Erstes Capitel.

Von den Fehlschlüssen im Allgemeinen.

[311] §. 1. Es war eine Maxime der Scholastiker, dass – »contrariorum eadem est scientia« – wir niemals ein Ding wirklich kennen, wenn wir nicht auch im Stande sind, sein Entgegengesetztes hinreichend zu erklären. Dieser Maxime zufolge ist in den meisten Lehrbüchern der Logik der Lehre von den Fehlschlüssen ein weiter Raum gewidmet, und dieser Brauch ist so empfehlenswerth, dass wir ihn auch hier beobachten wollen. Wenn die Philosophie des Schliessens vollständig sein soll, so muss sie sowohl die Theorie des schlechten als auch des guten Schliessens umfassen.

Wir haben versucht die Principien festzustellen, durch welche die Zulänglichkeit eines Beweises geprüft und die Natur und die Stärke eines Beweises, wie er für die Zulässigkeit eines Schlusses erforderlich ist, zum voraus bestimmt werden kann. Wenn diese Principien befolgt würden, so würde man, obgleich die Anzahl und der Werth der Wahrheiten immer von dem Glücke, oder von dem Fleiss, der Geschicklichkeit und der Geduld des Forschers abhängen werden, wenigstens nicht nach dem Irrthum anstatt nach der Wahrheit greifen. Aber die auf ihre Erfahrung gegründete allgemeine Uebereinstimmung der Menschen in ihren Meinungen zeigt, dass sie sogar von dieser negativen Vollkommenheit in dem Gebrauche ihres Vermögens, Schlüsse zu ziehen, weit entfernt sind.

In der Praxis des Lebens – bei der Ausübung der praktischen Geschäfte der Menschen – sind falsche Schlüsse, unrichtige Auslegungen der Erfahrung, wenn nicht eine hohe Ausbildung des Denkvermögens vorausgeht, absolut unvermeidlich; und bei den meisten Menschen sind, nachdem sie den höchsten Grad der[311] für sie erreichbaren Ausbildung erlangt haben, irrige Folgerungen, welche entsprechende Irrthümer in ihrer Praxis erzeugen, bejammernswerth häufig. Sogar in den Speculationen, denen sich die höchsten Geister systematisch gewidmet haben, und in Beziehung auf welche der Collectivgeist der gesammten wissenschaftlichen Welt immer bereit war, die Bemühungen der Einzelnen zu unterstützen und ihre Irrthümer zu verbessern, sind Meinungen, welche nicht auf eine richtige Induction gegründet waren, zuletzt nur aus den vollkommneren Wissenschaften, aus denjenigen verbannt worden, deren Gegenstand am wenigsten verwickelt ist. Bei den Untersuchungen, welche sich auf die verwickelteren Erscheinungen des Universums beziehen, und besonders bei denen, welche sich auf die Erscheinungen beziehen, deren Gegenstand der Mensch ist, sei es als ein moralisches und intellectuelles, sei es als ein sociales, oder auch als ein physisches Wesen, ist die Verschiedenheit zwischen den Meinungen kenntnissreicher Männer, und die gleiche Zuversicht, mit der sie bei ganz entgegengesetzten Denkweisen an ihren respectiven Sätzen hängen, ein Beweis nicht bloss, dass man die richtigen Modi des Philosophirens über diese Gegenstände noch nicht allgemein angenommen hat, sondern auch, dass man ganz falsche angenommen hat; dass die Philosophen im allgemeinen nicht allein die Wahrheit verfehlt, sondern auch dass sie den Irrthum angenommen haben; dass sogar die gebildetsten Menschen noch nicht gelernt haben, keine Schlüsse zu ziehen, die nicht durch Beweise gestützt sind.

Der einzige vollständige Schutz gegen falsches Schliessen ist die Gewohnheit gut zu schliessen, die Vertrautheit mit den Principien des richtigen Schliessens und die Uebung in deren Anwendung. Es ist indessen nicht ohne Wichtigkeit zu betrachten, welcher Art die gewöhnlichsten Modi des schlechten Schliessens sind; durch welche Erscheinungen der Geigt am leichtesten von der Beachtung der wahren Principien der Induction abgelenkt wird, kurz, welcher Art die gewöhnlichsten und gefährlichsten Varietäten von Scheinbeweisen sind, durch welche die Menschen zu Meinungen verleitet werden, für welche in Wirklichkeit kein gültiger Beweis existirt.

