen Klimaten; die Wahrscheinlichkeit der Genesung von einer besondern Krankheit, der männlichen und weiblichen Geburten; die Wahrscheinlichkeit der Zerstörung von Häusern oder anderem Besitzthum durch Feuer, des Verlustes von Schiffen bei[76] einer besondern Reise, sind von Sterblichkeitstabellen, Hospitalberichten, Geburtsregistern, Schiffbruchslisten etc. abgeleitet, d.h. von der beobachteten Häufigkeit nicht der Ursachen, sondern der Wirkungen. Der Grund davon ist, dass in allen diesen Classen von Thatsachen die Ursachen der directen Beobachtung entweder gar nicht oder nicht mit hinreichender Genauigkeit zugänglich sind, und dass wir kein anderes Mittel besitzen, um ihre Häufigkeit zu beurtheilen, als das durch die Häufigkeit der Wirkungen dargebotene empirische Gesetz. Die Folgerung ist aber desshalb nicht weniger von Verursachung allein abhängig. Wir schliessen von einer Wirkung auf eine ähnliche Wirkung durch die Ursachen hindurch. Wenn der Actuar einer Versicherungsgesellschaft aus seinen Tabellen folgert, dass von hundert jetzt lebenden Personen eines gewissen Alters im Durchschnitt fünf das Alter von siebenzig Jahren erreichen, so ist seine Folgerung gültig, nicht des einfachen Grundes wegen, dass dies das Verhältniss von denen ist, die in vergangenen Zeiten die siebenzig erreicht haben, sondern weil die Thatsache, dass sie so lange gelebt haben, zeigt, dass dies gegenwärtig und hier das existirende Verhältniss zwischen den Ursachen ist, welche das Leben bis zum Alter von siebenzig zu verlängern streben, und den Ursachen, welche es zu einem frühzeitigeren Abschluss zu bringen streben.133

[77] §. 5. Es ist leicht, aus den vorhergehenden Principien den Beweis jenes Lehrsatzes der Wahrscheinlichkeitslehre abzuleiten, der die Grundlage ihrer Anwendung zur Bestimmung des Eintreffens eines gegebenen Ereignisses oder der Realität einer einzelnen Thatsache in gerichtlichen oder anderen Untersuchungen ist. Die Zeichen oder Beweise, wodurch eine Thatsache gewöhnlich bewiesen wird, bestehen in einigen ihrer Folgen, und die Untersuchung geht hauptsächlich darauf aus, zu ermitteln, welche Ursache am wahrscheinlichsten eine gegebene Wirkung hervorgebracht hat. Das auf Untersuchung der Art anwendbare Princip ist das sechste in Laplace's Essai philosophique sur les probabilités, welches er beschreibt als: »Das Grundprincip von diesem Zweige der Analysis der Wahrscheinlichkeiten, welches darin besteht, dass man von den Ereignissen zu ihren Ursachen hinaufsteigt«.134

Es sei eine gegebene Wirkung zu erklären, und es seien verschiedene Ursachen vorhanden, welche sie hervorgebracht haben können, von deren Gegenwart jedoch in dem besondern Falle nichts bekannt ist, so verhält sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Wirkung von einer dieser Ursachen hervorgebracht worden ist, wie die vorausgängige Wahrscheinlichkeit der Ursache, multiplicirt mit der Wahrscheinlichkeit, dass die Ursache, wenn sie existirte, die gegebene Wirkung hervorgebracht haben würde.

Es sei M die Wirkung und A und B seien zwei Ursachen, welche sie beide hervorgebracht haben konnten. Um die Wahrscheinlichkeit zu finden, dass sie durch die eine und nicht durch die andere hervorgebracht worden ist, bestimme man, welche von beiden Ursachen am wahrscheinlichsten existirt hat, und welche von ihnen bei ihrer Existenz die Wirkung M am wahrscheinlichsten hervorgebracht[78] haben würde; die gesuchte Wahrscheinlichkeit ist aus diesen beiden Wahrscheinlichkeiten zusammengesetzt.

