§ 21. B. Humes Moral- und Religionsphilosophie.

[116] 1. Moralphilosophie. »Der Mensch muß handeln, folgern und glauben, obgleich er trotz der sorgfältigsten Untersuchung sich über die Grundlagen dieser Tätigkeit nicht zu vergewissern, noch die gegen sie erhobenen Einwürfe zu widerlegen vermag«; und »die Moral und Ästhetik sind nicht Gegenstände des Verstandes, sondern des Geschmacks und Gefühls«. In diesen Sätzen spricht Hume selbst seinen moralischen Betrachtungen von vornherein die erkenntniskritische Grundlage ab. Das Kriterium des Verstandes, wie es Clarke oder Wollaston (§ 18) angewandt wissen wollten, wird abgelehnt, die Moral rein auf die empirische Grundlage der Psychologie gestellt. »Moralische und natürliche Schönheit werden mehr gefühlt als begriffen.«[116]

Es gibt nichts an sich Wertvolles oder Verächtliches; alles hängt vielmehr von dem Organismus der menschlichen Gefühle und Leidenschaften ab. Als die Hauptaufgabe der Moralphilosophie betrachtet Hume, ähnlich wie Spinoza, eine Physik der Gefühle. Diese sind teils ruhiger teils heftiger Natur. Dem Übergewicht, der ruhigen Gefühle, die mit den schwachen nicht einerlei sind, entspricht das, was wir Seelenstärke nennen. Der große Zweck aller menschlichen Tätigkeit ist das Glück. In dem Erstreben desselben lassen wir uns am besten von der Natur leiten, die uns weise organisiert hat. Den Maßstab der sittlichen Billigung oder Mißbilligung bildet das Gefühl der Lust oder Unlust, welches die zu beurteilende Eigenschaft oder Handlung in uns erregt. Dies Gefühl der Billigung empfinden wir aber auch dann, wenn dieselbe unser eigenes Wohl nichts angeht, ja unter Umständen sogar, wenn sie diesem entgegen ist. Neben den Gefühlen der Selbstliebe stehen die der Sympathie, die uns fremdes Leid und fremde Freude, wenn auch in abgeschwächter Form, mitempfinden lassen und uns überhaupt in die Lage der anderen versetzen. Das moralische Gefühl ist demnach von der Rücksicht auf den unmittelbaren oder mittelbaren Nutzen diktiert, den ich und die anderen von der betreffenden Handlung haben werden. Und zwar bestimmt, was uns nützlich ist, nur das Gefühl; die Vernunft lehrt bloß die zu jenem Zweck geeigneten Mittel finden, sowie die Folgen beobachten.

Die Tugenden oder lobenswerten Eigenschaften zerfallen demgemäß: 1. in solche, die für uns selbst angenehm sind (Frohsinn, Mut u. a.), 2. für andere angenehme (Bescheidenheit, Höflichkeit usw.), 3. für uns nützliche (Körper- und Willenskraft, Fleiß, Verstand), 4. für andere nützliche (Wohlwollen, Menschenliebe und Gerechtigkeit). Letztere, auch die sozialen Tugenden genannt, sind die höchsten und wichtigsten.

Mit der Lehre von der Gerechtigkeit, die übrigens keine schlechtweg natürliche, sondern eher eine »künstliche« Tugend zu nennen ist, da sie mit der Menschenliebe keineswegs zusammenfällt, hängt Humes staatsrechtliche und politische Theorie zusammen. Der Ursprung der Gerechtigkeit liegt in den Interessen der Gesellschaft begründet. Nicht zwar durch einen förmlichen ursprünglichen Vertrag, wie Hobbes und Locke meinen, wohl aber durch stillschweigende Übereinkunft (Konvention) ist das Recht entstanden, welches den Zweck hat, die Güter,[117] ohne welche die Gesellschaft nicht bestehen könnte, nämlich das Eigentum, den bestehenden Besitz und die Aufrechthaltung des gegebenen Versprechens, zu schützen. Durch die hinzutretende Regierung wird die Gesellschaft zum Staat. Als die beste Verfassung erscheint Hume diejenige, welche einen erblichen König, einen Adel ohne Vasallen und eine geordnete Volksvertretung besitzt. Geschichtsphilosophisch ist er von Montesquieu und noch stärker von Voltaire beeinflußt, zeigt jedoch seiner kühleren Natur nach mehr Tatsachensinn als diese. Auch er glaubt an die Entwicklung der Menschheit zur Freiheit. Er sucht insbesondere aus den seelischen Kräften der Menschennatur die gleichbleibenden Formen staatlich-sozialen Lebens abzuleiten. In seinen politischen und nationalökonomischen Ansichten war er der Vorläufer seines Freundes Adam Smith (§ 22).

2. Kritik der Religion. In Sachen der Religion ist Hume vorurteilsloser als Locke und namentlich als Berkeley. Zwar dünkt ihm das Dasein einer Gottheit aus dem Kunstwerk der Natur erwiesen, aber er vermischt religiöse Betrachtungen nicht mit den moralischen und tadelt sogar ausdrücklich die Berufung auf »gefährliche Folgen für Religion und Moral« in theoretischen Dingen. An drei Stellen hauptsächlich hat er seine Religionsphilosophie entwickelt: 1. Im 10. und 11. Abschnitt der Enquiry: Über die Wunder und Über eine besondere Vorsehung und ein künftiges Leben; 2. in seiner Naturgeschichte der Religion; 3. in den Dialogen über natürliche Religion.