Ein Verzeichniss der verschiedenen Scheinbeweise ist eine Aufzählung der Trugschlüsse. Ohne eine solche Aufzählung würde[312] das vorliegende Werk in einem wesentlichen Punkte mangelhaft sein; und während die Schriftsteller, welche nur die Lehre von dem Syllogismus abhandelten, ihre Bemerkungen auf diejenigen Fehlschlüsse beschränkten, welche hierbei vorkommen, müssen wir, da wir das ganze Verfahren bei der Erforschung der Wahrheit abzuhandeln unternommen haben, unserer Anleitung, dasselbe richtig zu vollziehen, noch die Warnung hinzufügen, es in keinem seiner Theile unrichtig zu vollziehen, es sei der syllogistische oder der experimentelle Theil des Verfahrens fehlerhaft, oder der Fehler liege darin, dass man sich des Syllogismus und der Induction gänzlich überhebt.

§. 2. Bei der Betrachtung der Quellen unbegründeter Folgerungen ist es unnöthig, diejenigen Quellen zu berücksichtigen, welche nicht aus einer falschen Methode, oder auch aus einer Unkenntniss der richtigen, sondern aus einem zufälligen Fehler, aus Uebereilung oder Unaufmerksamkeit bei der Anwendung der richtigen Principien der Induction entspringen. Dergleichen Irrthümer erfordern so wenig, wie Irrthümer, welche beim Summiren von Zahlen begangen werden, eine philosophische Analyse oder Classification; theoretische Betrachtungen können kein Licht auf die Mittel werfen, sie zu vermeiden. In der vorliegenden Abhandlung ist unsere Aufmerksamkeit nicht der blossen Unerfahrenheit in der richtigen Ausübung dieser Operation (deren einzige Gegenmittel grössere Aufmerksamkeit und fleissige Uebung sind), sondern der Betrachtung des fundamental falschen Weges gewidmet, auf dem sie vollzogen wird; den Bedingungen, unter denen sich der menschliche Geist überredet, dass er hinreichenden Grund zu einem Schluss habe, zu dem er nicht durch eine der legitimen Methoden der Induction gelangt ist, und welchen er nicht einmal oberflächlich durch diese Methoden zu prüfen versucht hat.

§. 3. Es giebt noch einen anderen Zweig von dem, was man die Philosophie des Irrthums nennen könnte, dessen wir hier erwähnen müssen, wenn auch nur, um ihn aus unseren Betrachtungen auszuschliessen. Die Irrthümer fliessen aus zwei Quellen, aus moralischen und aus intellectuellen. Die moralischen fallen nicht[313] in den Bereich dieses Werkes. Sie lassen sich unter zwei Rubriken bringen: Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit und Neigungen; der gewöhnlichste Fall ist, dass wir durch unsere Wünsche gelenkt werden; aber unsere Neigung zur ungehörigen Annahme eines Schlusses ist fast gleich gross, der Schluss mag für uns angenehm oder unangenehm sein, wenn er von der Art ist, dass er stärkere Leidenschaften in Thätigkeit bringt. Personen von einem schüchternen Charakter sind um so mehr geneigt, irgend eine Aussage zu glauben, je mehr sie dadurch erschreckt werden. Es ist in der That ein aus den allgemeinsten Gesetzen der geistigen Constitution der Menschen ableitbares psychologisches Gesetz, dass eine jede starke Leidenschaft uns in Beziehung auf Gegenstände, die geeignet sind, diese Leidenschaft anzuregen, leichtgläubig macht.