Fall I. Es seien die Ursachen in der zweiten Beziehung gleich, indem man voraussetzt, dass sowohl A als B, wenn sie existirten, die Wirkung M gleich wahrscheinlich (oder gleich gewiss) hervorbringen; es existire aber A zweimal so wahrscheinlich als B, d.h. es sei ein doppelt so häufiges Phänomen. Es ist dann zweimal so wahrscheinlich, dass es in diesem Falle existirt hat und die Ursache gewesen ist, welche M hervorgebracht hat.

Denn da A zweimal so oft in der Natur existirt als B, so hat in je 300 Fällen, worin das eine oder das andere existirte, A zweihundertmal und B hundertmal existirt. Wo aber M hervorgebracht worden ist, muss entweder A oder B existirt haben; es war daher in 300 Fällen, in denen M hervorgebracht wurde, A zweihundertmal und B nur hundertmal die erzeugende Ursache, d.h. im Verhältniss von 2 zu 1. Wenn also die Ursachen in ihrer Fähigkeit, die Wirkung hervorzubringen, gleich sind, so verhält sich die Wahrscheinlichkeit, welche von ihnen sie wirklich hervorgebracht hat, wie ihre vorausgehenden Wahrscheinlichkeiten.

Fall II. Indem wir die letzte Hypothese umkehren, wollen wir annehmen, dass die Ursachen gleich häufig seien, dass sie gleich wahrscheinlich existirt haben, dass sie aber bei ihrer Existenz nicht gleich wahrscheinlich M hervorgebracht haben, dass von je drei Malen, wo A eintrifft, es diese Wirkung zweimal, während B sie von drei Malen nur einmal hervorbringt. Da die beiden Ursachen gleich häufig eintreffen, so wird in je sechs Malen A dreimal und B dreimal existiren. A erzeugt in diesen drei Malen M zweimal, B bringt in seinen drei Malen M nur einmal hervor. In allen sechs Malen wird also M nur dreimal hervorgebracht, aber von diesen drei Malen ist es zweimal von A und nur einmal von B hervorgebracht. Folglich, wenn die vorangängigen Wahrscheinlichkeiten der Ursachen gleich sind, so verhalten sich die Wahrscheinlichkeiten, dass die Wirkung von ihnen hervorgebracht wurde, wie die Wahrscheinlichkeiten, dass wenn sie existirten, sie die Wirkung hervorbringen würden.

Fall III. Der dritte Fall, nämlich derjenige, worin die Ursachen in beiden Beziehungen ungleich sind, wird nach dem vorhergehenden gelöst. Denn wenn eine Grösse von zwei anderen Grössen[79] in einer solchen Weise abhängt, dass während die eine von ihnen constant bleibt, sie der andern proportional ist, so muss sie nothwendig dem Producte der zwei Grössen proportional sein, indem das Product die einzige Function der beiden Grössen ist, welche diesem Gesetze der Veränderung gehorcht. Es verhält sich daher die Wahrscheinlichkeit, dass M durch die eine oder die andere Ursache hervorgebracht worden ist, wie die vorausgehende Wahrscheinlichkeit der Ursache, multiplicirt mit der Wahrscheinlichkeit, dass wenn sie existirte, sie M hervorbringen würde, was zu beweisen war.

Wir können den dritten Fall auch so beweisen wie wir den ersten und zweiten bewiesen haben. Es sei A zweimal so häufig als B, und es seien ferner ihre Wahrscheinlichkeiten, dass sie M hervorbringen würden, wenn sie existirten, ungleich; es bringe A zweimal unter vier und B dreimal unter vier Malen M hervor. Die vorausgehende Wahrscheinlichkeit von A verhält sich zu der von B wie 2 zu 1; ihre Wahrscheinlichkeiten M hervorzubringen, verhalten sich wie 2 zu 3; das Product dieser Verhältnisse ist das Verhältniss 4 zu 3, und dies wird das Verhältniss der Wahrscheinlichkeiten sein, dass A oder B in dem gegebenen Falle die erzeugende Ursache war. Denn da A zweimal so häufig ist als B, so existirt unter zwölf Fällen, worin das eine oder das andere existirt, A achtmal und B viermal. Aber der Voraussetzung nach bringt A nur in vier von seinen acht Fällen M hervor, während B es in drei von seinen vier Fällen hervorbringt. M ist daher nur in sieben von zwölf Fällen hervorgebracht, aber von diesen ist es in vier von A und in drei Fällen von B hervorgebracht; es verhalten sich die Wahrscheinlichkeiten von A und B wie 4 zu 3 und werden durch die Brüche 4/7 und 3/7 ausgedrückt, was zu beweisen war.

