§ 42. Das ästhetische Problem.

[247] Wir haben es im folgenden nicht mit den ästhetischen Anschauungen des vorkritischen Kant (§ 31, 2), sondern mit der kritischen Ästhetik und auch hier nur mit den systematischen Grundbegriffen zu tun.

1. Die neue Gesetzmäßigkeit. Älter als die Wissenschaft, ebenso alt als die Sittlichkeit ist die Kunst. So erwächst der transzendentalen Methode neben dem theoretischen und praktischen ein neues, selbständiges a priori: das ästhetische. Das ästhetische Problem ist mithin nur eine weitere, die dritte Sonderanwendung der allgemeinen Frage, die das Thema von Kants Philosophie bildet: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Das ästhetische Verhalten ist in der ihm eigentümlichen Gesetzmäßigkeit zu erfassen, die von der des Erkennens wie von der des Wollens grundsätzlich geschieden ist. Der Titel, den Kant anfangs seinem dritten Hauptwerk geben wollte: Kritik des Geschmacks, würde in der Tat das spezifisch ästhetische Gebiet schärfer abgesondert haben. Erfand indessen, daß die ästhetische Zweckmäßigkeit gemeinsam mit der Natur-Teleologie unter den Begriff der »reflektierenden« Urteilskraft und der »formalen« Zweckmäßigkeit (s. § 37, 2) falle, und faßte daher beide in seiner Kritik der Urteilskraft zusammen. Uns, die wir an Kants Disposition nicht gebunden sind und aus guten Gründen die Natur-Teleologie schon an früherer Stelle behandelt haben, bleibt daher nur noch die ästhetische Gesetzmäßigkeit zu kennzeichnen übrig.[247]

Die transzendentale Methode bleibt für das Gebiet des Ästhetischen die nämliche wie auf dem theoretischen und praktischen, weshalb denn das Einteilungsschema der beiden ersten Kritiken von Kant auch, soweit es angeht, auf die dritte übertragen wird. Auch das ästhetische a priori ist nicht durch »Herumfragen oder Stimmensammeln« ausfindig zu machen; auch hier wird die psychologische oder gar physiologische Zergliederung zwar als höchst wichtig und nützlich anerkannt, aber, soweit sie als Begründung auftreten will, von der Schwelle abgewiesen. In seiner besonderen Eigenart und Gesetzmäßigkeit vielmehr ist es zu erfassen und zu charakterisieren.

2. Das ästhetische Prinzip ist das Gefühl. Das ästhetische oder Geschmacksurteil will weder Erkenntnisurteil noch Willensmotiv sein; es will den Gegenstand weder begrifflich festsetzen, wie das theoretische Erkennen, noch ihn hervorbringen, wie der Wille. Es ist daher »kein objektives Prinzip des Geschmacks möglich«. Derselbe beruht vielmehr lediglich auf subjektiven Gründen. Welches ist nun diejenige Bewußtseinsrichtung oder, wie Kant entsprechend dem damaligen Sprachgebrauch sagt, das »Vermögen«, das weder Erkennen noch Wollen ist? Es ist das Gefühl (der Lust und Unlust, setzt Kant in der Regel hinzu), das in derselben Weise das Mittelglied zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen bildet, wie die Urteilskraft zwischen Verstand und Vernunft. Aber das ästhetische Gefühl ist nicht mit dem Lust- oder Unlustgefühl schlechtweg einerlei; es ist sowohl von dem Gefühl des Genusses (am Angenehmen) wie von dem moralischen Gefühl (für das Gute) grundsätzlich unterschieden. Die Ästhetik hat es nur mit der »Lust im Geschmacke«, mit einem »Wohlgefallen« zu tun, das ohne alles Interesse und ohne Begriffe und dabei doch allgemein und unmittelbar ist. Ohne Interesse an dem Dasein eines Gegenstandes und ohne verstandesmäßige, begriffliche Bestimmung desselben, erwächst das ästhetische Gefühl lediglich aus dem freien Spiel der Gemütskräfte: Einbildungskraft und Verstand beim Schönen, Einbildungskraft und Vernunft beim Erhabenen. Und zwar ordnet der Geschmack als »subjektive« Urteilskraft nicht, wie die logische Urteilskraft, einzelne Anschauungen einzelnen Begriffen unter, sondern das gesamte Vermögen der Anschauungen (die Einbildungskraft) dem gesamten Vermögen der Begriffe (dem Verstand). Während die Urteilskraft in der theoretischen wie in der praktischen Erzeugung des Gegenstandes als[248] »bestimmend« sich erwies, wendet sie sich im ästhetischen Gefühle auf sich selbst zurück und ist so im buchstäblichen Sinne des Wortes eine »reflektierende«. Indem die Freiheit der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes in Übereinstimmung gebracht werden soll, ergibt sich ein innerliches Verhältnis, eine »proportionierte Stimmung« beider Gemütskräfte, die als »freies Spiel« (nicht Arbeit oder Geschäft, dagegen wohl »Beschäftigung«) charakterisiert werden kann und die wechselseitige Belebung beider im Gefolge hat. Ja, die Lust ist schließlich gar nicht das eigentlich Bestimmende und Grundlegende des ästhetischen Gefühls. Vielmehr wird in § 9, der die Frage untersucht, ob im Geschmacksurteil das Lustgefühl der Beurteilung des Gegenstandes vorhergehe oder ihm nachfolge, nicht bloß die Antwort im letzteren Sinne entschieden, sondern auch die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes als das Kennzeichen der ästhetischen Urteile bezeichnet.

