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[164] Architektur der Erkennenden. – Es bedarf einmal, und wahrscheinlich bald einmal, der Einsicht, was vor allem unseren großen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen, langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt und wo ein feinerer Anstand selbst dem Priester das laute Beten untersagen würde: Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seite-Gehens ausdrücken. Die Zeit ist vorbei, wo die Kirche das Monopol des Nachdenkens besaß, wo die vita contemplativa immer zuerst vita religiosa sein mußte: und alles, was die Kirche gebaut hat, drückt diesen Gedanken aus. Ich wüßte nicht, wie wir uns mit ihren Bauwerken, selbst wenn sie ihrer kirchlichen Bestimmung entkleidet würden, genügen lassen könnten; diese Bauwerke reden eine viel zu pathetische und befangene Sprache als Häuser Gottes und Prunkstätten eines überweltlichen Verkehrs, als daß wir Gottlosen hier unsere Gedanken denken könnten. Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 164.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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