Die sogenannten »Wunder« stellen eine Verletzung der Naturgesetze dar (vgl. S. 114); diesen aber – hier äußert sich Hume gar nicht skeptisch – liegt eine »feste und unveränderliche« Erscheinung zugrunde. Schon die Wahrscheinlichkeit (im wissenschaftlichen Sinne des Wortes) muß stets nach der Seite des weniger Unwahrscheinlichen den Ausschlag geben. Ja, die »allgemeine Erfahrung« liefert einen vollen Beweis gegen die Wunder, ganz abgesehen davon, daß zunächst einmal die Berichte und Zeugnisse über angebliche Wunder zu prüfen sind, welchen letzteren die Leidenschaft der Menschen für überraschende und erstaunliche Ereignisse entgegenkommt. Mindestens kann kein Wunder so sicher bewiesen werden, daß es zur Grundlage eines Religionssystems tauglich ist. »Unsere allerheiligste Religion stützt sich auf den Glauben und nicht auf – Vernunft, und es heißt sicherlich sie gefährden, wenn man sie auf eine Probe stellt, die sie in[118] keinem Falle bestehen kann!« Das nämliche, wie von den Wundern, gilt von den Prophezeiungen.

In dem folgenden Abschnitt über »eine besondere Vorsehung und ein künftiges Leben« legt Hume die Verteidigung der beide Dogmen leugnenden Lehre Epikurs einem zu »skeptischen Paradoxen« geneigten »Freunde« in den Mund. Das Urteil über wahres Glück, über Tugenden und Laster sei unabhängig von diesem Glauben, und der Beweis Gottes aus der Ordnung der Natur beweist nichts für andere Dinge. Aber läßt ein unvollendetes Bauwerk, wie die Welt und das irdische Leben des Menschen, nicht auf einen vollkommeneren Plan schließen? Wohl bei dem Menschen, den wir aus Erfahrung kennen, nicht aber bei der Gottheit, die wir nicht stillschweigend nach menschlichen Regeln beurteilen dürfen. Den tatsächlich sittigenden und zügelnden Einfluß der religiösen »Vorurteile« auf die menschlichen Leidenschaften gibt Hume zum Schluß selbst zu; wer das Volk von denselben befreien wolle, möge daher ein guter »Logiker« sein, sei aber kein »guter Bürger und Politiker«. Gleichwohl soll der Staat jede philosophische Lehre zulassen, denn die Lehren der Philosophen seien weder begeisternd noch für die Menge verlockend!

Von der systematischen Frage nach der vernunftmäßigen Begründung der Religion unterscheidet Hume mit Recht die historische nach ihrem geschichtlichen Ursprung, die er in seiner Naturgeschichte der Religion (1755) zu beantworten sucht. Er versucht namentlich zu zeigen, wie Religionen nicht »gemacht« werden, sondern mit Naturnotwendigkeit aus dem menschlichen Geiste entstehen. Hier wird zum erstenmal eine bloß aus psychologisch – kulturhistorischen Prinzipien entwickelte Naturgeschichte der religiösen Vorstellungen, vom primitivsten Glauben der Urvölker über den Polytheismus hinweg bis zu dessen allmählicher Umwandlung in den Monotheismus, gegeben: für den damaligen Stand des Wissens eine bedeutende Leistung.

Der philosophisch wichtigeren Frage nach der »Wahrheit« bezw. Begründung der Religion sind die nachgelassenen Dialoge über natürliche Religion gewidmet. Von den drei Personen, die in ihnen das Wort führen, ist Demea der Vertreter der Orthodoxie, Philo Skeptiker und Naturalist, Kleanthes rationalistischer Deist. Humes eigener Standpunkt ist nicht mit voller Deutlichkeit zu ersehen. Er schenkt zwar zum Schlüsse seine Zustimmung am[119] meisten dem Kleanthes, aber er hat offenbar auch seine Freude an den skeptischen Einwänden Philos gegen die Außerweltlichkeit Gottes, die Vollkommenheit der Welt und den Schluß von den Teilen auf das Ganze. Auch Philo verwirft übrigens die »natürliche« Religion nicht schlechtweg, sondern hält sie nur nicht für wissenschaftlich begründbar. Der Streit zwischen Theisten und Atheisten, Skeptikern und Dogmatikern sei für die vernünftige Betrachtungsweise des Praktikers in der Regel ein bloßer Wortstreit. Jedenfalls hat Hume die positiven Volksreligionen, die er einmal den »Träumen eines Fieberkranken« vergleicht, ziemlich gering geschätzt, obgleich er die persönlichen Folgerungen daraus nicht zog, sondern aus Opportunismus die Kirche besuchte. Doch trat er für unbedingte Duldung, auch Skeptikern und Atheisten gegenüber, ein. Die natürliche Rechtschaffenheit scheint ihm stärker und beständiger zu wirken als alle religiösen Beweggründe.

Auch die nachgelassenen kleinen Abhandlungen Über den Selbstmord und Die Unsterblichkeit der Seele sind in durchaus freiem bezw. skeptischem Geiste gehalten. Konnte doch auch für eine Fortdauer der Einzelseele nach dem Tode der Mann kaum eintreten, der in seiner Erkenntnislehre die Seele als ein bloßes Bündel von Vorstellungen bezeichnet und bereits als 27 jähriger in seinem Treatise jede Art des Substanzbegriffs entschieden bekämpft hatte.

Hume bildet den Gipfel der englischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, die Vollendung von Baco, Locke und Berkeley. Er ist der letzte große Philosoph Englands gewesen, falls man nicht den Entwicklungsphilosophen des 19. Jahrhunderts (Spencer) als solchen ansehen will.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 116-120.
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