Denn jener das ästhetische Verhalten bezeichnende Gemütszustand, das gleichschwebende freie Spiel der Vorstellungskräfte, soll keineswegs dem Schwanken subjektiven Fühlens überlassen, sondern unter Regeln gebracht werden; sonst kann keine Ästhetik entstehen. Das Geschmacksurteil beansprucht Allgemeingültigkeit, wenn auch nur »subjektive«, es »sinnt jedermann Einstimmung an«, »mutet« anderen dasselbe Wohlgefallen »zu«. Der ästhetische hat nichts mit dem Sinnengeschmack gemein. Er kann vielmehr definiert werden als »das Vermögen, die Mitteilbarkeit der Gefühle, welche mit gegebener Vorstellung (ohne Vermittlung eines Begriffs) verbunden sind, a priori zu beurteilen«. Es gibt einen ästhetischen »Gemeinsinn«, der besagt, daß jedermann mit unserem Urteil übereinstimmen solle (nicht werde), daher »exemplarische« Gültigkeit besitzt: kein konstitutives Prinzip, sondern eine »idealische« Norm von regulativem Charakter. Ehe wir diesen Ideen-Charakter des Ästhetischen weiter verfolgen, wollen wir einen anderen ästhetischen Grundbegriff einschalten.

3. Die ästhetische Zweckmäßigkeit. Das Gemeinsame, welches die beiden Seiten der Urteilskraft – die »ästhetische« und die »teleologische« – miteinander verbindet, ist der durch die »Reflexion« erzeugte Gedanke der Zweckmäßigkeit. Aber während die Naturteleologie »allenfalls dem theoretischen Teile der Philosophie hätte angehängt werden können« (Vorrede S. IX,[249] ein Wink, dem unsere Darstellung gefolgt ist), macht die ästhetische Urteilskraft »eine besondere Abteilung« nötig. Im Gegensatz zu jener ist sie 1) in höherem Grade »subjektiv«, denn sie entspringt lediglich dem Verhältnis (Spiele) der Vorstellungskräfte des Subjekts, 2) in höherem Grade formal, denn es handelt sich bei ihr nicht um einen materialen Zweck irgendwelcher Art, sondern nur um das »Formale in der Vorstellung«, um die »bloße Form der subjektiven Zweckmäßigkeit«, d.h. um »die Zweckmäßigkeit der Vorstellungen im Gemüte des Anschauenden,... eine gegebene Form in die Einbildungskraft aufzufassen«, wie sie in dem freien Spiel der Erkenntniskräfte gegeben ist. So kann die ästhetische Zweckmäßigkeit 3) als eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« bezeichnet werden; denn ein bestimmter Zweck, der ihr anhinge, würde sie in das Gebiet des Nützlichen oder allenfalls des Vollkommenen führen: Begriffe, die der Naturteleologie oder – der Ethik angehören. Wie die Idealität von Raum und Zeit die Voraussetzung unserer Erkenntnis der Sinnendinge, so ist der »Idealismus der Zweckmäßigkeit« die Voraussetzung ästhetischer Urteile und der Autonomie des Geschmacks, während der »Realismus« der Zweckmäßigkeit ins Gebiet der Heteronomie, der bestimmten und bedingten Naturzwecke führt. Nicht durch objektive Begriffe und ebensowenig durch bloße Empfindungen bezieht sich das ästhetische Gefühl auf die Natur; sondern in der reinen »Beurteilung (Reflexion)«, die das ästhetische Verhalten kennzeichnet, wird die Natur gleichsam umgeschaffen zu einer neuen, ästhetischen Natur, mit anderen Worten die Natur erweitert zur Kunst; die Philosophie der Kunst ist formaler Idealismus. Das führt uns zurück zur