Aber obgleich die moralischen Ursachen unserer Meinungen sehr mächtig sind, so sind sie doch nur entfernte Ursachen; sie wirken nicht unmittelbar, sondern nur durch die intellectuellen Ursachen, zu denen sie in demselben Verhältniss stehen, wie die in der Medicin prädisponirende Ursachen genannten Umstände zu den erregenden Ursachen. Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit kann nicht an und für sich Irrthum erzeugen; sie wirkt dadurch, dass sie den Geist verhindert, die eigentlichen Beweise zu folgern, oder sie durch eine strenge und richtige Induction zu prüfen; durch dieses Versäumniss wird er schutzlos dem Einfluss einer jeden Art von Scheinbeweis ausgesetzt, die sich spontan darbietet oder die aus jener geringeren Mühe hervorgeht, welcher sich der Geist vielleicht willig unterzieht. Ebenso wenig sind Neigungen eine directe Quelle falscher Schlüsse. Wir können eine Behauptung nicht darum glauben, weil wir sie nur zu glauben wünschen oder fürchten. Die heftigste Neigung, eine Reihe von Behauptungen wahr zu finden, wird auch den schwächsten Menschen nicht fähig machen, sie ohne alle Spur von geistigen Gründen, ohne einen Beweis, wenn auch einen scheinbaren, zu glauben. Sie kann nur indirect wirken, indem sie die geistigen Gründe des Glaubens in einer unvollständigen oder verdrehten Gestalt vor sein Auge bringt. Sie macht, dass er vor der mühsamen Arbeit einer strengen Induction zurückschreckt, indem er die Besorgniss hegt, ihre Resultate könnten unangenehm sein; sie verursacht in einer Prüfung,[314] wie er sie vornimmt, dass er das, was bis zu einem gewissen Grade willkürlich ist, nämlich seine Aufmerksamkeit, auf ungeeignete Weise gebraucht, indem er einen grösseren Theil derselben auf den Beweis richtet, der dem gewünschten Schluss günstig, einen geringeren Theil auf den Beweis, der ihm ungünstig scheint. Auch macht sie, dass er eifrig nach Gründen oder scheinbaren Gründen sucht, um damit Meinungen zu stützen, die mit seinen Interessen oder seinen Gefühlen übereinstimmen, oder um Meinungen, die diesen widerstreiten, zu widerstehen; und wenn die Interessen oder die Gefühle einer grossen Anzahl von Menschen gemein sind, so werden Gründe angenommen und in Umlauf gesetzt, auf die man nicht einen Augenblick als auf Gründe hören würde, wenn für den Schluss nicht etwas mächtigeres spräche, als seine Gründe. Die natürlichen oder die erworbenen Parteilichkeiten der Menschen lassen fortwährend philosophische Theorien entstehen, deren ganze Empfehlung in den von ihnen dargebotenen Prämissen besteht, um werthgehaltene Lehren zu beweisen oder Lieblingsgefühle zu rechtfertigen; und wenn eine dieser Theorien so sehr in Misscredit gerathen ist, dass sie dem Zwecke nicht ferner mehr dienen kann, so ist stets eine andere bereit, ihren Platz einzunehmen. Wenn diese Neigung zu Gunsten einer weitverbreiteten Ueberzeugung oder Denkungsart ausgeübt wird, so schmückt sie sich häufig mit schmeichelhaften Beiwörtern, und die entgegengesetzte Gewohnheit, die Gewohnheit, das Urtheil in vollständiger Unterwürfigkeit unter dem Beweis zu halten, wird mit verschiedenen harten Namen gebrandmarkt, wie Skepticismus, Immoralität, Kälte, Hartherzigkeit und ähnliche Ausdrücke, je nach der Natur des Falles. Aber obgleich die Meinungen der Menschen, wenn sie nicht von der blossen Gewohnheit abhängen oder eingeprägt sind, im allgemeinen mehr in den Neigungen als in der Intelligenz wurzeln, so ist es doch für den Triumph der moralischen Neigung eine nothwendige Bedingung, dass sie zuerst den Verstand verkehre und verwirre. Eine jede irrige Folgerung, obgleich sie aus moralischen Ursachen entspringt, involvirt die intellectuelle Operation der Zulassung des unzureichenden Beweises als eines zureichenden; und wer gegen alle Arten von ungültigen Beweisen, welche für gültige genommen werden können, auf der Hut wäre, würde nicht Gefahr laufen[315] selbst durch die stärkste Neigung zum Irrthum verleitet zu werden. Es giebt Geister, deren Intelligenz so stark ist, dass sie sich dem Lichte der Wahrheit nicht verschliessen könnten, wie sehr sie es auch wünschen möchten; sie könnten mit aller Neigung der Welt schlechte Argumente nicht für gute über sich ergehen lassen. Wenn die Sophisterei des Geistes unmöglich gemacht werden könnte, so würde die der Gefühle, da sie kein Werkzeug mehr besässe, machtlos sein. Eine umfassende Classification aller Dinge, die ohne Beweis zu sein, dem Verstände als Beweis erscheinen können, wird daher alle Irrthümer einschliessen, welche aus moralischen Ursachen entspringen, mit Ausschluss von nur denjenigen Gewohnheitsirrthümern, die einem besseren Wissen entgegen begangen werden.

Die verschiedenen Arten von scheinbaren Beweisen zu prüfen, die nicht Beweise sind, und von scheinbar bündigen Beweisen, die sich in Wahrheit nicht zu einer Schlussgültigkeit erheben, ist der Gegenstand des folgenden Theiles unserer Untersuchung.

Der Gegenstand liegt nicht ausserhalb des Bereiches der Classification und eines gedrängten Ueberblicks. Der Dinge, welche nicht Beweis eines gegebenen Schlusses sind, sind zwar in der That zahllose, da aber diese negative Eigenschaft nicht von positiven Eigenschaften abhängig ist, so kann sie natürlich auch nicht das Fundament einer Classification abgeben; aber die Dinge, die nicht Beweis sind, aber dafür gehalten werden könnten, sind einer Classification fähig, da sie sich auf eine positive Eigenschaft beziehen, welche sie besitzen, auf die nämlich, dass sie Beweis zu sein scheinen. Wir können sie nach Belieben nach dem einen von zwei Principien ordnen; nach der Ursache, welche sie als Beweis erscheinen lässt, oder nach der besonderen Art von Beweis, die sie simuliren. Die in dem folgenden Capitel versuchte Classification ist auf beide Betrachtungen zugleich gegründet.[316]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 2, Braunschweig 31868, S. 311-317.
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