§. 6. Es bleibt nun noch die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitslehre auf eine besondere Aufgabe zu untersuchen, worauf wir bei einer frühern Gelegenheit aufmerksam gemacht haben, nämlich: wie soll man zufällige Coincidenzen von solchen unterscheiden, welche das Resultat eines Gesetzes sind, von denjenigen, in welchen die Thatsachen, welche sich einander begleiten oder folgen, irgendwie durch Verursachung verknüpft sind.[80]

Die Wahrscheinlichkeitslehre gewährt Mittel, durch welche wir, wenn uns die Durchschnittszahl der gesuchten Coincidenzen zwischen zwei nur zufällig verbundenen Naturerscheinungen bekannt wäre, bestimmen könnten, wie oft eine gegebene Abweichung von diesem Durchschnitt durch Zufall stattfinden wird. Wenn die Wahrscheinlichkeit irgend eines zufälligen Zusammentreffens an und für sich 1/m ist, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich dasselbe Zusammentreffen n mal nacheinander wiederholen wird, 1/mn. Da z.B. beim Würfel die Wahrscheinlichkeit, dass Eins fällt, 1/6 ist, so wird die Wahrscheinlichkeit, dass Eins zweimal nacheinander fallen wird, 1 dividirt durch das Quadrat von 6 oder 1/36 sein. Denn bei dem ersten Wurfe fällt Eins unter sechs Malen einmal, oder sechsmal von sechsunddreissig Malen; und wenn wieder gewürfelt wird, so wird von diesen sechs Malen Eins nur einmal fallen, zusammen also von sechsunddreissig Malen nur einmal. Die Wahrscheinlichkeit, dass derselbe Wurf dreimal nacheinander fallen wird, ist nach einem ähnlichen Raisonnement 1/63 oder 1/216, d.h. bei einem grossen Durchschnitt wird das Ereigniss nur einmal von zweihundert und sechszehn Malen eintreffen.

Wir haben so eine Regel, nach welcher wir die Wahrscheinlichkeit, dass eine gegebene Reihe von Coincidenzen aus dem Zufall hervorgeht, berechnen können, vorausgesetzt dass wir die Wahrscheinlichkeit eines einzelnen Zusammentreffens genau messen können. Wenn wir einen eben so genauen Ausdruck für die Wahrscheinlichkeit, dass dieselbe Reihe von Coincidenzen aus einer Verursachung entspringt, erhalten könnten, so hätten wir nur die Zahlen zu vergleichen. Dies kann indessen selten geschehen. Wir wollen sehen, welchen Grad von Annäherung an die nöthige Genauigkeit wir praktisch erreichen können.

Die Frage fällt innerhalb des sechsten Princips von Laplace, von dem wir soeben den Beweis gegeben haben. Die gegebene Thatsache, d.h. die Reihe von Coincidenzen kann ihren Ursprung entweder in einer zufälligen Verbindung von Ursachen oder in einem Naturgesetz haben. Die Wahrscheinlichkeiten, dass die Thatsache in diesen zwei Modi entstanden ist, verhalten sich daher wie ihre vorausgängigen Wahrscheinlichkeiten, multiplicirt durch die Wahrscheinlichkeiten, dass wenn diese Modi existirten, sie die[81] Wirkung hervorbringen würden. Aber die besondere Combination von Zufällen, wenn sie vorkäme, oder das Naturgesetz, wenn es ein wirkliches wäre, würden die Reihe von Coincidenzen gewiss hervorbringen. Die Wahrscheinlichkeiten, dass die Coincidenzen durch die zwei fraglichen Ursachen hervorgebracht worden sind, verhalten sich daher wie die vorausgängigen Wahrscheinlichkeiten der Ursachen. Die eine von diesen, die vorausgängige Wahrscheinlichkeit der Combination von blossen Zufällen, welche das gegebene Resultat hervorbringen würden, ist eine schätzbare Grösse. Die vorausgängige Wahrscheinlichkeit der andern Voraussetzung mag, je nach der Natur des Falles, einer mehr oder weniger genauen Berechnung fähig sein.