4. Ästhetischen Idee. Schon die »unbestimmte Norm« des Gemeinsinns (S. 249) wurde als Idee bezeichnet, genauer als eine »Vernunftforderung, eine Einhelligkeit der (ästhetischen) Sinnesart hervorzubringen«. Aber die ästhetische Idee ist zu unterscheiden von den Ideen der theoretischen Vernunft. Sind letztere »indemonstrabele«, d. i. in keiner Anschauung darstellbare Begriffe der Vernunft, so ist erstere eine »inexponibele«, d. i. auf keine Begriffe zu bringende Anschauung der Einbildungskraft, die dennoch eine »unnennbare Gedankenfülle« in sich birgt. Die ästhetische Idee ist eine Darstellung des Unendlichen, der kein Begriff gleichkommt, die daher auch von keiner Sprache erreicht und verständlich gemacht werden kann. Sie ruht auf dem Grunde des Übersinnlichen,[250] jenes »intelligibelen Substrats«, in dem alle unsere Vermögen a priori sich vereinigen, um die Vernunft »mit sich selbst einstimmig zu machen« und so den letzten Zweck, den unsere intelligibele Natur uns aufgibt, zu erfüllen. Diese unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns ist der Schlüssel und das Prinzip des Geschmacks; über diesen Punkt hinaus kann das ästhetische Prinzip nicht begreiflich gemacht werden. Gleich den theoretischen Ideen und der ethischen verstrickt sich auch die ästhetische in eine Antinomie; auch hier folgt die Lösung aus ihrem Charakter als Idee, das bedeutet in diesem Falle als Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit. Und wer bringt diese ästhetischen Ideen hervor? Antwort:

5. Das Genie, als »das Vermögen ästhetischer Ideen«. Es ist »die angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt«. Schöne Kunst oder Kunst des Genies ist die Kunst, »sofern sie zugleich Natur zu sein scheint«. Das Genie ist daher 1) original, eine Gabe der Natur an ihre Günstlinge; es läßt sich nicht nachahmen. Versuche dazu arten in Nachäfferei und Manieriertheit aus. Es ist 2) nicht wissenschaftlich. Es gibt weder eine Wissenschaft vom Schönen noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne Kunst. »Geniale« Philosophen sind lächerlich, desgleichen der Gedanke einer genialen Wissenschaft; selbst das System eines Newton ist erlernbar. Das künstlerische Genie dagegen muß man von Natur besitzen; in der Wissenschaft gibt es nur »große Köpfe« [hier geht Kant in seinem Eifer reinlicher Scheidung von Wissenschaft und Kunst wohl zu weit, es gibt auch wissenschaftliche Entdeckergenies]. 3) Die Produkte des Genies sind exemplarisch, auch wenn ihr Urheber nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen zusammenfanden; nur von ihnen, den »Taten« des Genies, kann die Kunst ihre Regeln abstrahieren. Übrigens kann das Genie den Geschmack als »Zuchtmeister« nicht entbehren, der Klarheit und Ordnung in seine Gedankenfülle bringt, seine Ideen haltbar macht. Wenn das Genie das Vermögen ist, in Sprache, Malerei oder Plastik das Unnennbare auszudrücken, so ist der »Geist«, das »belebende Prinzip im Gemüte«, sein ausführendes Werkzeug und zugleich seine seelische Vorbedingung. Freilich gibt das Genie nur die Fülle des Stoffes und den geistigen Inhalt; das Technisch-Formale erfordert »Schule«. Originalität ist nicht Regellosigkeit.

Nachdem wir so die neue, ästhetische Gesetzlichkeit[251] in ihren wichtigsten Grundbegriffen gekennzeichnet haben, seien im folgenden ihre wichtigsten Anwendungen angedeutet.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 247-252.
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