Vorwort zur zweiten Auflage.

[5] Der Umstand, daß bereits vor zwei Jahren eine starke Auflage dieses Werkes vergriffen war, während es außerdem in englischer und russischer Uebersetzung verbreitet ist, gestattet mir anzunehmen, daß die neue Behandlung, der ich den Gegenstand unterzog, eine bestehende Lücke ausgefüllt und die synoptisch-kritische Methode, die ich einführte, ihre Probe im Prinzip bestanden hat. Durfte ich danach das Buch für die neue Auflage in seinen Grundzügen unverändert lassen, so konnte ich umsomehr Sorgfalt auf die selbstverständlichen Verbesserungen und auf die Erfüllung besonderer Wünsche verwenden.

In erster Linie sind also unter Benutzung der inzwischen erschienenen Literatur an einzelnen Punkten Berichtigungen, Kürzungen und Erweiterungen vorgenommen worden, wie sie für ein Lehrbuch, das auf der Höhe der Forschung bleiben will, erforderlich sind. Dabei habe ich aber auch formell dafür zu sorgen gesucht, der Darstellung, welche infolge der starken Zusammendrängung des Stoffs zum Teil schwierig geworden war, eine leichtere und flüssigere Gestalt zu geben, indem ich sie deutlicher gliederte, längere Sätze auflöste, und gelegentlich Nebensächliches über Bord warf.

Sodann war aus dem Leserkreise eine breitere Berücksichtigung der Persönlichkeiten und persönlichen Verhältnisse der Philosophen in Anregung gebracht worden. Wie berechtigt dieses Bedürfnis an sich auch mir erscheint, hatte ich im Vorwort der ersten Auflage selbst ausgesprochen, auf seine Befriedigung aber im Hinblick auf den besonderen Plan und die notwendig beschränkte Ausdehnung meines Lehrbuchs verzichtet. Jetzt habe ich wenigstens durch knappe und präzise Charakteristiken der bedeutendsten Denker auch diesen Wunsch so weit zu erfüllen gesucht, als es im Rahmen des Werkes möglich erschien.

In ähnlicher Weise ist dem mir nahegelegten Verlangen nach einer ausführlichen Behandlung der Philosophie des 19. Jahrhunderts Rechnung[5] getragen: aus wenigen Seiten sind zwei volle Bogen geworden, und ich hoffe, daß man darin, wenn auch der eine dies, der andere jenes Besondere vermissen wird, doch ein geschlossenes Gesamtbild von den Bewegungen der Philosophie bis zur unmittelbarsten Gegenwart in dem Sinne gewinnen kann, wie es von einer Geschichte der Prinzipien zu erwarten ist.

Endlich habe ich das Sachregister vollständig neu bearbeitet und ihm eine Ausdehnung gegeben, vermöge deren es in Verbindung mit dem Texte, wie ich hoffe, den Wert eines philosophiegeschichtlichen Lexikons gewonnen hat. Damit ist meinem Werke neben seiner doxographischen Eigenart ein zweites Unterscheidungsmerkmal aufgeprägt, dasjenige eines systematisch-kritischen Nachschlagebuches.

Durch alle diese Erweiterungen ist der Umfang des Buches beträchtlich angewachsen, und ich spreche auch an dieser Stelle meinem verehrten Verleger, Herrn Dr. Siebeck, meinen verbindlichsten Dank für das bereitwillige Entgegenkommen aus, mit dem er diese wesentlichen Verbesserungen ermöglicht hat.


Straßburg, September 1900.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. V5-VI6.
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