In manchen Fällen muss das Zusammentreffen, vorausgesetzt dass es überhaupt das Resultat einer Verursachung sei, das Resultat einer bekannten Ursache sein; so wie das Aufeinanderfolgen der Eins, wenn es nicht zufällig ist, von der Beschwerung der Würfelseite herrühren muss. In solchen Fällen können wir in Beziehung auf die vorausgehende Wahrscheinlichkeit eines solchen Umstandes aus dem Charakter der betreffenden Spieler oder aus anderen derartigen Beweisen eine Vermuthung ableiten, aber es wäre absolut unmöglich, diese Wahrscheinlichkeit mit einer numerischen Genauigkeit zu schätzen. Da indessen die entgegengesetzte Wahrscheinlichkeit, die Wahrscheinlichkeit des zufälligen Ursprungs des Zusammentreffens bei einem jeden neuen Versuch so rasch abnimmt, so erreicht man bald den Punkt, wo die Wahrscheinlichkeit eines falschen Würfels, so klein sie an und für sich sein mag, grösser sein muss als die eines zufälligen Zusammentreffens, und aus diesem Grunde kann man bald zu einer praktischen Entscheidung gelangen, wenn man es nur in der Gewalt hat, den Versuch zu wiederholen.

Wenn indessen das Zusammentreffen der Art ist, dass es nicht durch eine bekannte Ursache erklärt werden kann, und wenn der Zusammenhang zwischen den zwei Naturerscheinungen, im Falle er durch eine Ursache hervorgebracht ist, das Resultat eines bis dahin unbekannten Naturgesetzes sein muss, was der Fall ist, den wir in dem letzten Capitel im Auge hatten, so ist, obgleich die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Zusammentreffens berechenbar sein mag, die der entgegengesetzten Voraussetzung, die Wahrscheinlichkeit[82] der Existenz eines unentdeckten Naturgesetzes, auch einer nur annähernden Werthbestimmung ganz unfähig. Um die Data zu haben, welche ein solcher Fall erfordert, wäre es nothwendig zu wissen, welche Anzahl von allen in der Natur vorkommenden Sequenzen oder Coexistenzen das Resultat eines Gesetzes, und welche das Resultat des Zufalls ist. Da es einleuchtend ist, dass wir in Beziehung auf dieses Grössenverhältniss keine plausible Vermuthung hegen, und noch weniger es numerisch schätzen können, so können wir eine genaue Berechnung der relativen Wahrscheinlichkeit nicht versuchen. Aber dessen sind wir gewiss, dass die Entdeckung eines unbekannten Naturgesetzes – einer vorher nicht erkannten Beständigkeit der Verbindung zweier Phänomene – kein ungewöhnliches Ereigniss ist. Wenn daher die Anzahl von Fällen, in denen ein Zusammentreffen beobachtet worden ist, die im Durchschnitt aus der blossen Mitwirkung von Zufällen hervorgehende Anzahl soweit übersteigt, dass eine so grosse Anzahl von zufälligen Coincidenzen ein äusserst ungewöhnliches Ereigniss sein würde, so haben wir ein Recht zu schliessen, dass das Zusammentreffen die Wirkung einer Ursache, und daher als ein empirisches (der Correction durch künftige Erfahrung unterworfenes) Gesetz an zunehmen ist. Weiter können wir in Beziehung auf Genauigkeit nicht gehen, auch wird in den meisten Fällen eine grössere Genauigkeit für die Lösung praktischer Zweifel nicht verlangt.[83]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 2, Braunschweig 31868, S. 66-84.
Lizenz:

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